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Titel1517

Des Glaubens liebstes Kind  (Ralph Hartmann)

Nach einer Allensbach-Umfrage von 2002 sind 71 Prozent der Bundesbürger überzeugt, dass es keine Wunder – also kein außergewöhnliches, den Naturgesetzen oder aller Erfahrung widersprechendes und von übernatürlichen Kräften herbeigeführtes Geschehen – gibt. Dessen ungeachtet liebt die Mehrheit der Deutschen Lieder, die Wunder verheißen. So sang Katja Ebstein mit Erfolg das friedliche Lied: »Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn.«

 

Sie hat Recht behalten. Ein Wunder ist tatsächlich geschehen. In Nordrhein-Westfalen hat der Landtag mit großer Mehrheit einen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen des KPD-Verbotes von 1956 und des Radikalenerlasses von 1972 gewählt. Die Wahl eines derartigen Beauftragten ist umso überraschender, wenn man bedenkt, dass der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung Hans von Lex – einst hoher Beamter im NS-Innenministerium – vor dem Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Verbot der KPD unter anderem mit den Worten begründete: »Sie ist ein gefährlicher Infektionsherd im Körper unseres Volkes, der Giftstoffe in die Blutbahn des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus der Bundesrepublik sendet.« Und der Organismus wurde von diesem Übel gereinigt, gründlich.

 

Aber nun endlich, wenn auch spät, wählte das nordrhein-westfälische Parlament eine Beauftragte für die Aufarbeitung der Folgen der Kommunistenverfolgungen. Für die Kandidatin stimmten 60 Abgeordnete bei einer Enthaltung und 20 Gegenstimmen. Antreten wird sie ihr Amt im Oktober. Noch vor Aufnahme ihrer Amtsgeschäfte wandte sie sich gegen Einschätzungen, wonach sich die Aufarbeitung der BRD-Vergangenheit nach den vielen Jahren erledigt habe. Noch immer gebe es Opfergruppen, die Beratung und Hilfe benötigten. »Der Dialog und die Erinnerung an die Geschichte sind unverzichtbar«, betonte sie.

 

Es ist kaum zu glauben und grenzt eben doch an ein Wunder, dass sich die Landesbeauftragte des größten Bundeslandes, in dem der kommunistische »gefährliche Infektionsherd« die bedrohlichsten Ausmaße erreicht hatte, 61 beziehungsweise 45 Jahre später ans Aufarbeitungswerk machen will. Zudem beabsichtigt sie, wie sie in einer ersten Erklärung mitteilte, die Folgen des KPD-Verbotes und des Radikalenerlasses in der gesamten Bundesrepublik im Auge zu behalten, da die seinerzeitigen Zwangsmaßnahmen länderübergreifend erfolgt seien. So warte auf sie eine wahre Herkulesarbeit.

 

Stopp, ich muss mich entschuldigen, offensichtlich habe ich einiges durcheinander gebracht. Tatsächlich, es geht es um die Aufarbeitung der Folgen geschehenen Unrechts, aber doch nicht im Zuge der Kommunistenverbote in der BRD, sondern während der Diktatur der Kommunisten in der DDR. Gewählt wurde die Aufarbeitungsbeauftragte nicht im Land Nordrhein-Westfalen, sondern im Bundesland Brandenburg.

 

Aber sonst stimmt alles. Für die Aufarbeitungsbeauftragte für die Folgen der kommunistischen Diktatur in der DDR, es handelt sich um die Religionspädagogin, Soziologin und derzeit stellvertretende Leiterin der Stiftung Berliner Mauer Maria Nooke, stimmte eine große Mehrheit der Abgeordneten des brandenburgischen Landesparlaments. Antreten wird sie ihr Amt im Oktober. Und tatsächlich hat sich Frau Nooke gegen Einschätzungen gewandt, dass sich die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nach den vielen Jahren erledigt habe. Noch immer gebe es Opfergruppen, die Beratung und Hilfe benötigten. Auch die Erklärung – »Der Dialog und die Erinnerung an die Geschichte sind unverzichtbar.« – ist Originaltext der neuen Brandenburger Aufarbeiterin.

 

Für ihre Berufung in das Aufarbeitungshochamt spricht auch die Tatsache, dass sie sich in den zurückliegenden Jahren publizistisch intensiv mit dem untergegangenen ostdeutschen Staat auseinandergesetzt hat. Möglicherweise ein wenig einseitig. Das verraten schon die Titel ihrer Publikationen, in denen sie sich nahezu ausschließlich mit einem Thema befasst hat: »Die Todesopfer am Außenring der Berliner Mauer 1961–1989«, »Der verratene Tunnel. Geschichte einer verhinderten Flucht im geteilten Berlin«, »Mauerbau und Fluchtbewegung«, »Der dritte Mauertote«, »Erfolgreiche und gescheiterte Fluchten«, »Die Opfer von Mauer und Stacheldraht«, »Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989 – Ergebnisse eines Forschungsprojektes«, »Die Berliner Mauer. 1961 bis 1989« sowie weitere ungezählte Beiträge zu: »Die Todesopfer an der Berliner Mauer«. Diese publizistische Spezialisierung lässt erwarten, dass sie ihr neues Amt vor allem mit einem geschärften Mauerblick ausüben wird. Für den Durchblick auf das reale vielfältige Leben in der DDR dürfte das nicht sonderlich hilfreich sein.

 

Aber auf solche Kleinigkeiten kommt es letztlich nicht an. Es geht ums Prinzip, es geht um den »gemeinsamen Grundsatz, den der Fraktionschef der Linken im Landtag, Ralf Christoffers, in die Worte kleidete: »Da wo Unrecht geschehen ist, ist Unrecht auch wiedergutzumachen.« Wie wahr, wie wahr! Aber gilt das nur für den angeschlossenen und nicht auch für den anschließenden Staat? Letzterer, die BRD, gibt sich noch heute für einen unbefleckten Rechtsstaat aus, in dem niemandem aus politischen Gründen Unrecht zugefügt wurde. Allein schon das KPD-Verbot von 1956 mit dessen vielfältigen Auswirkungen – einmal ganz abgesehen vom Radikalenerlass von 1972 mit all seinen Berufsverboten – erlaubt doch wohl gewisse Zweifel an dieser Behauptung.

 

Nach dem Verbot wurden bekanntlich gegen etwa 200.000 Menschen Strafermittlungen eingeleitet. Bis zu zehntausend von ihnen wurden zu Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt, nicht selten von ehemaligen NS-Richtern, die sie schon einmal bestraft und in Zuchthäuser und Konzentrationslager gebracht hatten. Wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot wurde ihnen der Verfolgtenstatus aberkannt, wobei selbst erhaltene Haftentschädigung zurückgezahlt werden musste. Bis zum heutigen Tag sind die Opfer der Kommunistenverfolgungen nicht rehabilitiert und schon gar nicht entschädigt worden.

 

Wer aber arbeitet dieses schreiende Unrecht auf? Wo sind die Aufarbeitungs-Landesbeauftragten? Lediglich in Niedersachsen wurde vor wenigen Monaten eine ehrenamtlich tätige Beauftragte »zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen« eingesetzt (vgl. Ossietzky 4/2017). Im Gegensatz dazu ist die DDR-Aufarbeitung auch 27 Jahre nach dem Anschluss weiter im vollen Gange. Um sie kümmern sich vor allem Eppelmanns Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Gauck-Birthler-Jahn-Behörde für die Unterlagen des MfS mit ihren Dependancen in den ostdeutschen Bundesländern und nicht zuletzt Knabes Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Doch bei weitem nicht nur sie allein.

 

Die Eppelmann-Stiftung hat eine »Übersicht« herausgegeben, in der fein säuberlich die »Beratungsangebote für Opfer politischer Verfolgung in der SBZ/DDR« aufgelistet sind. In Berlin arbeiten unter anderem für diesen hehren Zweck die Stiftung Berliner Mauer, der Bund der Stalinistisch Verfolgten in Deutschland, der Förderverein für Beratungen, die Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945–1950, das Forum zur Aufklärung und Erneuerung, die Hilfe für Opfer von DDR-Zwangsadoptionen, die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), das Beratungszentrum für Folteropfer Berlin (BZVO). Ähnliche Einrichtungen gibt es in allen Bundesländern – in Ost und West. Auch in Nordrhein-Westfalen, hier existieren unter anderem die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge, die Ehrenamtliche Beratung für SED-Opfer, das Netzwerk Stasiopfer – Selbstopfer.

 

Für das bundesweite System der Aufarbeitung der SED-Diktatur und des DDR-Unrechts werden seit 1990 Milliarden von Steuergeldern eingesetzt. Allein die Jahn-Behörde schluckt jährlich weit über 100 Millionen Euro, seit ihrer Gründung am 3. Oktober 1990 sind das mehr als zwei Milliarden Euro.

 

Für die Aufarbeitung der Kommunistenverfolgungen nach dem Verbot der KPD in der alten Bundesrepublik gibt es nicht einen einzigen Beauftragten, wird kein einziger Cent ausgegeben. Da könnte Katja Epstein noch so lange singen: »Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehen.« Wer daran glaubt, wird selig. Schon Goethes Faust wusste: »Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.« Im Rechtsstaat Bundesrepublik ist es ein Waisenkind.