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Titel1609

Von Müll umlagert  (Sergej Guk)

Die Prophezeiung des Nobelpreisträgers Niels Bohr, die Menschheit werde nicht durch Atomkriege krepieren, sie vergrabe sich selbst unter ihren Abfällen, scheint heute nicht mehr übertrieben. Jedenfalls bei uns im Großraum Moskau – nein, auch landesweit. Wenn es nicht gelinge, das Aufkommen an Müll zu mindern, werde dieses Problem zur »Gefahr für die nationale Sicherheit«, erfuhr die Öffentlichkeit bei der jüngsten parlamentarischen Anhörung. Die amtlichen Berichte, die dort vorlagen, ließen den Leser schaudern: Die Gesamtmenge des gelagerten und nicht aufgearbeiteten Mülls in Rußland betrage gegenwärtig 82 Milliarden Tonnen. Die katastrophalen Zustände seien auf den Mangel an Verbrennungs- und Wiederverwertungskapazitäten zurückzuführen.

Jeder kann es sehen: Die Müllhalden in der Nähe von Großstädten vermehren sich schneller als die Karnickel, vor allem am Stadtrand und in den benachbarten Dörfern und Siedlungen auf dem Lande. Scharen von Ratten, unerträglicher Gestank, der nächtliche Lärm der Unrat-Transporter sind die steten Begleiter dieser Deponien.

Laut der UNO-Weltgesundheitsorganisation sind die sich immer weiter ausdehnenden, meistens ungeordneten Müllabladeplätze mit ihrer Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung Ursache steigender Sterberaten in Rußland: Jeder Fünfte wird demnach zum Todesopfer dieser Zustände. Das innerhalb der verfaulenden Konsumabfälle entstehende Methan ist noch dazu explosionsgefährlich und kann Brände verursachen. Ein großer Müll- und Schuttabladeplatz kann jahrelang glimmen. Im Großraum Moskau gibt es derzeit 60 solche schwach glühenden Abfallhaufen.

Beschwerden kommen aus allen Teilen des Landes – von Archangelsk im Norden bis Tambow im Süden, Jekaterinburg am Ural oder Wladiwostok im Fernen Osten.

Und die zuständigen Behörden? Unternehmen sie etwas dagegen? Selbstverständlich. Als erstes haben die Bürokraten sämtliche Müllhalden in »Gelände« umbenannt – das klingt irgendwie besser. Zweitens haben sie – bei mehreren Konferenzen, Anhörungen, Beratungen – eine wichtige Entdeckung gemacht: Das Problem der Abfallverbrennung wäre viel leichter mit Mülltrennung zu bewältigen. Nunmehr ist Mülltrennung zur Beschwörungsformel, zum Zauberspruch geworden. Leider ist die Zahl der Mülldeponien, die Moskau nicht nur umlagern, sondern inzwischen stellenweise in die Hauptstadt eingedrungen sind, seither nicht geringer geworden. Oberbürgermeister Juri Luschkow verspricht, den Verbrennungs- und Wiederverwertungsprozeß innerhalb von zwei Jahren auf volle Touren zu bringen. Von Müllvermeidungsmethoden, die besonders sinnvoll wären, spricht er bisher nicht, auch nicht von den hochgiftigen Dioxinen und Furanen, die bei der Verbrennung freigesetzt werden. Wir hoffen aber, daß Luschkow etwas bewirken wird – auch wenn wir da nach aller Erfahrung nicht sicher sein können. Unsere Beamten sind darin geübt, mit künftigen Erfolgen zu prahlen. Nur nicht mit gegenwärtigen.