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Titel1516

Rechts regiert in Ungarn  (Georg Rammer)

Armut und wachsende Ungleichheit. Enttäuschte Hoffnungen. Schamlose Bereicherung und Korruption der Machtelite. Das alles kommt so bekannt vor. Was in Ungarn seit Jahren zu beobachten ist, stellt in der Europäischen Union keine Ausnahme dar. Und auch die Magyaren reagieren überwiegend mit Resignation und einer ganzen Menge Ressentiments. Nicht nur die faschistische Hasspropaganda in sozialen Medien versucht die Stimmung in ihrem Sinn anzuheizen; die autoritäre Orbán-Regierung weiß die Ressentiments emotional aufzuladen, zu kanalisieren und für sich zu nutzen.

 

Seit Wochen prangt in den Metrostationen in Budapest neben Konzernwerbung ein großflächiger Aufruf: »Népszavazás 2016 a kényszerbetelepités ellen. Üzenjük Brüsszelnek, hogy ök is megértsék!« (Volksabstimmung 2016 gegen die Zwangsansiedlung. Lasst uns ein Signal an Brüssel senden, damit sogar die dort es verstehen!). Mit »Zwangsansiedlung« ist die von der EU beschlossene Aufnahme von 2300 Flüchtlingen gemeint. Bei der suggestiven Fragestellung der geplanten Abstimmung (»Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die Ansiedlung nichtungarischer Staatsbürger in Ungarn vorschreibt?«) ist eine breite Mehrheit für das Referendum sicher. Damit nutzt die rechte Orbán-Regierung die Fremdenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung ebenso, wie sie sie radikalisiert. Die Enttäuschung über die EU wird umgemünzt in Stimmungsmache gegen die Ignoranten in Brüssel. Und damit lenkt sie von Armut und Ungleichheit ebenso ab wie von der Repression seitens der Regierung und der Korruptheit des Personals.

 

Die manipulative Macht des Regimes zeigt geradezu exemplarisch ein Denkmal auf dem zentralen Szabadságtér (Freiheitsplatz) in Budapest. Die Politik ließ hier ein Symbol errichten, das das Land zum Opfer des Bösen stilisiert und die eigene Schuld leugnet. Unweit des zu einem Hochsicherheitstrakt ausgebauten Palastes der US-Botschaft hält ein anmutiger halbnackter Jüngling die christlichen Insignien empor – ohne zu bemerken, dass ihn von oben ein riesiger martialischer Adler bedroht. Die Inschrift am Denkmal gibt die Deutung vor: »A német megszállás áldozatainak emlékmüve« (Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung). Ungarn als Opfer? In frappierender Einseitigkeit werden hier Täter zu Opfern gemacht.

 

Denn unter der Regentschaft des »Reichsverwesers« Miklós Horthy wurde das Land nach dem Ersten Weltkrieg in halbfeudalen Verhältnissen von Adligen, Großgrundbesitzern und Militärs – mit tatkräftiger Hilfe einer reaktionären katholischen Kirche – beherrscht. Ungarn verbündete sich rasch mit den faschistischen »Achsenmächten« Deutschland, Italien und Japan. Ein scharfer Antisemitismus galt ebenso als Staatsdoktrin wie die Verachtung des armen Teils der Bevölkerung. Die herrschende Elite hetzte gegen den »Judeobolschewismus«, erließ Rassengesetze und beteiligte sich an der Seite des faschistischen Deutschlands an den Angriffen auf Jugoslawien und die Sowjetunion. Serben und Juden fielen ungarischen Massakern zum Opfer. Ungarische Juden und Roma wurden 1944 von SS, Wehrmacht und örtlicher Polizei in Budapest zusammengetrieben und nach Auschwitz deportiert.

 

Nachdem Horthy abgedankt hatte und von den Deutschen auf einem bayrischen Schloss untergebracht worden war (nach dem Krieg fand er bei Portugals Diktator Salazar freundliche Aufnahme), führten die faschistischen Pfeilkreuzler mit ihrem Führer Szálasi das blutige Geschäft fort.

 

Nichts davon wird auf dem Denkmal erwähnt. Proteste aus der Bevölkerung wurden gerichtlich geahndet; eine engagierte Bürgerin, die den Spruch »Weiches Wasser bricht den Stein« angebracht hatte, wurde angeklagt: Die Meinungsäußerung sei eine Gefahr für die Gesellschaft. Von Kritikern des verlogenen Gedenkens ist aber noch eine Installation vor dem Denkmal errichtet worden: Mit alter Koffern, abgetragenen Schuhen, Kinderkleidchen, mit Fotos und persönlichen Erinnerungstexten wird der von Ungarn Deportierten und Ermordeten gedacht.

 

Politische Propaganda, Ressentiments und rassistische Hetze haben offensichtlich den Reichsverweser Horthy wieder an die Oberfläche der Publizität gespült (während der stalinistischen und realsozialistischen Jahre hatte man ihn als Verbrecher behandelt) und salonfähig gemacht. Seine Büste ziert den Eingangsbereich einer reformierten Kirche. Landesweit findet der Besucher Statuen, Gedenktafeln, Straßen und Plätze, die an ihn und zahlreiche seiner antisemitischen Getreuen erinnern.

 

Die Folgen des radikalen neoliberalen Umbaus von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft treten in Ungarn in erschreckender Deutlichkeit zu Tage. Verlierer gibt es genug: Bis zu 40 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, nach UNICEF-Angaben hat Ungarn die höchste Wachstumsrate bei der Kinderarmut – mit katastrophalen Auswirkungen auf Ernährung, Gesundheit und Bildung –, die meisten Haushalte verfügen über keine materiellen Reserven, die private Verschuldung nimmt dramatisch zu. So hatte sich die »lustigste Baracke des Ostblocks«, wie Ungarn im Kalten Krieg von Westmedien abfällig bezeichnet wurde, den EU-Beitritt und die NATO-Beteiligung nicht vorgestellt.

 

Aber viele Verlierer des neoliberalen Umbaus ziehen nicht die Verursacher der Misere zur Rechenschaft. Sie lassen sich eher durch die korrupte Elite und Rechtsextreme aufhetzen und mit nationalistischen Parolen und chauvinistischem Größenwahn, dem aggressiven Traum von Groß-Ungarn, von den sozialen Problemen und ihren Ursachen ablenken. Sündenböcke müssen her. Einzelne Berufsgruppen etwa aus dem Gesundheits- und Bildungsbereich organisieren zwar Proteste. Ein starker politischer Widerstand gegen Sozialabbau, Lohndumping, Privatisierung und die korrupte Bereicherung der Machtelite ist aber nicht zu spüren. Dem »Verfassungsputsch« der Zwei-Drittel-Mehrheit der Orbán-Regierung mit Änderung des Wahlrechts und der Verfassung, der Machtübernahme bei Medien und Justiz, neuen Arbeits- und Sozialgesetzen, die die Armut noch steigern, folgt ein neoliberales nation building; dieses wird mit rassistischer Hetze, Fremdenhass, Drohungen gegen Juden und Roma und dem Traum von nationaler Größe schmackhaft gemacht. Resigniert stellt eine engagierte Kritikerin der Verhältnisse fest: »In diesem Land sind nicht einmal mehr Spuren von Demokratie zu finden.«