erstellt mit easyCMS
Titel1618

Extremismustheoretisch fehlgeleitet  (Renate Hennecke)

Vor dem Haupteingang des Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) in München-Moosach erinnert ein Denkmal an neun Menschen, die vor zwei Jahren, am 22. Juli 2016, hier starben: Armela Segashi, geboren 2002; Can Leyla, geboren 2001; Chousein Daitzik, geboren 1998; Dijamant Zabergja, geboren 1995; Giuliano Josef Kollmann, geboren 1997; Janos Roberto Rafael, geboren 2001; Sabine Sulaj, geboren 2001; Selcuk Kilic, geboren 2001, Sevda Dag, geboren 1971. Wie die Daten zeigen, waren mit einer Ausnahme alle sehr jung. Sieben stammten aus Einwandererfamilien, zwei waren Münchner Sinti. Getötet wurden sie von dem damals 18-jährigen Deutsch-Iraner David Sonboly, der außerdem fünf weitere Menschen durch Schüsse schwer verletzte und später Selbstmord beging.

 

Eine Inschrift an dem Denkmal besagt, dass die neun einem Amoklauf zum Opfer gefallen seien. Es ist jedoch strittig, ob es ein Amoklauf war, die unpolitische Tat eines psychisch gestörten Jugendlichen, der sich für erlittene Demütigungen rächen wollte. Vieles spricht dafür, vieles andere lässt auf ein politisch motiviertes Verbrechen schließen. Man habe sich entscheiden müssen, sagen die bayerischen Sicherheitsbehörden. Es sei darauf angekommen, was im Vordergrund stand, und das seien die privaten Rachegefühle gewesen und nicht die rassistischen und nazistischen Einstellungen des Todesschützen.

 

 

Drei Gutachten im Auftrag der Stadt München

Die betroffenen Familien wollten genau wissen, warum ihre Liebsten gestorben waren. Sie fanden Unterstützung bei städtischen Stellen. 2017 beauftragte die Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München drei Wissenschaftler mit der Erstellung von Gutachten zu Hintergründen und Folgen des neunfachen Mordes beim OEZ. Keiner von ihnen leugnete, dass David Sonboly während seiner Schulzeit von Mitschülern gemobbt worden und dass er in psychiatrischer Behandlung gewesen war. Keiner ignorierte die Ausrufe des 18-Jährigen während seiner Attacken. Als er schoss, rief er Sätze wie: »Ihr seid selber schuld. Ihr habt mich gemobbt« oder »Wegen euch habe ich sieben Jahre hier in Deutschland gelitten«.

 

Die Gutachter sahen jedoch übereinstimmend keinen Grund, warum nicht gleichzeitig eine politische Motivation eine Rolle gespielt haben soll und warum es überhaupt notwendig sein soll, im Nachhinein eine Hauptmotivation festzulegen und die Tat nur noch nach einer Seite einzuordnen. Unstrittig hatte S. rassistische und faschistische Auffassungen, unstrittig sympathisierte er mit der AfD. Auch war er stolz, an demselben Tag Geburtstag zu haben wie Adolf Hitler. Aufgrund seiner iranischen Abstammung betrachtete er sich als »Arier« (Selbstbezeichnung eines Volkes, das im Altertum in der Gegend des heutigen Iran siedelte) und verachtete »Ausländer« als »Untermenschen« und »Kakerlaken«, die er »auslöschen« wollte. Ein wichtiger Punkt für alle drei Gutachter ist, neben der Auswahl der Opfer, der Fakt, dass Sonboly den norwegischen Neonazi Anders Breivik als Vorbild verehrte und seine Tat für den fünften Jahrestag von dessen Massaker in Oslo und auf der Insel Utoya plante.

 

 

Die Polizei missachtet ihr eigenes System

Die Weigerung der bayerischen Behörden, das OEZ-Attentat – auch – als politisches Verbrechen einzuordnen, ist besonders fragwürdig, weil – wie alle drei Gutachter feststellen – die Kriterien, die das seit 2001 von der Polizei angewendete System der »Politisch Motivierten Kriminalität« (PMK) für die Einordnung als solche fordert, unzweifelhaft gegeben sind. Demnach ist von einer politischen Motivation unter anderem dann auszugehen, wenn sich »in Würdigung der gesamten Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters« Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Tat sich »gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status« richtet.

 

Einer der Gutachter, Matthias Quent, hat nach den Ursachen der Missachtung des PMK-Systems durch die ermittelnden Behörden gefragt. Der Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena stellte fest: »Der falschen Einordnung der Behörden liegt eine maßgeblich extremismustheoretisch geleitete Perspektive zugrunde. Diese wird der gesellschaftlichen Komplexität nicht gerecht, wie der vorliegende Fall nicht erstmalig, aber mit besonderer Tragik und Ambiguität zeigt.« Quent verwirft den genannten Ansatz als eine »in Hinblick auf wissenschaftliche Diskussionen längst überholte Perspektive«. Der bayerische Verfassungsschutz habe nichtsdestotrotz auf ihrer Grundlage die Fragestellung für die Beurteilung der Tat von David Sonboly folgendermaßen formuliert: »Einige Aussagen des Täters deuteten darauf hin, dass er möglicherweise rechtsextremistisch motiviert war. Es geht hier um eine Überprüfung der These aus verfassungsschutzrechtlicher und extremismustheoretischer Sicht.« Die Frage sei zu eng gefasst, kritisiert Quent. Sie reduziere den Kreis möglicherweise politisch motivierter Täter auf extremistische Randbereiche organisierter Verfassungsfeinde. Mit anderen Worten: Wenn der Täter nicht in diesem Randbereich verortet werden kann, wird auch keine politische Motivation angenommen. Doch Vorurteile und gruppenbezogene menschenfeindliche Einstellungen – wie zum Beispiel Rassismus – seien, so Quent, »in allen gesellschaftlichen Milieus anzutreffen«.

 

 

Viertes Gutachten im Auftrag des Landeskriminalamts

In der praktischen Anwendung erweist sich die »Extremismustheorie« somit als irreführend: Da David Sonboly kein vom Verfassungsschutz beobachteter Verfassungsfeind war, konnten ihm die bayerischen Behörden keine politische Motivation zubilligen, ohne sich selbst vorwerfen zu müssen, sie hätten einen »Extremisten« übersehen.

 

Ein viertes Gutachten soll nun die heile Welt des Verfassungsschutzes wiederherstellen. Im Auftrag des bayerischen Landeskriminalamts wurde es von der Gießener Kriminologin Britta Bannenberg verfasst und kürzlich im Internet veröffentlicht. Auf mehr als achtzig Seiten empfiehlt Bannenberg, das schwerste politisch rechts motivierte Verbrechen in Bayern seit dem Oktoberfestattentat von 1980 trotz aller Belege für die rassistischen Einstellungen des David Sonboly als reine Amoktat zu werten und die neun Ermordeten als Opfer rechter Gewalt unter den Tisch fallen zu lassen.

 

Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, wurde das Bannenberg-Gutachten der Münchner Polizei bereits Anfang April vorgestellt, allerdings »hinter verschlossenen Polizei-Türen«. Etwa hundert Menschen sollen dabei gewesen sein: »der Polizeipräsident, Vertreter der Staatsanwaltschaft, auch Leute aus dem Innen- und Justizministerium«. Unter anderem sei diskutiert worden, »was viele [der Teilnehmer] als drängendes Problem ansehen: Die drei Rechtsextremismusforscher … brächten mit erstaunlich großem Erfolg die Öffentlichkeit gegen die Polizei auf. Die Polizei stehe da, als sei sie auf dem rechten Auge blind.« (SZ, 7.6.2018)

 

Gleiche Theorie, gleiches Problem. Das Bannenberg-Gutachten könnte zum Eigentor werden.