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Titel1609

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Gern lasse ich mich immer wieder mal ins Hebbel am Ufer (kurz: HaU) verschlagen, wo oft ausländische Gruppen auftreten. Diesmal hat sich Inga Helfrich mit ihren sieben Mitspielerinnen das Thema »Die deutsche Mutter« vorgenommen. Das Ergebnis ihrer Studien präsentieren sie unter dem Titel »Your Nanny Hates You!« Am aufregendsten fand ich den Vortrag von Sonia Nazaro, Pulitzerpreis-Trägerin: Rund 48.000 lateinamerikanische Kinder reisen Jahr für Jahr allein und illegal in die USA ein, um ihre davongegangenen armen Mütter zu suchen, die als »Nanny« (Kinder- oder Putzfrau) arbeiten. Arbeitsemigration nennt man das. Dazu wurden über zehn Tage Filme gezeigt und Stücke gespielt, so »Daddy« von Travis Jeppesen und »Mütter. Väter. Kinder« von Sebastian Nübling, der seine und befreundete Familien in diesen »Dramen« mitspielen läßt. Besonders ein Vierjähriger spielt bravourös. Tortenessen kann zur Tragödie werden. Übliches Familienleben wird im besten Sinne »vorgeführt« – und man kann sich seinen Teil dazu denken. Manche können sich identifizieren. Ich gehöre freilich einer Familie an, deren sämtliche Angehörige vor zwei Generationen ausgelöscht worden sind, und kann es nicht. Aber ich kann mir vorstellen, wie problematisch diese Familienstrukturen sind und besonders die Stellung der »deutschen Mutter«. Mitunter zerreibt sich das Spiel in krampfhaft-schriller Tonlage. Ob der Frauensache damit ein guter Dienst erwiesen wird?

Jemand empfahl mir die »Kleine Nachtrevue« hinter der Kurfürstenstraße, da erführe ich etwas über Transen (Transsexuelle) in einer sogenannten Transenrevue. Man nennt die Bude auch »Theater der Enthüllung«. Zwei Frauen (Sylvia Schmid und Gabi Fleming mit dem Pianisten Sascha Mersch) produzieren sich nackt oder im Korsett mit zahlreichen Fetischen, dokumentieren, wie man (frau) sich mit Lust unterwirft oder unterwerfen sollte. Oder zur Domina gemacht wird. Manchem mag das gefallen, Kleinbürgerseelen mögen sich hier als Revoluzzer vorkommen. Ich fand es verstaubt und schlicht langweilig, dazu ohne jeden Witz. Der Frauensache ist damit nicht geholfen, eher dem Commerz. Solange sowas Erfolg hat, steht die Emanzipation still oder geht zurück.

Mir kam Plenzdorfs Geschichte von Paul und Paula in den Sinn, seinerzeit ein riesiger Bühnenerfolg, erst recht der Film von Heiner Carow 1973. Und wieder sind es Absolventen der Ernst-Busch-Hochschule wie Regisseurin Tilla Kratochvil und Puppenspielerin Rike Schubert, die als freie Schauspieltruppe Theaterkosmos 53 die Geschichte in die Schaubude in der Greifswalder Straße bringen, sogar in zwei Varianten, und ihren Erfolg mitnehmen. Paul und Paula haben die Chance, als berühmtes Liebespaar in die Geschichte der Literatur einzugehen.

René Marik ist ein exzellenter Puppenspieler von der Busch-Schule. Er läßt Puppen tanzen, einen Frosch, einen Eisbär, vor allem seinen Maulwurf, der Abbild wie Gegen-Entwurf des Publikums ist. Der sagt viele Wahrheiten ins dunkle Theatron des Admiralspalastes. So gut ist Marik in seiner Publikumsbeschimpfung, daß er innerhalb weniger Jahre von kleinen Quatsch-Clubs in den großen Show-Palast an der Friedrichstraße umsteigen und diesen füllen konnte, was erwiesenermaßen schwer ist.

Gleich wieder ins HaU. Gezeigt wird »mausoleum buffo« von Nicola Nord und Alexander Karschnia – in Anlehnung an Majakowskis »mysterium buffo«, ein Preislied der kommunistisch-revolutionären Entwicklung der 1920er Jahre in der Sowjetunion. Bei Nord und Karschnia geht es um die Folgen, die man philosophisch unpräzis Stalinismus nennt. Es ist der dritte Teil einer Trilogie, dem »little red« (Die kleine Rote) und »time republic« vorangehen. Die Gruppe der beiden heißt »andcompany & co«. Nicola Nord entstammt einer westdeutschen kommunistischen Familie, ist Film-, Medien- und Theaterwissenschaftlerin, hat über Heiner Müller promoviert und arbeitet nun als Regisseurin, meist in Amsterdam und New York. Sie thematisiert Sozialismus in seiner Vergangenheit, seinem vorläufigen Scheitern und seinen kommenden Möglichkeiten. Ihr Mitautor Karschnia erklärt: »Auf der Bühne bin ich Kommunist«, der sich in Sachen Kommunismus und Kunst an Brecht hält: »Versuchen wir das Unmögliche!«. Nord stimmt zu.

Von besonderem Rang ist die Gruppe »Rimini-Protokoll«, gegründet und geleitet von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die mit Unterstützung des Hebbel am Ufer Berlin und des Düsseldorfer Schauspielhauses arbeiten. Sie brachten schon rund 40 Stücke und etliche Hörspiele heraus. Eines ihrer wichtigsten ist »Radio Muezzin«, worin sie diese frommen Muslime und deren anachronistische Lebensart kritisch vorstellen. Ziemlich anders arbeitet diese Gruppe in ihrem Stück »Der Zauberlehrling«: Scheinbar kolportieren die Künstler Zauberkunststücke, machen aber letztlich mit aufklärerischer Schärfe irrwitzige Vorgänge der Weltpolitik deutlich: zum Beispiel wie Stanislaw Petrow, ein Sowjetoffizier, durch genauere Kontrollen einen Raketenangriff der USA als nichtig erkennt und die Welt vor einem Atomkrieg rettet. Oder wie Bush jun.’s Amerika seinen Krieg gegen den Irak mit falschen Nachrichten über irakische Vernichtungswaffen begründet. Am stärksten schließlich jene Hauptversammlung der Aktionäre des Daimler-Konzerns mit 8000 Teilnehmern, denen 200 geprobte »Zuschauer« beigesellt wurden. Zuschauen bringt Entlarvung, Hinterfragung, Kritik bis hin zu möglichem demokratischem Ankampf. Hier gewinnt man über bildhafte Assoziationen und historische Analyse Einsichten in den über gegenwärtig funktionierenden Kapitalismus, seine Institutionen, Parteien, Gerichte, Kirchen und Moscheen. Diese Gruppe muß man sich merken! Man muß sich ansehen, was sie erarbeitet haben.

Auf der freien Szene außerdem notiert: »Frauen hacken Holz«, eine sogenannte »lebendige Installation« von Dörte Olesen. Ja, selbst kluge Schwedinnen kommen auf derart dumme Gedanken. Was soll denn das, daß Frauen auf dem Berliner Alexanderplatz Holz sägen und hacken? Ein Stärkebeweis? Überflüssig! Nur ein langweiliger Spaß! Ich kam vorbei, sah es und hielt es für einen Ulk von Verrückten. Und das ist es dann wohl auch.

Ähnliches ist zu den drei Männern mit den blauen Kopf-Masken zu sagen, die sich »Blue Man Group« nennen. Sie spielen seit Jahrzehnten vor inzwischen fast zwei Millionen Zuschauern – das gilt als Erfolg. Große Teile des Publikums sind eben anspruchslos. Immerhin sind die drei Akteure rhythmisch begabt. Sie sagen nichts, dies aber glänzend.