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Rendite statt Utopie  (Monika Köhler)

Sie hat viele Bücher über Berlin geschrieben, aber »die Stadt ist [ihr] seit dem Jahr 2015 so fremd wie nie zuvor«. Sie, das ist Annett Gröschner, die in ihrem neuen Buch »Berliner Bürger*Stuben. Palimpseste und Geschichten« beschreibt, warum. Es sind nicht die Flüchtlinge, die seit diesem Jahr vor dem LaGeSo-Gelände (dem Landesamt für Gesundheit und Soziales) in der Moabiter Turmstraße ausharren mussten, Tag und Nacht, weil der Berliner Senat überfordert war. Um zu helfen, entstand der Verein Wir machen das, ein Netzwerk von Frauen, die Berlin als Arche sehen wollten. 2015 veränderte sich manches. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die zu der Gegend gehört wie sonst nichts, sie stand für Kunst mit politischem Anspruch. 2015 kam die Ankündigung des Rauswurfs von Frank Castorf, der das Theater geprägt hatte. Es stand wie auferstanden gegen den »trendigen Lifestyle, der die Stadt in ein Schaufenster verwandelte«, in dem Viertel, »dem das Volk abhandengekommen« war. Mit dem Weggang von Castorf wurde auch das Ensemble zerstört.

 

Vernichtet wurden vor allem: Wohnungen, die noch bezahlbar waren. Auch Annett Gröschner musste ausziehen – nicht wegen der Geflüchteten. Eine der eindrucksvollsten Passagen im Buch beschreibt, wie so etwas geht, welche Tricks angewendet werden, um die Entmietung zu erreichen. Der Makler ruft im Auftrag der Bank an. Dann kommt der Wohnungsvermesser. Alles soll nun in Eigentumswohnungen verwandelt werden. Mietvertrag hin oder her. Dann kommen die Besichtigungstouren. Wehren kann sich ein Mieter nicht. Gröschner: »Meine Wut wuchs.« Nicht so sehr gegen den Makler, »sondern dagegen, dass es überhaupt möglich war, dass der intimste Raum des Menschen, die Wohnung, eine Ware sein konnte. Ich weiß nicht«, die Autorin denkt zurück, »hätte mich einer zu DDR-Zeiten nach Paragraph soundso aus der Wohnung geschmissen, ich hätte die ZDF-Sendung ›Kennzeichen D‹ im Westen angerufen. Und sicher hätten sie einen Beitrag über die Unverletzlichkeit der Wohnung gebracht, die in der DDR mit Füßen getreten werde. Ich kann mich aber nicht erinnern«, sinniert sie weiter, »dass es so einen Fall damals gegeben hätte. Man flog nicht mal raus, wenn man ein Jahr lang die Miete nicht bezahlt hatte.«

 

Den Himmel über Ostberlin erlebt die Autorin am Jahreswechsel 1988/89 über den Dächern. Das letzte Mal. Später wurde oben alles mit Stacheldraht und Vorhängeschlössern verrammelt, die Böden sind in teure Dachgeschosswohnungen verwandelt, da, wo früher die Wäsche hing. Die Demo zum 4. November 1989 am Alexanderplatz lässt die Autorin von vielen Stimmen beschreiben: enthusiastische, skeptische. Eine Stimme über die Trauer, die sie beim Denken an das Ereignis ergreift: »Seit dem Großplakat ›Wir waren das Volk‹ vor zehn Jahren am Haus des Lehrers ist eigentlich alles dazu gesagt.«

 

Eine andere Demo. Am 3. Oktober 1990 riefen auf dem Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg 10.000 Menschen die »Autonome Republik Utopia« als Gegenrepublik zur BRD aus. Viele, die dabei waren, mussten inzwischen wegziehen, oder sie sind gestorben. »Es ging schon bald nicht mehr um Utopie, sondern um Rendite« – das Fazit der Autorin. Sie schreibt: »Die fröhlichen Habenichtse mussten einer immobilienbesitzenden Klasse weichen.« Künstler/innen werden vertrieben. Der Maler Konrad Knebel, der kurz vor seinem 80. Geburtstag sein Atelier verlassen musste, ein Haus, in dem er seit 1963 wohnte und arbeitete. Das Umschlagmotiv des Buches stammt von ihm. 2009 erhielt er den Hannah-Höch-Preis.

 

Eine der wenigen Abbildungen im Buch zeigt das Foto einer jungen Frau, »Ramona«, die vor einer bekritzelten Wand steht, etwas verlegen. Die Fotografin Helga Paris nahm es 1982 in der Kollwitzstraße auf. Ein paar Seiten weiter, ein Gemälde von Annemirl Bauer: »Madonna vom Prenzlauer Berg«, 1974 entstanden und in den Rahmen eines Gründerzeitspiegels eingepasst, auch er bemalt. Die Madonna ist schwanger. Die Malerin schrieb dazu: »Mutter im 3. Monat, Kind sichtbar, eingebettet in paradiesische Vollkommenheit, die nach menschlichem Willen unterbrochen werden kann. Mutter eingebettet in unvollkommene Umwelt ...«Annemirl Bauer wohnte in einer unbeheizbaren Ladenwohnung mit Nässe und Schwamm am Helmholtzplatz. Sie hatte eine kleine Tochter. Sie schrieb 1969 an Lotte Ulbricht eine Eingabe wegen der unhaltbaren Zustände. Erst 20 Jahre später erhielt sie eine schöne Atelierwohnung, die sie nicht mehr nutzen konnte, weil sie in dem Jahr starb, da war sie 50.

 

Annett Gröschner gibt mit ihren Geschichten, die – mit Ausnahmen – alle schon einmal in verschiedenen Medien veröffentlicht wurden, Einblicke in eher unbekannte Lebensbereiche. So in den Beruf der Ankleiderin beim Theater – nicht Kostümbildnerin. Hier das Deutsche Theater – aus einem anderen Blickwinkel heraus gesehen. Sie schildert, was es mit den Gesängen im Fußballstadion kurz vor Weihnachten auf sich hat. Weihnachtssingen beim 1. FC Union. Kleingärtner in Ost und West haben Probleme. Die meisten Schutzfristen für Kleingartenanlagen sollen 2020 auslaufen. Friedhöfe dagegen werden auch schon mal als »Grünanlagen« bezeichnet in den Beschreibungen der Wohnungsmakler. Eine lange Geschichte nennt sich: »Die Bauakte des Grundstücks Fasanenstraße 23«, es existieren fünf Bände: Akten zu dem heutigen Literaturhaus im Westen Berlins.

 

Ein Rückblick auf die nie verwirklichte Autonome Republik Utopia, auf dem Kollwitzplatz ausgerufen. Im selben Jahr, als der Einigungsvertrag Rückgabe von Eigentum statt Entschädigung vorsah. »Dass dieses Gebiet fast komplett entmischt worden ist, dass es noch nicht einmal wiedervereinigt, sondern am Ende einfach erobert worden ist«, wie die Autorin erkennt, sei »eine der traurigsten Volten der Geschichte.«

 

 

Annett Gröschner: »Berliner Bürger*Stuben. Palimpseste und Geschichten«, Edition Nautilus, 328 Seiten, 20