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Titel1518

Tragisches Lehrstück Italien  (Susanna Böhme-Kuby)

Was ist los in Italien? Haben dort plötzlich Faschisten die Macht übernommen? Wollen sie den Euro und damit die EU kippen? Und nicht mehr alle Flüchtlinge aufnehmen, die seit gut 25 Jahren an den langen Küsten mehr stranden als landen, meist weiter nach Nordeuropa wollen, wo sie Arbeit finden könnten, aber nicht dürfen, weil vor allem das unsägliche Dublin-Abkommen sie daran hindert?

 

Solche Fragen tauchten auch in deutschen Medien auf, als die schwierige Regierungsbildung in Italien erst nach drei Monaten gelang, was schon vor der Wahl absehbar gewesen war, nicht zuletzt aufgrund des zuvor von der Renzi-Regierung mit Berlusconis Zustimmung erneuerten Wahlgesetzes. Denn kaum eine der politischen Kräfte hätte die nötige 40-Prozent-Marke erreichen können, und vorne lagen nun zwei, die sich über Jahrzehnte heftig bekämpft hatten: die 5-Sterne-Bewegung (32 Prozent) und die wieder um Berlusconi versammelten Rechtsparteien (zusammen 37 Prozent), darunter die erstarkte Lega (17 Prozent), die sich unter ihrem neuen Anführer Salvini von der einstigen Spalterpartei des Nordens zur nationalen Kampffront gemausert hatte: Italiener zuerst!

 

Das bisherige Establishment hatte dem über Jahre angewachsenen Protest der 5-Sterne-Bewegung (M5S) gegen die verheerende neoliberale Austeritätspolitik außer Ausgrenzung und Häme nichts entgegengesetzt. Verantwortlich dafür war und ist in erster Linie die von Matteo Renzi weitgehend zerstörte Demokratische Partei (PD), die in den letzten Jahren das Ruder in der Hand hatte. Nach deren Abstrafung durch die Wähler am 4. März (nur noch18 Prozent) warf Renzi das Regierungsruder den 5 Sternen (32 Prozent) vor die Füße mit der Aufforderung: Nun macht ihr mal, wir kaufen uns Popcorn und schauen uns das Ganze aus der Opposition an. Damit ließ er – unter dem Damoklesschwert der Zinsspekulation auf die Staatsschulden (spread) – der M5S unter Luigi Di Maio keine andere Möglichkeit, als nach einigem Zögern die Lega von Matteo Matteo Salvini, nun stärkste Partei im Rechtsbündnis vor Berlusconis Forza Italia (14 Prozent), mit ins Boot zu nehmen. Aus den »populistischen« Übereinstimmungen der beiden durchaus unterschiedlichen Parteien entstand Ende Mai ein in sich widersprüchlicher Regierungsvertrag, übereinstimmend vor allem in den für die Verarmung des Landes verantwortlich gemachten Sündenböcken: die Migranten aller Art und der Euro.

 

Die seit gut einem Jahrzehnt angewachsene Euro-Skepsis der Populisten hatte sofort nach der Wahl ein international geschürtes Angstszenario ausgelöst, das Italien bald wieder (wie schon 2011) am Rande der Zahlungsunfähigkeit sah. Die Mainstream-Medien im In- und Ausland trugen das Ihrige dazu bei, obwohl nirgends im Regierungspakt von einem Austrittsplan aus dem Währungssystem die Rede war, sondern lediglich von größerem finanziellen Spielraum für allerlei drängende soziale Maßnahmen. Der Vorschlag zur Ernennung eines euro- und deutschlandkritischen Finanzministers (Paolo Savona) genügte, das Land auch an den Rand einer institutionellen Krise zu bringen. Nach einer atemraubenden Achterbahnfahrt auf der Suche nach einem parteilosen Regierungschef gelang Staatspräsident Sergio Mattarella schließlich doch noch eine Regierungsbildung aus beiden oben genannten Parteien, rechtzeitig zum Nationalfeiertag am 2. Juni.

 

Diese politische Tragikomödie machte nochmals deutlich (nach Griechenland 2015), was jenen Volkswirtschaften widerfährt, die dem innereuropäischen Konkurrenzdruck nicht standhalten, deren Bevölkerung aber dennoch versucht, sich den von oben verordneten Spardiktaten und der daraus folgenden Verarmung zu widersetzen. Erneut wurde klar, dass Staatsschulden und Zinslast zu dem entscheidenden Disziplinierungsinstrument geworden sind in einer neoliberal formierten, das heißt nur von Kapitalinteressen dominierten EU, in der sich die öffentlichen Haushalte der währungspolitisch nicht mehr selbständigen Mitgliedsstaaten nur noch über private Banken finanzieren können.

 

Das bedeutet auch, dass die rechtsstaatliche Garantie zur freien Wahl nationaler Regierungen nur noch eine formelle ist, denn de facto wird sie beschränkt – über die Staatsschuldenfalle – von den Gläubigern und den Banken, welche die Schulden verwalten. Über das Entstehen der Schulden, ihre Funktion und Nutznießer wird in der Öffentlichkeit geschwiegen. Dort werden Schulden als eine »natürliche« Folge dargestellt, wenn – wie in Italien – angeblich »Schnorrer« zu wenig arbeiten und auf Kosten der Deutschen »über ihre Verhältnisse« leben, wie man besonders aus deutschen Medien erfahren konnte. Aber die Italiener könnten ja nun durch die Finanzmärkte lernen, wie sie im Falle eventueller Neuwahlen zu wählen hätten, so sprach es jedenfalls ein deutscher EU-Kommissar offen aus (Günther Oettinger). Denn schließlich wisse man nicht zuletzt auch von Angela Merkel, dass die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet werden kann, dass sie marktkonform ist. Denn nur darum geht es bei heutigen Regierungen: um ihre Marktkonformität. Dementsprechend garantierte der italienische Staatspräsident die Besetzung zumindest der entscheidenden Ministerämter (Finanzen und Äußeres) mit bewährten Fachleuten aus dem Establishment – zur Beruhigung der Banken, die jedoch den Zinsaufschlag auf die Staatsanleihen auch weiterhin warnend »volatil« halten (allein zwischen März und Mai hatte er sich verdoppelt).

 

Nicht minder relevant ist das Flüchtlingsthema. Allerdings hat dessen ebenfalls vorhersehbare Behandlung durch den rechtsextremen Führer der Lega, den neuen Volkstribun Matteo Salvini, keinerlei Alarm in Brüssel oder Berlin ausgelöst, denn dort trifft er auf ähnlich Gesinnte: Das EU-Boot sei voll! Europäische Politiker unterscheiden sich nur graduell bei den Formen der Abweisung von Flüchtlingen. Der mit der extremen Rechten und mit der Waffenlobby gut vernetzte bisherige Europa-Parlamentarier Salvini versucht nun als Innenminister, seine seit langem propagierten, brutalen Abschiebepraktiken gegen Migranten und Roma lautstark durchzusetzen. Er will den Zugang zu den vielen Häfen der Halbinsel für Rettungsboote aller Art, selbst für die der italienischen Marine, sperren und setzt die Polemik gegen die internationalen Hilfsorganisationen fort, die schon unter der PD-Regierung begann. Ein Druckmittel auf die EU aufgrund der Erfahrung, dass Italien seit mindestens 25 Jahren mit der Aufnahme der Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, alleingelassen wird. Doch die Gesamtsituation ist mit inzwischen vielen Tausenden Toten so weit eskaliert, dass die zerbrechende EU nur noch mit einem allseits geforderten »Schutz der Außengrenzen« reagiert, das heißt: Militarisierung per Frontex, Abschreckung, Aufhalten der Flüchtlinge in Lagern aller Art, und zwar so weit weg wie möglich. Darüber herrscht Konsens zwischen Salvini, Seehofer und Kurz, die sich an europäischen Binnengrenzen immer noch mit eigenen Interessen gegenüberstehen.

 

In diesem Europa stört auch kein wieder präsenter Berlusconi, der nun offiziell Opposition betreibt, seinen politischen Partner Lega aber indirekt weiter unterstützt und damit den Rechtsruck der Regierung garantiert. Der wird zulasten der 5-Sterne-Bewegung gehen, die bisher vom Allround-Demagogen Salvini weitgehend über den Tisch gezogen wird. Er hat als einer der beiden Vizeministerpräsidenten in der Koalition das Sagen übernommen, obwohl er eigentlich nur Juniorpartner ist. Sein Regierungschef Giuseppe Conte gilt als eher ausführender Arm. Demoskopen orten inzwischen die Lega nach den ersten Monaten im Amt bei circa 28 Prozent der Wählergunst, praktisch auf Augenhöhe mit M5S.

 

Deren Wirtschafts- und Arbeitsminister Luigi Di Maio müht sich, populäre Forderungen durchzusetzen, die auf erheblichen Widerstand des bisherigen Establishments stoßen. Dazu zählen die Eindämmung der Prekarisierung der Arbeit und die Kürzung lukrativer Zusatzpensionen für Abgeordnete als Einstieg für eine Revision der Rentenkürzungen von 2011.

 

Die selbsternannte »Regierung des Wandels« wird jenen allerdings nicht realisieren können, sofern sie den neoliberalen Kurs nur auf ihre Art weiterführen will, zum Beispiel mit Maßnahmen wie der von der Lega propagierten flat tax, eine Einheitssteuer, die die Umverteilung von unten nach oben noch weiter befördern würde. Die M5S versprachen den Millionen Arbeitslosen eine elementare allgemeine Unterstützung, die an Arbeitssuche geknüpft werden soll. Die für solche Ausgaben aus Brüssel erhoffte Gewährung größerer »Souveränität« wird die nötigen Milliarden aber nicht auftreiben können ohne neue Schuldenaufnahme – doch die Schuldenfalle selbst wird von den Populisten nicht ernsthaft in Frage gestellt.

 

Abzuwarten bleibt, was passiert, wenn die Wähler merken, dass die selbsternannten »Anwälte der Italiener« nichts an den Machtverhältnissen ändern und die strukturellen Probleme Italiens nicht lösen. Denn die sind nicht lösbar, ohne diejenigen Mechanismen vor allem auf EU-Ebene zu verändern, die den heutigen Zustand verursacht haben. Der Internationale Währungsfonds hat die Wirtschaftsprognose für Italien 2019 gerade auf ein Prozent herabgesetzt. Doch wie soll sich eine Volkswirtschaft mit Sparauflagen aus Brüssel auch erholen, deren Industriekapazität schon um mehr als 20 Prozent reduziert wurde, deren Infrastruktur seit Jahrzehnten leidet, deren soziale Kohäsion auf dem Spiel steht? Die jüngsten Brüsseler Gipfeltreffen haben gezeigt, dass es noch immer kein Umdenken in der EU gibt, weder in Richtung einer gemeinsamen Schuldengarantie noch massiver öffentlicher Investitionsprogramme.

 

Dass die einstigen Interessenvertreter der Lohnabhängigen, PD und Gewerkschaften, die Kritik an dieser EU viel zu lange den Demagogen der Rechten überlassen haben, zeigt jetzt bittere Folgen, denn sie haben keine praktikablen Alternativen entwickelt, weder zum Umgang mit dem Euro noch mit den Flüchtlingen.

 

Europa befindet sich offenbar mitten im Niedergang auch jenes demokratischen Parlamentarismus, der auf US-Weisung nach 1945 mit dem Wiederaufbau Westeuropas etabliert worden war, ausgerichtet darauf, die bestehenden Machtverhältnisse zu erhalten – sowohl extern als auch intern zwischen den Klassen. Das hat in Italien über Jahrzehnte eine normale Dialektik zwischen Regierung und (kommunistischer) Opposition verhindert und schließlich zu jener großen Distanz zwischen Wahlvolk und der politischen »Kaste« geführt, bei zunehmender Vergiftung des politischen Klimas bis zur Privatisierung der Parteien selbst mit Beginn der Ära Berlusconi. Dieser schon vor 30 Jahren erfolgte populistische Rechtsruck verschärfte sich mit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise, die nun fortdauert, nicht nur in Italien.

 

Last but not least: Berlusconi versucht gerade, auch offiziell wieder aktiv zu werden und einen freiwerdenden Sitz im Senat zu übernehmen. Und sein politischer Nachfolger, der schon mehrfach von seinen Ämtern zurück-, aber nie abgetretene Matteo Renzi, will nun doch die PD verlassen und plant vorerst eine Karriere als Fernsehmoderator in Berlusconis Mediaset-Imperium. Dabei behält er weiterhin den Aufbau einer »Partei der Nation« à la Macron im Auge, denn die nächste Wahl kommt bestimmt.