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Titel1514

Bemerkungen

Zum Abgewöhnen
Die »Generaldebatte« des Bundestages – die Volksvertretung nutzt ihr traditionell höchst gewichtiges Recht, nämlich über den Staatshaushalt zu entscheiden, um über die Regierungspolitik zu streiten, über gesellschaftliche Weichenstellungen zu befinden; und die oppositionellen Fraktionen stellen ihre Alternativen heraus. So jedenfalls steht es in den Lehrbüchern. Die Realität, diesmal besonders deutlich: Nur mühsam entdeckten die Medien etwas Berichtenswertes, und da handelte es sich um den sozialdemokratischen Vorwurf an die Linkspartei, sie dulde scharfe Redewendungen eines ihrer Landtagsabgeordneten. Ansonsten herrschte Langeweile, wie das bei Pflichtübungen eben so ist. Für eine humorige Einlage sorgte der Bundestagspräsident: Daß die NSA auch ihn ausschnüffele, ertrage er, anders als der Abgeordnete Gysi, »mit Fassung«. Als Hinweis auf den Gemütszustand von Parlamentariern läßt sich das verallgemeinern. Gefaßt nehmen die Abgeordneten der übermächtigen Großen Koalition es hin, daß sie eigentlich für den regierenden Geschäftsbetrieb nur als Akklamateure gebraucht werden; gefaßt schicken sich die Mandatsträger der beiden Oppositionsparteien in ihr Schicksal – als »nicht politikfähig« gelten sie derzeit, weil sie ja (noch) nicht mitregieren. Und weil beide Parteien aus dieser Randständigkeit demnächst erlöst werden wollen, riskieren sie nur wenig. Die Grünen wollen sich nicht das Wohlwollen der CDU/CSU verscherzen, die Linkspartei möchte für sich den Weg zum Bündnis mit der SPD offenhalten.
Nun geht der Bundestag in die Ferien. Dem Publikum wird das gar nicht auffallen.

A. K.


Die Alterswohlstandslüge
Den Deutschen geht es gut, auch den Alten in diesem Land – so stellen es in stetiger Wiederholung die politischen Amtsträger dar, allen voran der Bundespräsident und die Kanzlerin. Für die Rentnerinnen und Rentner seien jetzt die letzten »Gerechtigkeitslücken« geschlossen worden. Demgegenüber die jüngsten statistischen Daten: Die Zahl der Alten, die nur Armutsrenten beziehen und deshalb auf den Zuschuß der »Grundsicherung« angewiesen sind, hat sich zwischen 2003 und 2012 mehr als verdoppelt, von 439.000 auf über 900.000. Nahezu die Hälfte aller Alters- und Erwerbsminderungsrenten in der Bundesrepublik liegt bei weniger als 706 Euro im Monat. Immer mehr Rentner und Rentnerinnen brauchen, um der Armut zu entgehen, einen Minijob, bis ins hohe Alter. Diese Trends werden sich verstärkt fortsetzen, weil »prekäre« Beschäftigungsformen weiter expandieren und das Rentenniveau senken. Daß Alterswohlstand in der glücklichen Bundesrepublik die Regel sei, ist eine politische Lüge.
P. S.


Immobil?
Der sozialdemokratische Justizminister des Nordrhein-Westfalens hat eine strafrechtsschöpferische Idee: Steuerbetrügern soll künftig der Führerschein entzogen werden. Das würde in der Tat den kleinen Mann, der in seiner Steuererklärung ein bißchen herumgepfuscht hat und vom Finanzamt ertappt wurde, hart treffen. Wie soll er nun zu seinem schlechtbezahlten Job sich hinbewegen? Besser hat es da der Megasteuersünder, dem in der Regel auch bei Entdeckung ein ansehnliches Sümmchen überbleibt. Taxis gibt es genug, ebenso Bewerber um eine Stelle als Chauffeur. Man sieht: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, nicht aber vor den nachjuristischen Folgen eines Gesetzesbruchs. Der erwähnte Minister kann das nicht wissen, er ist Sozialdemokrat. Als solcher hat er gelernt: Die Klassengesellschaft ist Vergangenheit.
M. W.


Lobbyismus-Kritik vor Gericht
(2)
Klaus Zimmermann, Geschäftsführer des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), lehnt den Vergleichsvorschlag des Hamburger Landgerichts ab. Das Institut hatte gegen Werner Rügemer eine einstweilige Verfügung erwirkt, wonach vier Passagen in dem Artikel »Der unterwanderte Staat« (erschienen in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/13 und Neue Rheinische Zeitung) verboten sind (vgl. Ossietzky 12/14). Es geht vor allem um die Frage, ob das von der Deutschen Post-Stiftung in großen Teilen finanzierte IZA unabhängig ist, freie Wissenschaft betreibt.

Das Gericht hatte in der Verhandlung am 9. Mai kein Urteil gefällt, sondern einen Vergleich vorgeschlagen: Von drei Passagen sollte eine ergänzt werden, im übrigen hielt das Gericht sie für zulässig, weil sie der Meinungsfreiheit unterliegen, eine Passage sollte weiter verboten bleiben. Die Kosten des Verfahrens soll zu zwei Dritteln das IZA tragen, Rügemer und die Neue Rheinische Zeitung zu einem Drittel (etwa 3500 €).

Rügemer hat dem Vergleich zugestimmt, Zimmermann ihn abgelehnt. »Mein Anwalt und ich sehen der weiteren Auseinandersetzung mit einer gewissen Freude entgegen, da wir durch das Verfahren eine Vielzahl von Hinweisen erhalten haben, die mich in der Bewertung des IZA bestärken«, äußerte sich dennoch Mitte Juni Werner Rügemer optimistisch und rief zur Unterstützung der von ihm mitbegründeten »aktion gegen arbeitsunrecht« auf, die aus Anlaß des Verfahrens das Solidaritätskonto »Meinungsfreiheit in der Arbeitswelt« eingerichtet hat. »Es werden zunehmend nicht nur Autoren mit Meinungsverboten überzogen, sondern auch Beschäftigte und Betriebsräte«, so Rügemer.
K.K.

aktion./.arbeitsunrecht e.V., IBAN: DE13 8306 5408 0004 8161 53, BIC: GENODEF1SLR, Stichwort: »IZA/Rügemer«



LabourStart
Die gewerkschaftliche Organisationstätigkeit leidet an nationaler Borniertheit, internationale Solidarität steht oft nur auf dem Papier, Informationen über gewerkschaftliche Aktionen und betriebliche Konflikte in anderen Ländern werden zu wenig vermittelt. Diesen Mängeln wirkt »LabourStart« entgegen, ein internetbasiertes Netzwerk für die Internationalisierung gewerkschaftlichen Denkens und Handelns, getragen von »Ehrenamtlichen« aus aller Herren Länder. Ein Basisprojekt, das unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien bleiben will, aber nicht organisationsfeindlich agiert. Eine Konferenz von »LabourStart«-Aktivisten aus vielen Ländern der Welt jüngst in Berlin fand durchaus »offizielle« Unterstützung von der Gewerkschaft ver.di. Wer Informationen sucht über gewerkschaftliche Kämpfe und Kampagnen global: www.labourstart.org.
P. S.


Goldgrube Internet-Unsicherheit

Seit dem Frühjahr offeriert Keith Alexander Großbanken und ähnlich finanzkräftigen Interessenten seine Dienste. Für bis zu einer Million Dollar pro Monat berät er sie auf dem Feld der Internet-Sicherheit, wie Bloomberg berichtet. Der Mann kennt sich aus. Bis März 2014 war Alexander an höchster Stelle für digitale Verteidigungs- und Angriffsmaßnahmen zuständig und mitverantwortlich für die gezielte Schaffung, Vertuschung und Ausnutzung von Schwachstellen im Internet. Als (zuletzt) Vier-Sterne-General leitete er vier Jahre lang das US Cyber Command und fast neun Jahre lang die NSA, also jene US-Behörde, die heimlich für die Schwächung von gebräuchlichem Verschlüsselungscode und für den Einbau von Hintertüren in wichtige Infrastrukturelemente des Internets sorgte und wohl auch weiterhin sorgt. Die amtlich mitverursachte Internet-Unsicherheit erzeugt Beratungsbedarf und läßt sich, wie zu sehen, als privates Geschäftsfeld mit Goldgrubenpotential nutzen.
I. D.


Gehorchsam
Der US-Botschafter in Deutschland, John B. Emerson, wird in der Leipziger Volkszeitung zu den »Abhöraktionen der NSA in Deutschland« so zitiert: »Das sind gute Menschen, und ihr Job ist es, Menschen zu beschützen.«

Wenn im Handel ein Kaufmann auf eine leere Schachtel »Kaffee« druckt und sie als Kaffee verkauft, gilt er als unseriös. In der Politik ist das anders. Da gilt derjenige als Experte, den seine Freunde so nennen, auch wenn er die für seinen Posten erforderlichen Kenntnisse gar nicht haben kann. So werden Buchhändler zu Parlamentspräsidenten und Taxifahrer zu Außenministern. Da wird also die leere Schachtel als Kaffee verkauft, wenn »Kaffee« draufsteht. Die Bezeichnung wird für den Inhalt ausgegeben.

Demokratie, behaupten diese Leute, ist alles, was sie so nennen. Und für Anstand und alles sonst noch Denkbare gilt das selbstverständlich auch. Dies ist es, was das Regiertwerden zu einer schweren Bürde macht.
Günter Krone


Nie wieder
Wer für den Krieg ist
als Fortsetzung der Politik
mit anderen Mitteln,
und sei es als »letztes Mittel«,
sollte dorthin gehen,
wo nach dem Lügenbeginn
die Schüsse fallen,
die Bomben, Granaten
einschlagen, Menschen schreien,
wo keine Heimat mehr ist,
nie wieder.
Wer für den Krieg ist,
sollte dorthin gehen,
wo immer noch Krieg ist
als »letztes Mittel«.
Wolfgang Bittner


Waffenexport
Der Bundespräsident, die Bundesverteidigungsministerin und andere bedeutende Persönlichkeiten fordern, um der Größe Deutschlands willen die Bundeswehr weltweit einzusetzen. Vielleicht läßt es sich dabei einrichten, daß deutsche Soldaten nicht in Gegenden geschickt werden, wo die Gegner mit deutschen Waffen schießen.
Günter Krone


Der Forscher an der Front
Die Geschichte des Ersten Weltkriegs ist nicht arm an tragischen Verwicklungen. In allen kriegführenden Nationen war der propagandistisch genährte Glaube weit verbreitet, die eigene militärische Gewalt diene der »Verteidigung«. Dieser Glaube aber vermengte sich untrennbar mit handfesten geo-
politischen Interessen und kriegerischer Expansionspolitik. Eine Lebenstragik besonderer Art ist mit dem Namen des deutschen Chemikers Fritz Haber (1868–1934) verbunden, der 1893 vom jüdischen Glauben zum Protestantismus konvertiert war. Sein Name steht ebenso für den Giftgaskrieg wie für Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft, Versuche der Goldgewinnung aus dem Meer und die Entwicklung von Zyklon B durch Habers Mitarbeiter.

Haber war Patriot des deutschen Kaiserreichs und wandelte sich mit Kriegsbeginn zum Nationalisten, wovon seine Mitunterzeichnung des kulturkriegerischen »Manifests der 93« Zeugnis gibt. Als hochgeachteter Chemieprofessor und späterer Nobelpreisträger wurde er durch seine Versuche mit Phosgen und Chlorgas, für deren Einsatz in Druckflaschen er seit Ende 1914 warb, zum Vater des Giftgaskrieges. In der zweiten Flandernschlacht bei Ypern nahm Haber am 22. April 1915 bei der ersten Abblasung von 150 Tonnen Chlorgas persönlich teil. Für seine militärischen Verdienste als Leiter der »Spezialtruppe für Gaskampf« wurde ihm schnell der Dienstgrad des Hauptmanns, obzwar ohne militärische Vorkenntnisse, zuerkannt.

Um kriegsvölkerrechtliche Regelungen der Haager Konvention, die einen Giftgaseinsatz ausschlossen, kümmerte Haber sich nicht. Es überwog der Forscherstolz, die richtige, weil kostengünstige und massenhaft produzierbare, »Lösung« gefunden zu haben. Gleich mit Kriegsbeginn setzten Habers chemische Versuche ein, gegen den ausdrücklichen Willen seiner Frau Clara, selbst eine der ersten promovierten Chemikerinnen.

Es wird geschätzt, daß während des Ersten Weltkriegs 90.000 Menschen direkt an den Folgen der Giftgaseinsätze unter unvorstellbar grauenhaften Bedingungen ums Leben kamen. Nicht eine Verkürzung des Krieges, wie Haber glaubte, war die Folge der ersten Gaseinsätze, sondern eine Hochrüstungsspirale mit der Entwicklung immer neuer Kampfstoffe, die am Ende sogar die in Serie produzierten Gasmasken unwirksam machten. Offenbar nur die militärische Einschätzung, daß der Gaskrieg insgesamt vergleichsweise »ineffizient«, weil schwer lenkbar gewesen sei, verhinderte den Einsatz chemischer Kampfmittel im Zweiten Weltkrieg.

Aus der Goldgewinnung aus dem Meer, der sich Haber sechs Jahre lang widmete, ist nichts geworden. Mit Hilfe dieser späten Variante des alten Alchimistentraums sollten die deutschen Kriegsreparationen beglichen werden. Es kam anders, auch im Falle des Zyklon B.

An späteren Ehrungen Fritz Habers hat es nicht gemangelt. In Berlin ist ein renommiertes Institut der Max-Planck-Gesellschaft nach ihm benannt, an der Jerusalemer Universität existiert das Fritz Haber Research Center for Molecular Dynamics. Die bis heute unreflektierte Erinnerung an den deutschen Forscher vermag sehr nachdenklich zu stimmen. Die Bremer Chemiker Dieter Wöhrle und Wolfram Thiemann haben 2011 eine Namensänderung des Berliner Instituts gefordert.
Carsten Schmitt


Stoßtrupp
Der Historiker Christopher Clark habe mit seinem Buch »Die Schlafwandler«, so die F.A.Z., »die Bestsellerlisten gestürmt wie weiland Ernst Jünger die feindlichen Schützengräben in Frankreich«. Ein interessanter Vergleich, allerdings ist er zu präzisieren: Die Kommandierenden in den deutschen Medien waren freudig bereit, sich dem geschichtsdeutenden Angriff von Clark zu ergeben. Sie empfanden ihn als Erlösung. Von dem Vorwurf, das Deutsche Reich sei bei dem Griff nach der Weltmacht allzu kriegerisch vorgegangen. Von solch einer historischen Belastung mag man nichts hören, wenn es wieder stahlgewittrig zugehen und deutsche Weltpolitik mit militärischen Mitteln betrieben werden soll.
A. K.


Ein Verdienst und seine Grenzen
Nicht nur in der Bundesrepublik wirft das Weltereignis, von dem uns 2014 ein Jahrhundert trennt, seine Bücher voraus. Das geschieht auch, wen wundert’s, in Österreich, dem Nachfolgestaat mehrerer Nachfolgestaaten der K.-u.-k.-Monarchie. Die besaß, als der Weg in den Krieg im Juli 1914 ein Eilmarsch wurde, an der Bestimmung dieses Tempos einen besonderen Anteil. Es sei, ließ sich auch jüngst wieder lesen, am »Pulverfaß Balkan« die Lunte entzündet worden, mit den bekannten unmittelbaren und ferneren Folgen. Das Bild führt in die Irre. Denn was sich zwischen Adria und den Karpaten, dem Schwarzen und dem Mittelmeer auch an Konfliktstoffen angehäuft hatte, nationale, ethnische, religiöse und politische, gab, verglichen mit den spannungsgeladenen imperialistischen Widersprüchen zwischen den europäischen Großmächten, also zwischen Deutschland, England, Rußland und Frankreich, nur ein Fäßchen. Das allein hätte nicht ausgereicht, in den Krieg zu führen.

Hans Magenschabs Buch gehört zu den außergewöhnlich sorgsam gestalteten, dem viele Leser zu wünschen sind. Der journalistisch erfahrene Autor hat ein Lesebuch geschrieben, in dem das Kriegsgeschehen aus vielen Perspektiven dargestellt wird. Das Großformat erlaubt die Kombination von Text und Fotos. Letztere wurden sorgfältig ausgewählt, knapp kommentiert und dürften auch den mit der Materie gut Vertrauten neue Eindrücke vermitteln. Dazu gibt es politisch-geographische Karten. Anregungen vermitteln zudem die längeren in den Text gestellten, von ihm abgehobenen Zitate aus der Feder berühmter Zeitgenossen so von Ivor Andric, Bertha von Suttner, Joseph Roth, Karl Kraus u. a.

Die in 17 Kapitel gegliederte Abhandlung Magenschabs setzt mit der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch die K.-u.-k.-Monarchie 1908 ein und endet mit den entscheidenden Schlachten in Frankreich 1918 und dem Untergang des Habsburger Reiches. Acht Kapitel sind der Vorkriegszeit gewidmet, die in anderen Publikationen entschieden zu kurz kommt und für manchen Geschichtsschreiber ein ungeliebtes Thema bildet. Doch hat sich der Autor bei dem Gegenstand etwas übernommen. Während er an einer Stelle Österreichs Interesse an einer kriegerischen Disziplinierung und Unterwerfung Serbiens schon vor 1914 feststellt, setzt er an anderer ohne ersichtlichen Grund Interessen in Anführungszeichen und davor, distanzierend, »sogenannte«. Schwierigkeiten macht ihm auch die Analyse der Kriegsschuld. So meint Magenschab, daß unter deutschen Historikern des 21. Jahrhunderts unbestritten zu sein scheine, daß »das deutsche Kaiserreich – aber ebenso Österreich-Ungarn – die Hauptschuld für den Ausbruch des Krieges tragen«. Das ist erstens nach der neuesten Diskussion fraglich, und zweitens bildet den Streitpunkt nicht so sehr die Auslösung, sondern ungleich mehr die Verursachung des Krieges. Drei Seiten weiter mag der Leser über den Satz staunen, gemünzt auf die beiden Mittelmächte: »Es ist letztlich eine Glaubensfrage, wo Schuld und Sühne zu orten sind.«

Auch in anderer Hinsicht ist der Blick über die Grenze getrübt. Daß man sich in Deutschland erst in den 1960er Jahren mit der Frage der Kriegsschuld auseinandergesetzt habe, ist nicht nur falsch, weil das nur für einen Teil des Landes zutrifft. Das Thema Kriegsschuld ist schon ein Vierteljahrhundert vor Kriegsbeginn mit Bezug auf einen herannahenden Weltkrieg von Deutschen erörtert worden, von Friedrich Engels, Helmuth Graf von Moltke, dem ehemaligen Generalstabschef der preußisch-deutschen Armee, und von August Bebel, um nur diese drei zu nennen. Auch an anderer Stelle geht es mitunter journalistisch-freihändig zu, so wenn 185 Angeklagte des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofes erwähnt werden. Deren Mehrheit wurde jedoch nicht mehr von Juristen der vier Mächte angeklagt und verurteilt, sondern von einem Gerichtshof der USA.

Am Schluß spricht sich der Autor in einem Epilog für ein dauerhaft friedliches Europa aus. Daß er es in seiner gegenwärtigen Verfassung einen Garten Eden nennt, mag seine Schulung als einstiger Sprecher des österreichischen Bundespräsidenten belegen, bezeugt aber sicher die Fähigkeit, an ein paar Millionen Bewohnern dieses Kontinents, darunter vielen in Gegenden, die die einst zur Monarchie gehörten, vorbeizudenken.
Kurt Pätzold

Hans Magenschab: »Der Große Krieg. Österreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918. Der Weg in den Untergang. Die Katastrophe im Osten. Der Krieg im Gebirge. Das Ende der Monarchie«, Tyrolia-Verlag, 255 Seiten, 39,95 €



Vom »deutschen Wesen«
Schade, daß es mit dem Buchpreis zur Leipziger Messe nicht geklappt hat, denn Per Leos Roman »Flut und Boden« ist etwas Besonderes. Als Familienroman angekündigt, weicht das Buch vom gängigen Muster chronologisch dargebotener Ahnenreihen ab. Hier erzählt ein Enkel, wie er allmählich hinter die Familiengeschichte kommt und diese sich und den Lesern erklärt. Seine Familie bestand vornehmlich aus Schiffsbauern, Technikern und Gymnasiallehrern. Nur einer – Großvater Friedrich – schert aus dem gutbürgerlichen Muster aus: Er wurde Sturmbannführer, mitverantwortlich für die von den Nazis praktizierte Rassenpolitik. Der Enkel studiert Geschichte, interessiert an konkreten Details und Fakten verfolgt er akribisch die Spuren der Seinen. So entdeckt er einen Bruder des Großvaters – aus gleichem Milieu und mit vollkommen gegensätzlicher Entwicklung. Die Schicksale und Ansichten beider bilden den Kern des Buches, und da werden nicht einfach Verläufe und Handlungen erzählt. Der Autor begibt sich in die Geistes- und Kulturgeschichte: Wie geriet der eine dahin, wo liegen die geistigen Wurzeln? Wie interpretierten und befolgten beispielsweise die einzelnen Ahnen die Gebote ihrer Religion? Wie und wo fanden sie nach 1945 ihren Platz? Leo dringt tief ein in Auffassungen vom »deutschen Wesen«, die so glatt und eindeutig nicht zu haben sind. Er schildert nicht den Verfall, sondern das Gemisch, aus dem deutsche Familien bestehen, und erzählt souverän Kompliziertes in einer zuweilen saloppen Sprache – ein erstaunliches Debüt!
Christel Berger

Per Leo: »Flut und Boden. Roman einer Familie«, Klett-Cotta, 352 S., 21,95 €



Einigkeit
Willst du eine Menge einen, so schenke ihr ein gemeinsames Feindbild. Das ist ungemein nützlicher, als ihr eine Vision zu schenken.
Andreas Stahl


Unter-irdisch
Der Untersberg, ärgerlich für Salzburgerinnen und Salzburger, ist auf der bayerischen Seite 1.972 Meter hoch, auf der Salzburger nur 1.853 Meter. Eine erste schriftliche Erwähnung findet sich in einer Urkunde vom 28. Juni 1306. Der Berg bietet seit Jahrhunderten feine Geschichten. So soll er der Sitz von Kaiser Karl dem Großen gewesen sein. In vielen Märchen spielt der Untersberg eine Rolle. Es geht die Sage, im Inneren sei er ganz ausgehöhlt und mit Palästen, Kirchen, Klöstern, Gärten, Gold- und Silberquellen versehen. Bis heute hat der Untersberg nicht an Interesse verloren, und so wird dort auch in Höhlen geforscht, und hier geschah am 9. Juni ein Unglück.

Der Höhlenforscher Johann Westhauser verletzte sich schwer, und es dauerte viele Nachrichtensendungen in Rundfunk und Fernsehen samt zahlloser Zeitungsschlagzeilen, bis er am 19. Juni um 11.44 Uhr, etwas mehr als 274 Stunden nach seinem Unfall in rund 1.000 Metern Tiefe, wieder Tageslicht sah. Ein Lob für den Einsatz vieler mutiger Menschen, die Westhauser gerettet haben.

Nicht gerettet wurden Tausende, die vor dem Tod aus Kriegsgebieten flüchteten. Nicht befreit wurden Millionen, die in Diktaturen leben. Auch die Milliarden Menschen, die in Armut leben, sie haben keine Chance, gerettet zu werden. Da gibt es keinen Einsatz. Aber da wird, wenn im Untersberg ein Mensch verletzt auf Rettung hofft und sie bekommt, über ihn berichtet. Waren es zunächst noch 200 Rettungskräfte, stieg die Zahl auf über 700 Personen – und mit ihnen Zeitungsauflage und Einschaltquoten. Zwölf Tage war die Rettungsaktion nicht nur den Salzburger Nachrichten mehr gedruckte Wörter wert, als alle anderen Probleme einer Gesellschaft, die im Dreck einer Ordnung erstickt, die jenem »Rette-sich-wer-kann« nicht einmal mehr Sicherheit in einer Höhle im Untersberg versprechen kann. Der klare Blick, die kritische Meinung wird – verpackt in Zeilengeldpapier – aus jener Welt geschafft, die ein Meinungsgefängnis wurde.

In Salzburg, und nicht nur da, ja da könnte man gut lustig sein, aber das geht nicht. Denn die Festspielzeit rückt näher. Und – wie jedes Jahr – plagt jene öffentliche Meinung samt gehobenem Bürgertum das »Bettlerproblem«. Überall stehen, liegen und knien sie, die – so zumindest die führende Meinung – aus Bulgarien und Rumänien herbeigekarrten »Bettlerbanden«. Die muß man loswerden, denn wie sieht das aus, wenn diese Stadt verschandelt wird durch das offensichtliche Elend. Durch die Armut, die es sich nicht nehmen läßt, die paar hundert Kilometer zu überwinden, die Roma und Sinti von der Festspielstadt trennen, in der man – ist man Gast – zwar gern einige hundert Euro für eine Festspielkarte zahlt, aber nichts in eine bettelnde Hand legen mag.

Dabei gab es in Salzburg eine »Bettlerplage«, die bei weitem größer war, als die, die man heute beklagt. Um 1800 war jeder elfte oder zwölfte Bewohner Salzburgs so arm, daß er sich sein Leben nicht selbst finanzieren konnte, sondern auf Wohltaten angewiesen war. Bettelverbote nützten nichts. Nach zeitgenössischen Quellen sollen etwa bis zu 700 Bettler wöchentlich an die Tore der Innenstadthäuser geklopft haben, als der Anteil der gänzlich Besitzlosen in der Stadt Salzburg fast 60 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. 1822 wurde ein Viertel der Stadtbevölkerung durch Armenstiftungen unterstützt. Ein Zustand, in den die Mächtigen uns bald auch alle wieder gebracht haben werden.

Wann endlich wird unser Dasein befreit werden, vom Dabeisein der medialen Weltverdreher? Heute im Jahre 2014, da hilft man zwar mit 700 Mann und gewaltiger Medienmacht einem Verunglückten aus der Höhle, aber sonst bleibt alles, wie es war!

Wie? Unter-irdisch!
Dieter Braeg


Zuschrift an die Lokalpresse
Endlich haben die Ernährungswissenschaftler des Institute of Technology in Cambridge ihre Existenzberechtigung nachgewiesen und eine grobe Wissenslücke geschlossen. Sie haben, vermutlich gefördert mit Mitteln öffentlichen Hand, den Kot unserer Vorfahren untersucht und eine Frage beantwortet, die die digitale Menschheit und mich seit Jahren brennend interessiert: Haben sich unsere Urururahnen nicht nur von Mammuts, Tauwürmern und Piranhas, sondern auch von Pflanzen ernährt? Nun weiß ich es: Ja, sie haben!

Jetzt wird sich mein Lebensverlauf wieder ausgeglichener abspulen, und ich werde mich nachts nicht länger in Alpträumen winden. Zwar verkehrt der Berliner Kurier vom 26. Juni die Absolutheit seiner Titel-Aussage »Steinzeithäufchen outet Neandertaler als Grünzeugfresser« gleich wieder ins Gegenteil, aber immerhin: Der Anteil pflanzlicher Nahrung sei zwar »höher, als bisher angenommen«, scheint aber »ein eher kleiner Prozentsatz zu sein«, glaubt, vermutet oder fühlt der Prähistoriker Ralf W. Schmitz.

Nun würde mich interessieren, welche wissenschaftlichen Koryphäen außer Herrn Schmitz ihre Nase noch in die Hinterlassenschaften unserer Altvorderen gesteckt haben. Und was ist in den nächsten Jahren noch an bahnbrechenden Erkenntnissen zu erwarten? Ist das Forschungsergebnis repräsentativ, da die Wissenschaftler die Beweisstücke lediglich in einer spanischen Höhle erschnüffelt und untersucht haben? Haben sich die Wissenschaftler bewußt auf einen südländischen Probandenkreis beschränkt? Ist diese Einengung unverständlichen finanziellen Zwängen geschuldet? Wie sieht es in Höhlen in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten aus? Haben unsere Vorfahren auch außerhalb von Höhlen gekotet, und wenn ja, wo, wie oft und warum? Was haben die Wissenschaftler in Regionen festgestellt, in denen die Natur den Anliegern keine »Pilze, Nüsse und Kamille« beschert? Lassen die Befunde schon Rückschlüsse auf soziale Spezifika und Befindlichkeiten der Nahrungsaufnahme zu? Fragen über Fragen, die die Ausweitung und Bezuschussung der Untersuchungen zu einem internationalen Politikum ersten Ranges werden lassen. – Gunnar Gründlich (54), Student, 64291 Darmstadt
Wolfgang Helfritsch