erstellt mit easyCMS
Titel1610

Bemerkungen

Apostel Petraeus
Unter der Überschrift »Petraeus ruft zur tödlichen Hatz auf Taliban« wird der Oberbefehlshaber der NATO-Truppe für Afghanistan (ISAF), David Petraeus, in Spiegel online mit folgendem Aufruf an die amerikanischen Soldaten in Afghanistan zitiert: »Rammt Eure Zähne in ihr Fleisch und laßt nicht mehr los.« Da wächst der nächste Kandidat für den Friedensnobelpreis heran. Damit ist der Mordbefehl des US-Generals vom 1. August zwar nicht ganz korrekt übersetzt, aber richtig erläutert der Spiegel, was gemeint ist: »gezielte Tötungen … ohne Beweise, ohne Richter und ohne Urteil«. Petraeus fügte hinzu: »Sucht die Aufständischen und merzt sie aus!«

Da wächst wieder ein aussichtsreicher Kandidat für den Friedensnobelpreis heran.

Günter Krone


Die Linke – blaß geworden?
Mal angenommen, daß die in Allensbach betriebene Demoskopie tatsächlich dem Volk aufs Maul und ins Gemüt schaut: Die Partei Die Linke, so war von dort zu erfahren, verliert an Attraktion bei Menschen, die sich bisher etwas von ihr erhofft haben. Eine derartige Entfremdung muß sich nicht sofort auf Prozentzahlen bei Wahlen auswirken, schon deswegen nicht, will diese von der Wahlbeteiligung und vom Abschneiden der anderen Parteien abhängen. Kurioserweise jubeln deshalb Parteien über »Wahlsiege«, wenn sie prozentual ein bißchen zugelegt, aber an Stimmen, also an Vertrauen bei Bürgerinnen und Bürgern, deutlich verloren haben.

Die Partei Die Linke werde »blaß«, freuen sich die Konkurrenten und viele Kommentatoren – vielleicht müsse man sich auf mittlere Sicht mit den politischen Schmuddelkindern gar nicht mehr herumschlagen, möglicherweise würden in dieser Hinsicht ja auch noch sperrige Ossis einsichtig ...

Was steckt hinter diesem »Verblassen« der linken Partei? Nehmen WählerInnen ihr etwa übel, daß sie nicht schnell genug überall mitregiert? Müßte sie sich also eifriger zeigen in dem Bemühen, sich bei den Sozialdemokraten und Grünen anzudienen und nicht anzuecken? Sollte sie sich noch mehr zurückhalten in der Kritik an den Wirtschaftsherren?

Das kann es nicht sein, was zu dem Eindruck von Blässe führt, denn gleichzeitig, nicht nur in Allensbach weiß man es, wächst Unmut über den Substanzverlust des Regierungs- und Koalitionsgeschäfts, über dessen Entfernung von den bedrückenden sozialen Problemen, über die Willfährigkeit der Politik gegenüber dem großen Geld. Es mache keinen Sinn mehr, Parteien zu wählen, meinen immer mehr Wahlberechtigte, und sie schließen die Linkspartei in dieses Urteil ein. Als blaß erscheint diese nicht, weil sie hier und da noch zögert, im üblichen Politikbetrieb »anzukommen«, sondern weil sie zu sehr schon darin agiert. Es gibt eben MitbürgerInnen, die unter »Demokratiefähigkeit« etwas anderes verstehen als Einpassung in politische Gewohnheiten, wofür Wissenschaftler, damit niemand einen Schrecken bekommt, das Wort »postdemokratisch« erfunden haben.
Marja Winken


Das Übliche
Genüßlich berichteten die Medien über die Kumulation von Einkünften beim Bundesvorsitzenden der Partei Die Linke: l7.050 Euro pro Monat, weil er neben den MdB-Diäten und der Kostenpauschale für seine Abgeordnetentätigkeit auch noch Gelder als Parteichef und für seine frühere Rolle als stellvertretender Fraktionsvorsitzender erhält. Sprecher der Linkspartei wehrten Kritik an Klaus Ernst ab: Solche Besoldungen seien rechtmäßig und bei allen Parteien üblich. Das wird wohl so sein. Aber verblüfft nehmen wir zur Kenntnis: Die Partei Die Linke will, daß es bei ihr »üblich« zugeht, so eben, wie es die anderen Parteien auch halten.
M.W.


Recht auf politischen Streik

In Frankfurt am Main gibt es seit April dieses Jahres eine neue wissenschaftliche Einrichtung, das Hugo-Sinzheimer-Institut, dank der Hilfe der Otto-Brenner-Stiftung, die dafür zu loben ist. Sinzheimer (1875–1945) gilt als »Vater der Arbeitsrechtslehre«, er war in der Weimarer Republik Rechtsberater des Deutschen Metallarbeiter Verbandes und Gründer der »Akademie der Arbeit«; das NS-Regime trieb ihn ins Exil.

Über die Lebensverhältnisse der Menschen, die auf abhängige Arbeit angewiesen sind, wird immer auch im Kampf um Rechtspositionen entschieden, die Auseinandersetzung der sozialen Klassen findet auch im juristischen Terrain statt. In der Alt-Bundesrepublik war es vor allem Wolfgang Abendroth, der dies bewußt gemacht hat. Gegenwärtig sind viele arbeitsrechtliche Normen in der Bundesrepublik den Veränderungen in der Welt der Arbeit nicht mehr angemessen. Neugestaltungen in dieser Rechtssphäre stehen an. Es wird nicht zuletzt von den Gewerkschaften abhängen, welche gesellschaftlichen Interessen sich dabei durchsetzen.

Zur Eröffnung des Hugo-Sinzheimer-Instituts hielt der Rechtswissenschaftler Manfred Weiss einen Vortrag, der jetzt in der Zeitschrift Arbeit und Recht publiziert ist (Heft 7–8/10). Im trockenen Fachvolkabular finden sich darin inhaltlich hochinteressante Hinweise. So dieser:
Wieso eigentlich herrscht in der Bundesrepublik die Vorstellung, Streik sei nur zur Durchsetzung von Tarifverträgen erlaubt, nicht aber als Mittel, um politisch Druck zu machen? Andere europäische Länder kennen diese Einengung des Streikrechts nicht, sie widerspricht auch internationalen Verträgen über soziale Rechte, die von der Bundesrepublik ratifiziert sind.

Höchste Zeit also, daß die deutschen Gewerkschaften das Recht auf politischen Streik einfordern.
Arno Klönne


Die Burg des Generalgouverneurs
In der Uniform eines italienischen Hauptmanns war der Journalist Curzio Malaparte 1942 als Kriegsberichterstatter des Corriere della Sera auf der Krakauer Burg zu Gast bei dem dort residierenden deutschen »Generalgouverneur« Hans Frank. In seinem zwei Jahre später im befreiten Neapel veröffentlichten romanhaften Buch »Kaputt« berichtete er, sein Gastgeber habe während des Essens gesagt: »Wissen Sie, was die Polen von uns denken? Daß wir ein Volk von Barbaren sind.« – »Und Sie fühlen sich gekränkt?« – »Wir sind ein Volk von Herren, nicht von Barbaren. Wir sind ein Herrenvolk. Mein einziger Ehrgeiz ist, das polnische Volk zur Höhe europäischer Zivilisation zu heben ...«

Frank und seine Frau Brigitte – das zeigt uns Dieter Schenk in seinem Bildband »Krakauer Burg« – stilisierten sich zum Königspaar. Sie ließen die Burg über der Weichsel für ihre Zwecke umbauen und entfalteten solchen Prunk, wie es außer Göring kaum ein anderer Nazi-Bonze gewagt hätte. Zu dieser Inszenierung gehörten auch Einladungen an namhafte deutsche Künstler und Gelehrte wie Werner Heisenberg, Hans Pfitzner, Heinrich George, Paul Hörbiger; und stolz teilte Frank seinem italienischen Gast mit, daß auch Furtwängler und Karajan kommen würden, um eine Reihe von Konzerten zu leiten.

Der »Generalgouverneur«, der angeblich die Polen auf die Höhe der europäischen Zivilisation heben wollte, ließ das Land ausplündern, um sich mit wertvollen Kunstwerken umgeben zu können. Anfang 1945 flüchtete er dann mit Lastwagen, die unter anderem mit Gemälden von Leonardo da Vinci, Rembrandt, Rubens, Cranach d. Ä. und Dürer beladen waren. Millionen Polen waren unter seiner Herrschaft umgesiedelt (worauf Erika Steinbach ungern zu sprechen kommt), große Teile der polnischen Intelligenz ermordet worden. Nach einem »Siegfrieden«, wie Frank ihn sich vorstellte, hätte Weichselland »deutsch wie das Rheinland« werden sollen. »Mit den Juden«, das hatte er schon 1941 »ganz offen« gesagt, »muß so oder so Schluß gemacht werden«.

Wie Polen unter deutsche Fremdherrschaft gezwungen und gedemütigt wurde, macht Schenk, der vorher schon mit Biographien über Frank und über den Danziger Gauleiter Albert Forster hervorgetreten ist, in diesem Bildband beklemmend anschaulich. Daß er auf jedes Bild vom wenige Kilometer weichsel-aufwärts gelegenen KZ Auschwitz verzichtet, ist wohl aus der topographischen Beschränkung auf Krakau und seine Burg, den Wawel, zu verstehen – und dennoch befremdet es, denn andererseits nimmt er ein großes Foto aus den 1960er Jahren mit der Unterschrift »Das gewaltige Stahlwerk von Nova Huta verpestete die Umwelt in der Region Krakau« in sein Buch auf. Über Kommunisten und über das, was sie im Widerstand und beim Wiederaufbau geleistet haben, findet man bei ihm kein gutes Wort. Das entspricht heutiger polnischer wie deutscher Staatsdoktrin. Ich sehe darin ein Manko dieses vorzüglichen Buches.
Barbara Borretsch

Dieter Schenk: »Krakauer Burg – Die Machtzentrale des Generalgouverneurs Hans Frank 1939–1945«, Ch. Links Verlag, 206 Seiten, 49,90 €



Walter Kaufmanns Lektüre
Sayrafiezadeh – wahrlich, es ist ein Kreuz mit einem solchen Nachnamen, den keiner aussprechen kann und der jedem fremd ist, selbst in New York, dem Schmelztiegel der Nationen. Die dreizehn Buchstaben zwingen dem kleinen Said Verhaltensmuster auf, die seinem Wesen widersprechen. Er zieht sich zurück. Schon früh wird das freundliche, aufgeschlossene Kind zum stillen Beobachter, lernt genau hinzusehen, zu beurteilen, einzuschätzen – seine Mitschüler, seine Lehrer –, und er schließt sich nur dort an, wo er Freunde zu finden glaubt. Das beschert ihm etliche Enttäuschungen. Als es gar zu hart kommt, sieht er zu, daß er in eine andere Schule versetzt wird, in ein neues Umfeld gelangt, auch wenn es ein schwarzes ist. Hier ist er weitaus weniger Behelligungen ausgesetzt, und sein komplizierter Name wird einfach abgekürzt – basta!

Auffallen wird er erst wieder, als er bei einer erregten Diskussion über die Geiselnahme amerikanischer Staatsbürger im Iran mit revolutionären Phrasen aufwartet, die er von seinem Vater hat. Oh, dieser Vater! Der kleine Said wie auch der heranwachsende wird den Vater genau beobachten, es schleicht sich allmählich eine ironische Distanz zu dessen Tun und Lassen ein und zu den Träumen von der Weltrevolution mitten im kapitalistischen Amerika. Als Mitglieder einer Zelle der Sozialistischen Arbeiterpartei bleiben der Vater und die Mutter unermüdlich auf dieses Ziel ausgerichtet, keine Versammlung lassen sie aus, keine Kundgebung. Vor Fabriktoren verteilen sie Flugblätter, und von Haus zu Haus ziehen sie mit ihrer Zeitung The Militant, die sich der Sache der Arbeiter annimmt, von Streiks berichtet, von Lohnkämpfen und Zusammenstößen mit der Polizei und den Bütteln der Bosse.

Obwohl der Vater wieder und wieder wegen »dringlicher Einsätze« seine Versprechen an den Sohn bricht, er sich sogar über lange Zeit nach Iran absetzt, hört Said nicht auf, den Vater zu lieben. Auch die Mutter liebt er unvermindert, die wegen all ihrer Parteiarbeit, die sie sich neben der häuslichen und der beruflichen aufbürdet, total überfordert ist. Ja, er liebt die Eltern – den meist abtrünnigen Vater und die Mutter, die sich für den Haushalt und die Weltrevolution aufreibt, bis sie nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Herangereift zum jungen Mann, der gelernt hat, für sich selbst zu sorgen, geht er zunehmend die eigenen Wege. Und doch – gerade aus der Sicht des erwachsenen, von der Familie losgelösten Said Sayrafiezadeh gelingt ein einfühlsames Portrait einer jüdischen Mutter, die sich nach langen Jahren schweren Herzens von der Partei trennt, um zu sich selbst zu finden und ihre ersten schriftstellerischen Versuche zu wagen. Ein Weg, wie sich zeigt, in die Einsamkeit.

Dieses Buch, als Roman angekündigt, ist eine literarisch aufbereitete Autobiographie, deren deutscher Titel »Eis essen mit Che« irreführend ist, denn Che kommt in keiner Weise vor. Gut zu lesen jedoch ist das Buch allemal und höchst unterhaltsam dazu.
W. K.

Said Sayrafiezadeh: »Eis essen mit Che«, Aufbau Verlag, 267 S., 19.95 €



Prinz in zerrissenen Kleidern
Ein Mädchen in rosafarbenem Kleid-chen sieht einen Jungen in zerrissenen Hosen auf einem Bordstein sitzen. Er blickt auf. Sie löst sich vom Arm der Mutter, geht zu ihm, hält ihm eine Tüte voller Bonbons hin. Er nimmt die ganze Tüte und schiebt sie unter sein Hemd. Zufrieden läuft sie zur Mutter zurück.

Später sagt ihm seine Mutter: »Wie siehst Du nur wieder aus.« Und: »Was ißt Du denn da?« Und, nachdem er es ihr erklärt hat: »Wahrscheinlich hielt sie Dich für einen dahergelaufenen Betteljungen.«

»Nein«, sagt er mit Bestimmtheit.

»Ich war der Prinz.«

Jetzt ist Walter Kaufmann hoch über 80 und erzählt uns in seinem neuen Buch von vielen Frauen, die ihm später ihre Gunst geschenkt haben – so vielen, daß wir nur schwer den Überblick behalten. Man gönnt jeder von ihnen – fast jeder – ihr Glück mit dem Prinzen, und man gönnt ihm – gerade wenn seine Kleidung mal wieder zerrissen ist – sein Glück mit ihnen. Man hofft nur immer, daß es ihm gelingt, keine zu kränken.

Kaufmann, im Berliner Scheunenviertel geboren, verbrachte seine Kinderjahre in Duisburg, wo ihn ein wohlhabendes Ehepaar adoptiert hatte. Die (Adoptiv-)Eltern wurden schikaniert, enteignet, nach Theresienstadt deportiert, in Auschwitz ermordet. Er selbst gelangte mit dem letzten Hilfstransport für jüdische Kinder nach England, wurde im Krieg als Deutscher nach Australien verbannt, versuchte sich in etlichen Berufen, trat der Kommunistischen Partei bei, wurde Soldat, fuhr zur See und ging später in die DDR.

In Duisburg wäre er damals nicht wieder heimisch geworden: Da war, wie er feststellen mußte »keiner aus dem Schatten der Vergangenheit getreten, der Anwalt nicht, der die Praxis meines Vaters übernommen hatte und dem Vater absprach, ein Deutscher zu sein, ›denn das war ja wohl auch eine Rassenfrage‹, und auch Studienrat Talbert nicht, der unter der Bedrohung seines Kollegen Walzer litt: ›Hüten Sie sich, es kommt wieder anders, und dann geht’s auch Ihnen an den Kragen.‹«

Und schon gar nicht Frau Franz, »die Mutter von Fritz, mit dem ich als Junge Blutsbrüderschaft geschlossen hatte. Die Frau hatte mich angestarrt, als sei ich einem Grab entstiegen: ›Daß Du noch lebst ...‹ Am Ende hatte auch sie beteuert, von nichts gewußt zu haben. – Ach, sie hatten alle nichts gewußt.« Aber waren denn die Schrecken von Auschwitz nicht schon in den Anfängen zu erkennen gewesen, im Gegröle der Nazis in den Straßen, den Verhaftungen im Morgengrauen, den Hetztiraden im Radio, den zertrümmerten Läden und Häusern und den brennenden Synagogen?

»Als ich dann Frau Franz bedauern hörte, den Molls beim Kauf des Elternhauses nicht zuvorgekommen zu sein, und sie dabei von einer ›Abreise‹ der Eltern sprach, hatte ich nichts dringlicher gewollt, als den nächsten Zug zu erreichen, der mich forttragen würde aus dieser Stadt« – hinüber in die DDR, wo viele jüdische Schriftsteller Aufnahme und soziale Sicherheit fanden und auf eine sozialistische Zukunft hofften.

Daß er auch dort in Konflikte geriet, aber ganz andere, verschweigt er nicht. Doch er wäre sicher nicht Generalsekretär des PEN in der DDR geworden, wenn er nicht verdientermaßen viel Unterstützung erhalten hätte.

Teilweise ältere Texte verwendend hält der sprachgewandte Autor – nach den australischen Jahren mußte er erst wieder Deutsch lernen – freimütig Rückschau auf sein Leben und schildert damit seine Zeit bis ins Jahr 2010. En passant liefert er geschliffene, glänzende Porträts von Zeitgenossen, zum Beispiel von Heiner Müller und Manfred Krug.

Sicher hat er noch viel zu erzählen. Demnächst wieder in Ossietzky.
Evelyn Enzian

Walter Kaufmann: »Im Fluß der Zeit«, Dittrich-Verlag, 293 Seiten, 19,80 €



Peter Martin Lampel
»Revolte im Erziehungshaus« hieß ein Drama, das Ende der 1920er Jahre heftige Auseinandersetzungen hervorrief, ähnlich wie der Film »Im Westen nichts Neues«. Das System der Fürsorgeerziehung deutsch-nationalen Geistes wurde darin radikal kritisiert. Autor war der Schriftsteller und Maler Peter Martin Lampel (1894–1965), der sich vom jungen Fliegeroffizier und Freikorpsmann zu einem linkskulturellen Enfant terrible gewandelt hatte.

Mit dem Roman »Verratene Jungen« und dem Theaterstück »Giftgas über Berlin« stellte er völkische Femesitten und geheime Träume der Reichswehr bloß und mußte 1936 ins Exil flüchten. 1949 kam er zurück, siedelte sich in Hamburg an, publizierte wieder, fand aber im westdeutschen Literaturbetrieb kaum noch Beachtung.

Dazu wird beigetragen haben, daß er politisch aus der Reihe tanzte; er engagierte sich unter anderem im »Kulturbund«, der in der Adenauer-Republik als kommunistisch und staatsgefährdend galt. Erschwerend kam hinzu, daß Lampel schon vor 1933 gegen die Hatz auf Homosexuelle aufgetreten war. Um dieses Thema geht es auch in seinem Schauspiel »Pennäler« (zuerst 1929), das jetzt ein kleiner Verlag aus der Vergessenheit geholt hat, zu lesen als ein ganz anderer Beitrag zur aktuellen Diskussion über Pädagogik und Sexualität.
Peter Söhren

Peter Martin Lampel: »Pennäler. Schauspiel«, Achims Verlag (Im Ährenfeld 34, 34295 Edermünde), 180 Seiten, 12 €



»Wilde Gesellen« und ihre Lieder
Historische Jugendkulturen hatten ihre regionalen Besonderheiten. Im Rheinland und auch im Ruhrgebiet war die jugendbewegte Szene zur Zeit der Weimarer Republik bunter und lockerer als in anderen Gegenden, nicht so sehr auf die einzelnen Verbände fixiert, stark verankert im Milieu der Arbeiterbevölkerung. »Wilde Gesellen« gaben hier den Ton an, und in den Jahren des »Dritten Reiches« konnten sie sich gegen den Machtanspruch der Hitler-Jugend gut behaupten, trotz Verbot und Verfolgung. Über diese illegalen jugendlichen Gruppen, die sich als »bündische Jugend« verstanden, liegt nun für das Rheinland erstmals eine materialreiche und anschauliche Dokumentation vor; sie steht im Zusammenhang mit den »Edelweißpiraten-Festivals«, die seit 2005 jedes Jahr in Köln stattfinden. Berichte von Zeitzeugen, eindrucksvolle historische Fotos und viele Lieder vermitteln ein lebendiges Bild nonkonformer Jugend unter dem NS-Regime. Bemerkenswert der hohe Anteil von Mädchen und jungen Frauen an dieser Szene. Große Bedeutung für die illegalen Gruppen hatte ihr musikalischer Stil, die eigenen, dem HJ-Gesang sich widersetzenden Lieder: Überlieferungen aus der Jugendbewegung vor 1933, aber auch Umdichtungen und Neuschöpfungen, durchweg jugendromantisch, exotisch, Gemeinsamkeit unter den Verfemten stiftend. Die NS-Staatsorgane werteten diese Lieder als »zersetzend«, als Indizien für »verbotene bündische Bestätigung«. Auch Texte, die heute völlig harmlos anmuten, galten im »Dritten Reich« als staatsgefährdend. Das ist plausibel, denn diese Jugendkultur stand im Gegensatz zur kriegsverwendbaren »Wehrfreude«, die der NS-Staat anerziehen wollte.

Auf einer beigegebenen CD singen damals Beteiligte noch einmal die Lieder ihrer Jugend und erzählen aus jener Zeit.

Das Buch eignet sich vorzüglich für den Unterricht und die Jugendarbeit; hier ist Geschichte so dokumentiert, daß nicht nur Fachleute etwas davon haben.
Arno Klönne

Doris Werheid / Jörg Seyffarth / Jan Krauthäuser: »Gefährliche Lieder. Lieder und Geschichten der unangepaßten Jugend im Rheinland 1933–1945«, Emons Verlag, 192 Seiten, CD-Beilage, 19.95 €


Mit sparsamstem Strich
In der Galerie Leo.Coppi, Berlin, Auguststraße 83, liegt bis zum 11. September das Kunstbüchlein »Mein Lebenslauf« von Arno Mohr zum Verkauf aus, und noch ehe man zu den numerierten Seiten gelangt, fasziniert einen die mit wenigen Strichen, scheinbar flüchtig, dahingeworfene Zeichnung einer Eule, die zwei Eulenkindern aus einem Buch mit dem Titel »Die Maus« vorliest. Die beiden lauschen andächtig, wobei ihr wacher Blick auf das Mäuschen auf dem Rücken des Buches gerichtet bleibt. Und gerade dieses Mäuschen bringt alles auf den Punkt. Mit sicherem Strich so ein Tierchen zum Leben erweckt zu haben, beweist Arno Mohrs Kunst.

Mit dem Mäuschen ist man vorbereitet auf das, was kommt: ein Baby, Mohr selbst im Jahre 1910, der, bewundert von zwei Frauen, aus einem Kinderwagen lugt; dann den Knirps im Matrosenanzug beim ersten Schulweg; den Jungen beim Klavierspiel und zu Pferde; bei W. Ladewig & Co. tritt dieser Junge eine Lehre als Schildermaler an; schließlich: sein erster Malversuch. Ein bebilderter Lebenslauf, der durch die Jahre und aus dem Schützengraben in den Frieden führt, von der Familiengründung zum Familienausflug, auf Reisen nach Moskau und Paris. Und alles mit sparsamstem Strich – auch die Selbstbildnisse in München, beim Spaziergang, in der Druckerei, am Arbeitsplatz.

»Ähnlich, ähnlicher, am ähnlichsten finde ich mich immer von hinten«, schreibt Arno Mohr, dessen 100. Geburtstag am 28. Juli dieses Jahres zu feiern war und mit jedem Besuch der Galerie Leo.Coppi und jedem Durchblättern von »Mein Lebenslauf« neu zu feiern bleibt.
Walter Kaufmann

Arno Mohr: »Mein Lebenslauf«, Eulenspiegel Verlag, 96 Seiten, 19,95 €



Schöpferische Pause
Im Ossietzky-Heft 14-15/2016 (»Heinz Tietjen – ein deutsches Heldenleben«) habe ich darüber berichtet, daß im Frühherbst 2010 im Siedler Verlag München Micha Asters Geschichte der Staatsoper unter den Linden im 20. Jahrhundert erscheinen soll, gedacht als Beitrag zur Eröffnung der Staatsoper im Schillertheater am 3. Oktober. Dieser Tage teilte der Verlag mit, das Erscheinen verschiebe sich voraussichtlich auf Januar 2011. Dieser Entschluß, sich mehr Zeit zu nehmen, ist zu begrüßen. Sicherlich wird Aster nicht den Fehler der Autoren von »Apollos Tempel in Berlin« (Prestel Verlag 2008) wiederholen und sich mit den Lücken abfinden, die durch die Zerstörung des Archivs der Staatsoper im Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Wesentliche Quellen haben Hannes Heer und Boris von Haken, die Autoren des besprochenen Aufsatzes über Heinz Tietjen, bereits erschlossen. Es ist fast alles da, man muß es nur suchen.
Sigurd Schulze


Neuland: die Gähn-Forschung
Wieder ist die Wissenschaft einem Welträtsel auf der Spur! Was viele Generationen quälte, drängt unaufhaltsam nach einer Lösung!

Wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Der Spiegel und weitere Periodika berichten, trafen sich Soziologen, Biologen, Neurologen, Psychologen, Kardiologen und weitere Logen im Juni 2010 in Paris zur Ersten Internationalen Gähnkonferenz. Die Tagung über das Gähnen mußte allerdings, wie Der Spiegel beklagt, ohne Pharma-Sponsoren und das übliche Kongreß-Catering auskommen, aber der repräsentative Tagungsort, das Pariser Amphitheâtre Charcot, glich diesen Mangel ein wenig aus. Es wurde allerhöchste Zeit, einem weltweiten Phänomen den Kampf anzusagen, denn die Menschheit wird nicht nur von Kriegen, verölten Meeren, Klima-Katastrophen und Fußball-Weltmeisterschaften bedroht, sondern auch von der Sucht, unkontrolliert das Maul aufzureißen. Wozu das führen kann, hat der inzwischen überwundene Bundespräsident gerade mal wieder gezeigt.
Haaap – Pardon. Das war übrigens das »spontane Gähnen«, das uns »aus dem Nichts heraus« ankommt (FAS vom 20.6.10, Wissenschaft, Seite 53) – im Gegensatz zum »sozialen Gähnen«, das den homo sapiens befällt, wenn er andere Exemplare seiner Gattung beobachtet respektive ihnen zuhört. Es gibt aber offenbar mindestens noch ein drittes: Wissenschaftlich ist nämlich ebenfalls belegt, daß Föten bereits in der 14. Lebenswoche gähnen, obwohl sie in dieser pränatalen Phase noch nicht mit Parlamentsreden konfrontiert sein können.

In einigen Erkenntnissen stimmt die Creme der internationalen Chasmologen bereits weitgähnend überein: Die Dauer des Gähnvorgangs beträgt druchschnittlich sechs Sekunden, und die Ausdehnung der Mundöffnung beträgt vier Zentimeter. Heureka! Haaap – Pardon! Das dürfte jetzt bei mir etwas über vier Zentimetern gelegen haben.

Bei der permanenten Protokollierung der Gähnvorgänge von Testpersonen sollen selbst einige Wissenschaftler eingeschlafen sein. Einer liegt im Koma und wird künstlich ernährt und begähnt.

Haaap – Pardon. Ich komme zu weit vom Thema ab. Die Untersuchungen laufen weltweit. In Roms U-Bahnen beobachteten Wissenschaftler Gähner und vermerkten deren Geschlecht. Und siehe: Sowohl Frauen als auch Männer rissen ihren Mund auf und entgingen nur mit Selbstbeherrschung der Gefahr einer Kiefersperre. Auch interessant: Sportler, etwa Mittelstreckler oder Radrennfahrer, gähnten vor dem Startschuß. Damit erhält die aus einem Abenteuerroman zitierte Textstelle »Vor ihm gähnte der Abgrund, hinter ihm der Verfolger« eine völlig neue Dimension.

Amerikanische Gähnologen wie Prof. Gallup vertreten die These, Gähnen kühle das Gehirn. Wenn das so ist, verdient es Förderung durch die öffentliche Hand. Andere meinen, man solle sich bei einem drohenden Mundaufriß flugs Kühlpads gegen die Stirn pressen. Nach wie vor umstritten sind die Thesen des indischen Internisten Ponniak Thirumalaikolundusubramianian – Sie werden sicher schon von dem Mann gehört haben. Am besten, sie lesen selbst noch mal im Spiegel nach.

Haaap – Pardon. Ich muß erst mal kurz abspannen. Hoffentlich erfährt man noch mehr über die Konferenzergebnisse und überwindet die noch immer bestehende gähnende Leere. Ich bin gespannt.
Wolfgang Helfritsch


Offizielle Erklärung

Nach einem offiziellen Treffen offizieller Persönlichkeiten sollte ein Kommuniqué herausgegeben werden, für das folgender Satz vorgeschlagen wurde: »Die Verhandlungen fanden in einer herzlichen Atmosphäre statt.« Einige Teilnehmer, denen die Atomsphäre nicht ausgesprochen herzlich vorgekommen war, schlugen vor: »Die Verhandlungen fanden in einer sachlichen Atmosphäre statt.« Ein zufällig in die Angelegenheit verwickelter Meteorologe gab zu bedenken, daß es keine sachlichen Atmo-sphären gibt. So begannen nach den eigentlichen Verhandlungen, an deren Gegenstand sich niemand mehr genau erinnern konnte außer dem Kellner, der bei diesen Verhandlungen die Teilnehmer mit Getränken versorgt hatte, aber nach Beendigung der Verhandlungen wegen sogenannter Machenschaften mit unbekanntem Ziel verreist war, erstens die kriminalpolizeiliche Suche nach dem Aufenthaltsort des dubiosen Kellners und zweitens die Verhandlungen über den Text des Kommuniqués. Nach neun Monaten wurde folgender Text zur Welt gebracht: »Die Verhandlungen fanden in einer Atmosphäre statt.«
Felix Mantel