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Grundrente – wird nun alles gut?  (Klaus Müller)

Hurra, die Grundrente ist da! Hurra? Anfang Juli beschlossen Bundestag und Bundesrat die Grundrente. Über wenige Projekte hatten die Regierungskoalitionäre aus CDU/CSU und SPD so sehr gestritten wie über sie, die zuweilen Lebensleistungsrente, Respektrente oder Solidarrente genannt wurde – wohlklingende Namen, an denen sie sich messen lassen muss. Hoher Anspruch: Arbeitern und Arbeiterinnen, die 35 Jahre und länger Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt haben, im Alter den Gang zum Sozialamt ersparen. Geholfen werden soll allen, die eine mickrige Altersrente erhalten, kleiner als die Sozialhilfe, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben, dazu zählen Friseure, Paketzusteller, Pflegekräfte, Kraftfahrer, Verkäufer in Supermärkten und Servicekräfte … Die Grundrente soll die krasse Ungerechtigkeit beheben, die im Grenzbereich zwischen Grundsicherung und Rente herrscht. Sozialversicherte Arbeiter und Angestellte, die im Niedriglohnsektor arbeiten, zahlen jahrzehntelang Beiträge zur Rentenversicherung und bekommen wenig heraus. Ihre Rente liegt unter oder gerade so auf dem Niveau der Grundsicherung. Wer nicht gearbeitet hat, ist materiell nicht schlechter dran.

 

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) übertrieb mächtig, als er die Grundrente die »größte sozialpolitische Reform dieser Legislaturperiode« nannte. Sie soll ab Januar 2021 ausgezahlt werden. Angesichts der Corona-Krise bezweifelten CDU und CSU noch Mitte Mai während der ersten Lesung im Bundestag, ob das Projekt finanziert werden kann, und forderten, es zu verschieben. Die Grundrente soll aus Steuern finanziert werden. Finanzminister Scholz dachte an die Einnahmen aus der geplanten Finanztransaktionssteuer. Aber auch die ist Mitte des Jahres 2020 keineswegs sicher. Die Finanzierung der Grundrente würde erleichtert, wenn der gesetzliche Mindestlohn auf zwölf Euro angehoben würde, heißt es von linker Seite. Höhere Löhne bedeuten ein höheres Beitragsaufkommen.

 

Die Grundrente soll etwa zehn Prozent über dem persönlichen Sozialhilfe-niveau liegen, der Summe aus Hartz-IV-Regelsatz und der Warmmiete. Der Regelsatz für Alleinstehende beträgt aktuell 432 Euro. Bei einer Warmmiete von 420 Euro ergibt sich ein Grundsicherungsniveau von 852 Euro. Die Rente wird mit sogenannten Entgeltpunkten (EP) errechnet. Ein Durchschnittsverdiener bekommt pro Jahr einen solchen Punkt. Wer weniger als der Durchschnitt verdient, erhält weniger, wer mehr als das Durchschnittseinkommen bezieht, erhält mehr als einen Entgeltpunkt. Die Grundrente erhalten die, deren Zahlung an die Rentenkasse zwischen 30 und 80 Prozent jener Zahlungen gelegen hat, die bei einem Durchschnittseinkommen geleistet werden. 30 bis 80 Prozent des Durchschnittseinkommens entsprechen 0,3 bis 0,8 Entgeltpunkten im Jahr. Durch die Grundrente werden Entgeltpunkte bei jenen verdoppelt, die im Schnitt der 35 Jahre nur zwischen 0,3 und 0,8 Punkte pro Jahr angesammelt haben – allerdings nur auf maximal 0,8 Punkte pro Jahr. Die Aufstockung erfolgt damit bis maximal 80 Prozent der Durchschnittsrente. Der so berechnete Rentenaufschlag wird in einem weiteren Schritt um 12,5 Prozent verringert. CDU/CSU setzten die Kürzung durch.

 

Seit Juli 2020 gibt es pro Entgeltpunkt im Westen 34,19 Euro und im Osten 33,23 Euro Rente. Beispiel: Eine Friseurin mit 40 Jahren Lohn auf einem Niveau von 40 Prozent des Durchschnitts käme im Schnitt auf 0,4 Entgeltpunkte pro Jahr. 40 mal 0,4 = 16 EP. 16 EP mal 34,10 Euro pro EP = 547,04 Euro. Ihre bisherige monatliche Rente würde im Westen damit 547,04 Euro betragen. Nach dem beschriebenen Verfahren würden ihre Entgeltpunkte für 35 der 40 Jahre um 0,4 pro Jahr erhöht (Rechnung: 35 x 0,4 x 34,19 Euro = 478,66 Euro) – und von diesem Zuschlag dann 12,5 Prozent abgezogen. Damit läge der Grundrenten-Zuschlag in ihrem Fall bei 418,83 Euro. Insgesamt käme die Frau also auf 965,87 Euro Rente. Davon gehen Beiträge zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung in Höhe von 11,25 Prozent ab. Das ergibt eine Nettorente von 857,21 Euro, die knapp oberhalb des Sozialhilfesatzes liegt

 

Anspruch auf eine Grundrente soll haben, wer 35 Jahre Beiträge gezahlt hat. Denen, die 33 oder 34 Jahre erreichen, wird sie gekürzt. Angerechnet werden neben der versicherungspflichtigen Beschäftigung auch Zeiten für eine nichterwerbsmäßige Pflege und für die Kindererziehung, sofern man sie beantragt; die ersten zehn Jahre eines Kindes zählen als »Kinderberücksichtigungszeit«. Zeiten der Arbeitslosigkeit werden nicht berücksichtigt, auch wenn Arbeitslosengeld oder in der Vergangenheit Arbeitslosenhilfe gezahlt wurde, und berücksichtigt werden auch keine »Zurechnungszeiten«, wie sie etwa Erwerbsminderungsrentner erhalten.

 

Arbeitsminister Heil wollte ursprünglich keine Bedürftigkeit prüfen lassen. Er konnte sich nicht durchsetzen. Die von CDU und CSU gewollte Prüfung der Bedürftigkeit soll es aber nur zum Teil geben. Der aktuelle Kompromiss sieht vor, nur das Einkommen zu prüfen, nicht wie bei der Sozialhilfe auch das Vermögen und den Immobilienbesitz. Die Überprüfung der Einkommen soll automatisch zwischen der Rentenversicherung und den Finanzbehörden erfolgen. Der dafür benötigte Verwaltungsaufwand wird hoch sein. Daher wird damit gerechnet, dass sich die erstmalige Zahlung der Grundrente verzögern wird – eventuell bis Ende 2022. Sie soll dann rückwirkend kommen. Dass der Prüfaufwand ausgerechnet von denen beklagt wird, die ihn zu verantworten haben, den Unionspolitikern, zeigt, wie grotesk die Diskussion des Vorhabens verlief. Die Grundrente erhalten Alleinstehende mit einem Einkommen bis zu 1250 Euro und Paare mit einem Einkommen bis zu 1950 Euro. Einkünfte bis zu 1600 Euro bei Einzelpersonen und 2300 Euro bei Paaren – zum Beispiel Mieten oder Kapitalerträge – werden zu 60 Prozent auf die Grundrente angerechnet, höheres Einkommen zu 100 Prozent. Bei einem Einkommen von 1500 Euro würde die Grundrente des Alleinstehenden um – 250 Euro mal 60 Prozent – 150 Euro gekürzt. Durch diese Regelung verringert sich die Zahl der in Frage kommenden Personen von ursprünglich etwa vier bis fünf Millionen auf 1,2 bis 1,4 Millionen; für Matthias W. Birkwald, rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, ist das skandalös, der Begriff Grundrente sei für das vorgelegte Konzept »grottenfalsch«. Er sprach von einem »bürokratischen und stumpfen Schwert im Kampf gegen Armutsrenten«. Seine Partei will, dass Menschen auch ohne Prüfung der »Bedürftigkeit» schon nach 25 Beitragsjahren, der DGB nach 30 Jahren, eine Grundrente erhalten, wenn sie im Niedriglohnsektor gearbeitet haben. Dabei müssten auch die Zeiten der Arbeitslosigkeit, für Mutterschutz und die Zusatzzeiten bei der Erwerbsminderungsrente berücksichtigt werden.

 

Viele Menschen mit sehr niedrigen Renten erreichen nicht die Zahl der geforderten Beitragsjahre. Von denen, die ein geringes Einkommen haben, schlecht qualifiziert sind, und von den Frauen bleibt deutlich mehr als die Hälfte darunter. Damit fallen ausgerechnet jene aus dem Kreis der Berechtigten, für die eine Grundrente nötig und hilfreich wäre. Im Kern ist die Grundrente ein »Zuschlag an Entgeltpunkten für eine langjährige Versicherung«. Eine Grundrente, die den Namen verdient, sieht anders aus und muss für alle gelten. Andere Länder machen es vor. So erhält in den Niederlanden jeder, der 50 Jahre im Land gelebt hat, als Single mindestens eine Nettorente von 1158,22 Euro. Selbst dann, wenn er keinen Tag gearbeitet hat. Auch die Dänen bekommen eine Einheitsrente, die wie in den Niederlanden höher ist als die deutsche Durchschnittsrente, wenn sie 40 Jahre im Land gelebt haben. Deutsche Politiker stemmen sich gegen eine solche großzügige Regelung. Die »Einheitsrente« verstoße gegen das »Äquivalenzprinzip«. Es hat Verfassungsrang – eine hohe Hürde – und bedeutet, dass die Höhe der Auszahlungen in einem geordneten Verhältnis zu den geleisteten Einzahlungen stehen muss.

 

Matthias W. Birkwald forderte in der Debatte des Antrages der Linksfraktion »Solidarische Mindestrente einführen – Altersarmut wirksam bekämpfen und das Rentenniveau anheben« eine Armut verhindernde Mindestrente. Die aktuellen Vorschläge zur Einführung der Grundrente griffen zu kurz. »Wir Linken wollen keine Grundrente, sondern eine steuerfinanzierte, einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente in Höhe von derzeit 1050 Euro netto, damit niemand im Alter von weniger leben muss, im Einzelfall in teuren Städten ergänzt um ein reformiertes Wohngeld. Wir fordern für Menschen ab 65 Jahren, deren Alterseinkommen aus gesetzlicher Rente, Betriebsrente und privater Vorsorge unter aktuell 1050 Euro liegt, einen Zuschlag, der die Einkommenslücke bis dahin füllt. Im November 2021 sollte die Solidarische Mindestrente auf 1200 Euro angehoben werden. Warum? Ganz einfach: Artikel 1 unseres Grundgesetzes lautet: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹«

 

Die Ungerechtigkeit würde mit der jetzt vorgesehenen Grundrente nicht behoben. Sie würde anderswo neu aufbrechen. »Die neue Kluft würde sich ausgerechnet im Kern der sozialdemokratischen Stammwählerschaft, bei den mittelgut bezahlten Arbeitern und Angestellten, auftun. Ein Drittel aller männlichen Rentner und etwa jede fünfte Rentnerin bekommt im Monat zwischen 900 und 1.500 Euro Rente. Dahinter verbergen sich klassische Arbeiter- und Angestelltenerwerbsbiografien von bis zu 45 Jahren in Vollzeit. Wo bleibt der Respekt für diejenigen, die nach einem langen Erwerbsleben einen Anspruch nur knapp über dem geplanten neuen Basisniveau haben?«, fragt die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfelder.

 

Hinter der Grundrente steckt eine gute Absicht. Sie ist aber »bestenfalls ein Mini-Schritt in die richtige Richtung«, schreibt Tobias Weißert (isw-wirtschaftsinfo 57, April 2020). Die Form, in der sie kommen soll, ist ungerecht. Sie führt zu neuen Ungerechtigkeiten und hilft nicht, Armut im Alter zu verhindern. Denn besonders armutsgefährdet sind Menschen, die viele Jahre arbeitslos gewesen sind und keine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt haben – aber sie bekommen keine Grundrente.