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Titel1609

DDR-Aufarbeiter im Dilemma  (Ralph Hartmann)

Die Aufarbeiter der »SED-Diktatur« stehen vor einem Rätsel. Wie haben sich Rainer Eppelmann und Hubertus Knabe, Joachim Gauck und Marianne Birthler, Günter Nooke und Arnulf Baring, die Spitzen und Sprecher der sogenannten etablierten Parteien und ihre Koalitionsregierungen sowie die systemtreuen Medien in den zurückliegenden Jahren doch geschunden, um den Unrechtscharakter der DDR und ihre Verbrechen bloßzulegen, den untergegangenen Staat zu dämonisieren und damit nachzuweisen, daß jeder Schritt in Richtung Sozialismus nur Unheil bringen kann. Und nun das: Trotz aller Mühen und eines unentwegten propagandistischen Trommelfeuers bis hin zur Volksverhetzung ist eine wachsende Mehrheit der Ostdeutschen nicht bereit, die DDR wunschgemäß zu verdammen.

Die noch amtierende schwarz-rote Bundesregierung zeigte sich von diesem Phänomen ausgerechnet im »Gedenkjahr 2009« so betroffen, daß sie kürzlich, um sicherzugehen, das Emnid-Institut beauftragte, mit einer Umfrage Klarheit zu schaffen. Ergebnis: Fast 20 Jahre nach der »friedlichen Revolution« wird die DDR zwischen Kap Arkona und dem Fichtelberg überwiegend positiv beurteilt. 49 Prozent der befragten Ostdeutschen stimmten folgender Einschätzung zu: »Die DDR hatte mehr gute als schlechte Seiten. Es gab ein paar Probleme, aber man konnte dort gut leben.« Ganze acht Prozent meinten, sie habe überwiegend schlechte Seiten gehabt, genau so viele meinten dagegen gar: »Die DDR hatte ganz überwiegend gute Seiten. Man lebte dort glücklicher und besser als heute im wiedervereinigten Deutschland.«

Seit Jahren grübeln die DDR-Aufarbeiter über die Ursachen derartiger ärgerlicher demoskopischer Ergebnisse und kommen dabei zu teilweise recht sonderbaren Auffassungen. Der mit Hilfe der versprochenen DM sowie mit massiver materieller und personeller Unterstützung aus Westdeutschland ins Amt gehievte letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière sieht die Ursache für die beklagenswerten Ansichten seiner Landsleute darin, »daß viele die Demokratie noch nicht verstanden haben. Sie haben Sehnsucht nach der Zeit, als sie von Staat und Partei quasi an die Hand genommen wurden.« Und de Maizière weiß natürlich, wie schrecklich das war: »In der DDR gab es zum Beispiel nur eine einzige Versicherung. Die Menschen von Eisenhüttenstadt kannten nur das Kombinat. Dort gingen sie in die Kinderkrippe, den Kindergarten, die Poliklinik, das Betriebsferienlager, die Betriebslehrwerkstatt, die Betriebskantine, bekamen einen Job. Mit 14 hatten sie Jugendweihe, mit 18 stellten sie den Antrag auf den Trabi, mit 21 bekamen sie ein Kind. Alles war für die Menschen in der DDR vorgedacht. Plötzlich ist heute Zukunft eine offene Zeit, eine ungestaltete Zeit. Daran kann sich nicht jeder gewöhnen.«

Gauck sieht das ähnlich. Auch er ist der Ansicht, daß sich die Ostdeutschen zu sehr auf den Staat verlassen: »Sie konnten sich nicht an den Status eines Bürgers gewöhnen, sie erwarten zu viel von denen da oben – wie ein Untertan.« Die Menschen im Osten Deutschlands hätten »nie trainieren können, was es bedeutet, ein Bürger zu sein«. Für sie sei es »außerordentlich schwer, ja zur Freiheit und zur eigenen Verantwortung zu sagen«.

Die Bürgerechtlerin und Merkel-Anhängerin Freya Klier macht es sich leichter, sie macht die Schulen für die »nostalgische Verharmlosung der DDR-Vergangenheit« verantwortlich: »Uns fällt heute auf die Füße, daß nicht beherzigt wurde, was wir schon zu Beginn der Neunzigerjahre in Initiativen zur Demokratisierung der Ostschulen gefordert haben: die Systemträger unter den Lehrern zu entlassen.« Dagegen schlügen sich die kirchlichen und Privatschulen »recht wacker«. Der Landtagsabgeordnete Thomas Colditz, Bildungssprecher der CDU in Sachsen, ist da anderer Auffassung. Er warnt davor, die Ursache für die »DDR-Verklärung« allein den Schulen anzulasten. Er kennt die wahren Schuldigen: »Einem verniedlichten DDR-Bild in den Köpfen unserer Kinder geht meist ein Versagen im Elternhaus voraus.« Für diese Saumseligkeit der Eltern kennt wiederum General a. D. Jörg Schönbohm, der brandenburgische Innenminister, den wahren Grund. Zornig und enttäuscht beklagt er das Fehlen einer »ehrlichen Selbstreflexion auf das eigene Leben im Räderwerk einer gefährlich alltäglichen Gewohnheitsdiktatur«.

Knabe wiederum genügt eine »ehrliche Selbstreflexion« nicht. Dafür war die »Gewohnheitsdiktatur« zu gefährlich. Für ihn gibt es zwei entscheidende Ursachen für die »Verklärung der DDR«: zum einen »die mangelhafte Bestrafung der Täter« und zum anderen »ein fehlender Elitenaustausch nach der Wiedervereinigung«. Der Kommunistenfresser aus Unna will vergessen machen, daß die »Täter« Zehntausenden von Ermittlungsverfahren ausgesetzt wurden (die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht das gewünschte Ergebnis brachten) und daß von den circa zwei Millionen Hoch- und Fachschulabsolventen der DDR – rund 400.000 von ihnen befanden sich bereits in der Rente – in den Jahren nach der Anschlußvereinigung über eine Million aus dem Berufsleben ausgegrenzt und weitere Hunderttausende in soziale Unsicherheit oder in Tätigkeiten mit niedrigen Qualifikationsmerkmalen und Einkommen getrieben wurden.

Fassen wir zusammen: Schuld an der unkritischen, nostalgischen, verklärenden Haltung zum Unrechtsstaat DDR sind unter anderem fehlendes Demokratieverständnis und Untertanengeist der DDR-Bürger, die ostdeutschen Lehrer, die Eltern, die Folgen einer gefährlichen Gewohnheitsdiktatur, der angeblich fehlende Elitenaustausch, die mangelhaft bestraften Täter ... Doch halt, einer kommt den wahren Ursachen für die Haltung der Ostdeutschen zur DDR ziemlich nahe. Ausgerechnet Klaus Schroeder, der jeder Affinität zur DDR unverdächtige Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, meint, »daß sich eine Mehrheit der Ostdeutschen nicht mit dem heutigen gesellschaftspolitischen System identifiziert« und »noch immer Vorbehalte gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik hegt«. Zugleich konstatiert er: »Viele Ostdeutsche scheinen zu Beginn der Vereinigung nicht bedacht zu haben, daß materielles Wachstum und Wohlstand mit erheblichen Belastungen und Streß, auch mit Risiken und Niederlagen verknüpft sein kann und daß an die Stelle sozialer Sicherheit der Markt mit seinen Unwägbarkeiten tritt.«

Mit dieser Einschätzung liegt der SED-Staats-Forscher so falsch nicht. 1989/90 schwebte großen Teilen der Bevölkerung der DDR das Trugbild vor, künftig würden die Vorteile des Sozialismus mit den Vorzügen des Kapitalismus verbunden und die als Selbstverständlichkeiten betrachteten sozialen Errungenschaften der DDR fänden ihre wohltuende Ergänzung in den Vorteilen der bürgerlichen Demokratie und sozialen Marktwirtschaft. Das erwies sich bekanntlich als eine Illusion. Angekommen sind sie im Kapitalismus pur, im Raubtierkapitalismus. Das schärfte ihren Blick auf das Verlorene, auf die DDR, die sie nicht verklären, aber der sie mehrheitlich zum Ärger der Regierenden samt deren Eppelmanns und Knabes überwiegend »gute Seiten« zubilligen.

So stehen die DDR-Aufarbeiter nicht nur vor einem Rätsel, sondern auch vor einem Dilemma. Machen sie weiter wie bisher, reduzieren sie die DDR auf Mauer, Stacheldraht und Stasi, verunglimpfen und dämonisieren sie den einverleibten Staat, dann erreichen sie nur das Gegenteil. Schlagen sie die Propagandatrommel weniger laut und mäßigen sie ihre Hetze, dann gestehen sie nolens volens ein, daß sie bisher aus Furcht vor jeder gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus fälschten und logen. Sie werden sich, zumal im Jubeljahr, für fortgesetzte Hetze entscheiden und weiter rätseln, weshalb die Mehrheit der Ostdeutschen im Lügenfeldzug partout nicht mitmarschieren will.