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Titel1615

Die Schlussstrichlüge  (Conrad Taler)

Am 19. August jährt sich die Urteilsverkündung im Auschwitz-Prozess zum 50. Mal. Es hat lange gedauert, bis einige Beteiligte an den Auschwitz-Verbrechen 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht gestellt wurden. Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und im Beisein ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern, keine Monster mit blutunterlaufenen Augen. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte, Menschen wie du und ich. Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte.


Über den Tag der Urteilsverkündung schrieb ich: Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Stadt wälzt sich der Verkehr, Autos stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, auf dem Schulhof nebenan lärmen Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist. Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der ehemalige Gestapomann Wilhelm Boger, der »schwarze Tod« von Auschwitz, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 20 Angeklagten: Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch – das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses.


Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein menschliches Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage. 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18.000 Seiten.


Das Echo ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen: Den einen waren die Strafen zu gering, andere hielten sie für gerecht. Aber selbst wenn alle Angeklagten die höchste damals denkbare Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz letztlich ungesühnt. Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.

Worte und Taten
Resigniert bemerkte Fritz Bauer nach dem Auschwitz-Prozess, die von ihm angestrebte Aufklärung habe nicht stattgefunden. Die »unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens«, die er bei den Angeklagten beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen. 1983 appellierte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. 1986 fragte der Historiker Ernst Nolte, ob der »Archipel Gulag«, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht »ursprünglicher als Auschwitz« gewesen sei. 1998 wandte sich der Schriftsteller Martin Walser dagegen, Auschwitz als »Moralkeule« zu benutzen.


1999 rechtfertigte der grüne Außenminister Joseph Fischer die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur »Nie wieder Krieg«, sondern auch »Nie wieder Auschwitz« gelernt, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen. 2006, also vor seiner Zeit als Bundespräsident, bezeichnete Joachim Gauck den Massenmord an den Juden als rational einzuordnendes Phänomen der modernen Zivilisation. Neun Jahre später sagte derselbe Joachim Gauck, es gebe keine deutsche Identität ohne Auschwitz, und am 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus verkündete der Historiker Heinrich August Winkler im Bundestag ganz im Sinne Alfred Dreggers, die Deutschen dürften sich »durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen«.


Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt. Die nach der deutschen Vereinigung erhobene Forderung von Jürgen Habermas, die »klammheimlichen Phantasien von der neu-alten europäischen Großmacht Deutschland« sollten endlich öffentlich diskutiert werden, wird heute nur noch milde belächelt. Entgegen allen Beteuerungen, dass es einen Schlussstrich unter die Vergangenheit niemals geben werde, dominiert das Schlussstrichdenken längst die politische Wirklichkeit. Den Weg dahin haben die westlichen Alliierten geebnet. Sie brauchten die Deutschen, die eben noch für Hitler geschwärmt hatten, als Verbündete im Kampf gegen den ehemaligen Kriegsverbündeten im Osten, begnadigten vorzeitig verurteilte Naziverbrecher und ließen die ursprünglich für notwendig gehaltene Entnazifizierung zur Farce verkommen.


Die offiziellen Gedenkrituale, die den Opfern der Nazityrannei gewidmet sind, den deutschen Widerstand gegen Hitler wegen des hohen Anteils der Kommunisten aber ausklammern, haben mit der politischen Wirklichkeit nichts zu tun. Der Welt wird nach dem deutschen Wirtschaftswunder ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder präsentiert, stünden da nicht die prophetischen Worte des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi im Raum: »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.« Mit dem Auschwitz-Prozess wollte Fritz Bauer dem Vergessen einen Riegel vorschieben. Wenige Wochen nach Beginn der Hauptverhandlung mahnte er: »Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.« Für Alfred Dregger war das »törichtes Gerede«.

Der Beitrag beruht auf Ausführungen aus der im PapyRossa Verlag erschienenen aktualisierten und erweiterten Neuauflage des Buches von Conrad Taler »Asche auf vereisten Wegen. Berichte vom Auschwitz-Prozess« (171 Seiten, 13,90 €).