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Titel1516

Die Lüge mit den langen Beinen  (Ralph Hartmann)

Nun saßen sie wieder einmal pünktlich im Zweijahresrhythmus beisammen, dieses Mal an der Weichsel in einem Großwigwam in einem Warschauer Stadion: Der Oberhäuptling aus Übersee, die dienstwillige, aber einflussreiche Squaw von der Spree und die übrigen 25 Häuptlinge des Kriegspaktes, der immer noch den Nordatlantik im Namen trägt (North Atlantic Treaty Organization). Inmitten der unter dem marineblauen NATO-Banner mit seiner Kompassrose versammelten erlesenen Runde hatte sich ein hoch aufgeschossenes Wesen eingenistet: die Lüge mit den langen Beinen.

 

Lügen haben, so der Volksmund, eigentlich kurze Beine, diese aber hatte lange. Die Versammelten gestatteten es ihr, nicht nur zwischen den ost- und mitteleuropäischen sowie den nordatlantischen Staatenlenkern hin- und herzuwandern, sondern vor den politischen Tatsachen zu fliehen und vor der Gefahr aus dem Osten zu warnen. Kurz gesagt: Die Lüge mit den langen Beinen ist die stete Warnung vor der von Russland, vom Kreml und von Putin persönlich ausgehenden Bedrohung. Diese hat dem Militärpakt endlich die lang vermisste und doch so ersehnte weitere Existenzberechtigung verschafft. Als es den Washingtoner Falken und ihren Handlangern gelang, den blutigen Maidan-Putsch zu inszenieren und dem Ziel, das Einflussgebiet der NATO in Richtung Moskau auszudehnen, näher zu kommen, war es endlich soweit. Störend war lediglich, dass die Bewohner der Ostukraine und der Krim den Staatsstreich nicht akzeptierten und Moskau sie darin unterstützte. Das war die Wiedergeburtsstunde der langbeinigen Lüge von der russischen Gefahr, gewissermaßen eine Wiederkehr der Legende von der sowjetisch-bolschewistischen Bedrohung aus dem Osten.

 

Bereits auf dem NATO-Gipfel in Wales im August 2014 wurde Russland als »Bedrohung für die euroatlantische Sicherheit« eingestuft. Folgerichtig wurde unter anderem beschlossen, eine schlagkräftige »Speerspitze« der Schnellen Eingreiftruppe (NATO Response Force) mit bis zu 5000 Soldaten aufzubauen, mit der die Sicherheit der Alliierten in Ost- und Mitteleuropa, die sich – natürlich von Russland – bedroht fühlten, gestärkt werden sollte. Wenige Monate danach, im November 2014, erklärte der neuernannte Kommandeur der USA-Landstreitkräfte in Europa, Generalleutnant Frederick Hodges, in seiner Antrittsrede, von Russland gehe »eine sehr reale Bedrohung« aus. Und nur wenige Wochen später, am 4. Dezember 2014, verabschiedete das amerikanische Repräsentantenhaus mit der »Resolution 758« ein Gesetz, das dem US-Präsidenten erlaubt, angesichts der russischen Bedrohung ein militärisches Vorgehen gegen Russland anzuordnen. Die Resolution basiert auf dem »Gesetz zur Verhinderung der russischen Aggression« (»Russian Aggression Prevention Act«).

 

Auf die »russischen Bedrohungen« wurde nicht nur mit aufrüttelnden Kassandra-Rufen und kriegsvorbereitenden Konzepten, sondern auch mit einer nicht enden wollenden Kette von Militärmanövern reagiert. Höhepunkt war zweifellos das einen Monat vor dem NATO-Gipfel in Warschau stattgefundene größte Manöver des Paktes seit dem zeitweiligen Ende des Kalten Krieges. Es trug den niedlichen Namen der bekannten und gefährlichen Riesenschlange Anakonda. 31.000 Soldaten aus 24 Ländern, darunter auch aus den Nichtpaktmitgliedern Finnland, Mazedonien, Ukraine, Georgien – auch Kosovo durfte nicht fehlen –, übten die Verteidigung des »Bündnisses der Blauen« gegen einen Vorstoß des »Bündnisses der Roten«, gerade so, als sei Moskau noch immer die Hochburg des Weltkommunismus. Die Kriegsübung verlief erfolgreich, und der Gipfel konnte beginnen.

 

Zuvor hatte sich auch die Bundesakademie für Sicherheitspolitik fleißig gezeigt, ein Arbeitspapier »Agenda des NATO-Gipfels von Warschau« verfasst und darin festgestellt, dass es sich bei »Russlands Vorgehen« um »ein grundsätzliches Aufkündigen der europäischen Sicherheitsordnung« handele. Wie treffend, hat doch der Kreml seinen Einflussbereich Schritt für Schritt bis an die Grenzen der NATO-Staaten erweitert! Am unmittelbaren Vorabend des Gipfels hatte sich auch der bekannte Friedenskämpfer, der polnische Kriegsminister Antoni Macierewicz, zu Wort gemeldet und Russland als die »größte Gefahr für die Welt« (https://deutsch.rt.com/europa) bezeichnet und vorgeschlagen, das Land vor aggressiven Handlungen abzuschrecken. »Abschreckung«, das war (neben »Dialog«) die Hauptlosung des Warschauer Gipfels, die die NATO-Beamten aus der Mottenkiste des Kalten Krieges geholt und in die Entwürfe für die Tagung geschrieben hatten. Und die deutsche Kanzlerin hat es in ihrer Regierungserklärung vor dem Gipfel nachgeplappert: »Abschreckung und Dialog … sind keine Gegensätze. Nein, das gehört untrennbar zusammen.« Auch in dieser Erklärung steckt sie wieder, wenn auch in verbrämter Form: die langbeinige Lüge von der russischen Bedrohung. Denn was heißt denn »Abschreckung«? Laut deutschen Lexika handelt es sich dabei um einen Vorgang, jemand in Angst und Schrecken zu versetzen, um ihn von befürchteten Handlungen abzuhalten.

 

Mit der Annahme der Formel »Abschreckung und Dialog« hat der Warschauer NATO-Gipfel erneut das Schreckgespenst einer »russischen Bedrohung« an die Wand gemalt. Um ihm zu begegnen, beschloss er, in den östlichen Mitgliedsstaaten – in Polen und in den drei baltischen Staaten –, NATO-Bataillone mit jeweils bis zu 1000 Soldaten und Offizieren zu stationieren. Deutschland übernahm bereitwillig und stolz das Kommando der Truppe in Litauen. Deutsche Soldaten kommen so endlich wieder ins Baltikum und an die russische Haustür! Das hat nebenbei auch den Vorteil, sich an Ort und Stelle hin und wieder an den Aufmärschen der baltischen SS-Veteranen zu ergötzen.

 

Tatsächlich, die russische Bedrohung ist real und ernst, auch wenn Putin sie leugnet und noch vor dem Gipfel gegenüber dem Corriere della Sera erklärte: »Nur eine Person, die geistig nicht gesund ist oder einen Albtraum hat, kann sich vorstellen, dass Russland eines Tages die NATO angreift. Diese Idee hat keinerlei Sinn und ist komplett unbegründet. Vielleicht aber ist jemand interessiert, diese Furcht zu nähren … Ich möchte Ihnen sagen: Es ist nicht nötig, Angst vor Rußland zu haben.« (Übs: R. H.) Hier stapelt der Kremlchef tief und versucht, die NATO in die Irre zu führen. Immerhin ist bekannt, dass die NATO-Staaten insgesamt jährlich nur über läppische 1000 Milliarden Dollar für die Rüstung einsetzen, während Russland dafür 90 Milliarden ausgibt. Auch noch andere Vergleiche verdeutlichen, dass der Kreml maßlos aufrüstet. Von den umgerechnet 1,8 Billionen Dollar Militärausgaben, die jährlich weltweit aufgewandt werden, entfallen lediglich 34 Prozent auf die USA und aufsehenerregende 4,8 Prozent auf Russland.

 

Angesichts dieser beängstigenden Fakten sah sich der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg unmittelbar vor dem Gipfel der Häuptlinge des Paktes veranlasst, noch einmal vor der »Gefahr durch Russland« zu warnen und festzustellen, dass das Land »viel aggressiver geworden« sei. Und die Abschlusserklärung atmet den gleichen Ungeist.

 

Der Oberhäuptling aus Übersee, seine dienstwillige Squaw von der Spree und die übrigen Häuptlinge bleiben bei der Lüge von der russischen Bedrohung, der Lüge mit den langen Beinen, damit diese weiterhin erfolgreich vor den Tatsachen und der Wahrheit flüchten kann. Eine langlebige Lüge, die umso gefährlicher wird, wenn die Lügner beginnen, ihr zu glauben.