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Titel1518

Paul Polte und die Vagabundenbewegung  (Heinrich Peuckmann)

Meine Schreibanfänge hatte ich im Rahmen des »Werkkreises Literatur der Arbeitswelt«, und zwar in der Werkstatt Dortmund. Alle vierzehn Tage trafen wir uns im Bildungszentrum Fritz-Henßler-Haus, ganz in der Nähe des Bahnhofs. Unser ungewählter, aber unumstrittener Mentor war der fast siebzigjährige Lyriker Paul Polte, eine Art proletarischer Erich Kästner, der in seinen Anzügen mit Schiebermütze einem englischen Lord glich. Und weil Polte im Dortmunder Norden wohnte, das bis heute eine Problemzone ist, waren die kleinen Ganoven, die Prostituierten seine Helden. Dazu beschrieb er unvergessene Plätze wie die Reibekuchenbude an der Bahnunterführung, an der ich bis zu ihrem Abriss nie vorbeigehen konnte, ohne einen Reibekuchen zu kaufen. Polte leitete unsere Sitzungen mit Sachkenntnis, aber vor allem mit Milde, wenn wir Jüngeren bei der Textbesprechung mal wieder zu hart, manchmal sogar verletzend argumentierten. Vor allem die Neuen hatten es Polte angetan, und wenn deren Texte auch noch so schlecht waren, er fand immer einen positiven Aspekt, und wenn es ein einzelner Satz war. »Man kann doch keinen jungen Hund ersäufen, wer weiß, was noch draus wird.«

 

Polte war eine ganz und gar ungewöhnliche Erscheinung. Alle Gruppen der Arbeiterliteratur hatte er durchlaufen. In der Weimarer Zeit war das der Bund proletarisch revolutionärer Schriftsteller, der in Dortmund eine rege Ortsgruppe hatte, in der Bundesrepublik die Dortmunder Gruppe 61 um Max von der Grün und Günter Wallraff und zum Schluss, seine beste Zeit, der Werkkreis und die Zusammenarbeit mit uns. Wenn Polte die Sitzungen schon mit Übersicht und vor allem in väterlichem Ton leitete, so lief er bei der »Nachbesprechung« in der nahegelegenen Kneipe »Alte Liebe« zu Hochform auf.

 

Hier erfuhr ich dann, dass er für kurze Zeit noch einer weiteren Gruppe angehört hatte, zu der er durch die Zusammenarbeit mit dem Maler Hans Tombrock gestoßen war. Tombrocks Malerei hatte starke Anklänge an den Expressionismus. Er war lange zu Unrecht vergessen, aber vor ein paar Jahren gab es eine große Ausstellung in einer ostdeutschen Stadt. Vielleicht der Anfang einer Wiederentdeckung.

 

Mit Polte machte er Lyrik-Graphik-Blätter, die die beiden für wenig Geld bei Lesungen oder Ausstellungen verkauften. Heute lagern einige davon im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Arbeiterliteratur, aber längst nicht alle. Vieles ist leider verlorengegangen.

 

Mit Tombrock gab Polte ab 1932 auch die kleine Zeitschrift Ruhrstadt heraus, die es aber nur auf wenige Nummern brachte. Hier hat Polte eine Geschichte veröffentlicht, die wahrlich nicht von feinem Florett zeugt, sondern vom dicken Säbel: Hitler fliegt zu seiner Besprechung mit den rheinischen Kapitalisten, unterwegs wird ihm schlecht, er kotzt in den Zylinder und wirft ihn aus dem Flugzeug. Zwei Tage später steht in der Zeitung: Hitler mit Flugzeug abgestürzt, Zylinder mit Gehirn gefunden.

 

Tombrock hatte sich in den zwanziger Jahre den Vagabunden angeschlossen – eine Bewegung, die leider ebenfalls weitgehend vergessen ist. Zu Pfingsten 1929 fand ein denkwürdiges Treffen statt. Gut 500 Obdachlose und Tippelbrüder fanden sich zum »Ersten internationalen Vagabundenkongress« auf dem Stuttgarter Killesberg ein. Gregor Gog, Gärtner, Vagabund und Dichter, vor allem aber Schüler von Gusto Gräser, dessen ökologisch-alternative Vorstellungen die 68er Bewegung wieder entdeckte, hatte zu diesem Treffen aufgerufen. Hintergrund war, dass es in Deutschland schon zu diesem Zeitpunkt vor der eigentlichen Weltwirtschaftskrise über 450.000 Obdachlose gab.

 

Die Redner klagten nicht etwa die Not der Obdachlosen an, vielmehr wurde die Welt der Vagabunden als Alternative zur erstarrten, spießbürgerlichen Gesellschaft verstanden. Ihr Nein zur Gesellschaft hieß: keine Bindung, kein System, keine Autorität. Ihr Ja dagegen bedeutete: Selbstverantwortung, Persönlichkeit und Menschsein in freiem Sinne. Letztlich ist ihre Ablehnung starrer Landesgrenzen auch eine Antwort auf den aufkommenden dumpfen Nationalismus. Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußtelegramme, Lewis mit der schönen Bemerkung, dass er gerade in den USA auf Wanderschaft sei und den Weg bis Stuttgart leider nicht schaffen könne.

 

Gregor Gog hatte zwei Jahre vorher die Bruderschaft der Vagabunden gegründet und mit ihr die literarisch-künstlerische Zeitschrift Der Kunde. Kunde ist ein Begriff aus dem Rotwelschen und bedeutet nichts anderes als Landstreicher. Die Zeitschrift enthielt Erzählungen, Gedichte und Grafiken von Künstlern, die sich auf Wanderschaft befanden. Heute ist sie eine Fundgrube der sozialen Kunst aus der Endphase der Weimarer Republik.

 

In all seinen theoretischen Äußerungen zum Vagabundendasein aus jener Zeit wird deutlich, dass es Gog und seinen Kampfgefährten nicht um die Verbesserung des Sozialstaates geht, der mit Hilfsprogrammen die Obdachlosen inkludiert, sondern der Staat wird radikal abgelehnt. Er wird als Institution zur Sicherung des Reichtums in den Händen des Kapitals begriffen, Sozialprogramme sind nur Augenwischerei. Nicht Inklusion, sondern Exklusion ist das Programm.

 

Hans Tombrock schloss sich der Bewegung an, ging ebenfalls auf Wanderschaft und nahm Polte für ein paar Wochen mit, bis dem, bequem wie er war, die Füße wehtaten und er Sehnsucht nach seinem Dortmunder Norden und seinen kleinen Filous verspürte. Aber immerhin, ein paar Wochen lang war auch er ein Vagabund gewesen.

 

Tombrock gab nicht nur Zeichnungen für den Kunden ab, er schrieb auch kleine Erzählungen, darunter die bedrückende Geschichte einer hungernden Familie auf dem Balkan, die dem Tippelbruder Tombrock in ihrer Not die kleine, etwa zehnjährige Tochter zum Kauf anbietet. Tombrock gibt der Familie die Hälfte seines Geldes und beeilt sich, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen.

 

Nach der Machtergreifung durch die Nazis musste er unter anderem nach Schweden fliehen, lernte dort Bert Brecht kennen und schloss Freundschaft mit ihm. In seinem Arbeitsjournal urteilt Brecht positiv über Tombrocks Malerei, die einem expressionistisch-düsteren Stil verpflichtet ist, gelegentlich bei Landschaftsbildern, die oft während seiner Wanderschaft entstanden, auch helle, fast impressionistische Züge bekommen kann. So illustrierte Tombrock »Das Leben des Galilei«. Auch in Peter Weiß‘ »Ästhetik des Widerstands« taucht Tombrock in Diskussionszusammenhängen über den richtigen Weg gegen den Faschismus auf. Nach dem Krieg unterrichtete er eine Zeitlang an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin, wo er auch die Zusammenarbeit mit Brecht fortsetzte.

 

Polte blieb in Dortmund, ihn konnten sich die Nazis packen und in die berüchtigte Steinwache am Nordausgang des Hauptbahnhofs stecken, die heute eine antifaschistische Gedenkstätte ist. In Poltes ehemaliger Zelle hing lange sein Gedicht »Steinwache«, das er über diese Zeit geschrieben hatte: » ... kein Bild, kein Tuch, kein Stückchen Land / So ganz mit mir allein / Fällt nur mein Schatten an die kahle Wand / Wie leer kann eine Zelle sein …«

 

In dieser Zelle ließen die Nazis, Schlagstöcke in der Hand, Polte seinen Text von Hitlers Flugzeugabsturz vorlesen. Am Ende fragte ihn der Anführer, ob der Text von ihm sei, und Polte antwortete knapp: »Steht doch mein Name drunter.« Die Prügel, die er danach bekam, hat er sein Lebtag nicht vergessen, auch Zähne wurden ihm ausgeschlagen, darunter ein stark vereiterter. »Glück muss man auch haben«, kommentierte Polte.

 

Bei einer Amnestie wurde er freigelassen und hielt sich, inzwischen Vater dreier Kinder, zurück. Erst nach Ende der Nazizeit schrieb er wieder, das meiste in seiner Werkkreiszeit.

 

Wöchentlich komme ich mit dem Auto zwei-, dreimal am Henßlerhaus vorbei. Es erfasst mich jedes Mal Wehmut. Dort hat alles angefangen mit meinem Schreiben, denke ich dann immer. Und dort hatte ich die beglückenden Begegnungen mit diesem proletarischen Vorstadtkästner, dem Vagabunden und Lebenskünstler Paul Polte.