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Titel1618

Im Innern des Landes  (Klaus Nilius)

Die 62. Äsopische Fabel, übertragen von Gotthold Ephraim Lessing, erzählt von einem Schäferknaben, der »die schelmische Gewohnheit [hatte], zum öftern, ein Wolf! ein Wolf! zu schreien, obgleich keiner zu sehen war, und auf diese Weise unter dem Landvolke ein blindes Lärmen zu machen. Und dieses Possens wegen ward er so bekannt, daß man ihm endlich nicht mehr glaubte, als er im Ernste zu schreien anfing, so daß der Wolf in die Horde einbrechen und die Schafe ohne Widerstand zerreißen konnte.«

 

Der Schriftsteller E. A. Rauter, 2006 im Alter von 76 Jahren gestorben, veröffentlichte 1978 das Buch »Vom Umgang mit Wörtern«. Der erste Satz lautete: »Bemühung um besseren Stil ist Bemühung um demokratischere Verhältnisse.« Seine Kritik an vielen Texten: »Man erkennt nichts vor lauter Wörtern.« Rauter schrieb an gegen Weinerlichkeit und Wehleidigkeit in der linken Presse, gegen die häufige Verwendung des Superlativs, den er einen »Kommentar von der billigen Sorte« nannte, gegen die häufige Verwendung des Komparativs: sei es im Berliner Extra-Dienst, einem linken Informationsblatt der APO (in dem »streng vertrauliche Protokolle von Landesausschusssitzungen der SPD und von Senatsberatungen, geheime Papiere von Verfassungsschutz und BND … unerwünscht die Öffentlichkeit erreichten«, wie Otto Köhler am 17. Februar 1969 im Spiegel schrieb), sei es in den Roten Blättern, dem monatlichen Magazin des Marxistischen Stundenbundes Spartakus, sei es in der UZ, dem Organ der DKP, oder in der Gewerkschaftspresse.

 

»Wenn einer von uns schreibt: ›Die braune Brut kriecht wieder aus ihren Löchern‹, dann geht das über die Grenze dessen hinaus …, was uns berechtigt, uns für fortschrittlich und human zu halten. Nach aller Lebenserfahrung sind es in unseren Breitengraden Tiere, die aus Löchern kriechen.« Das Geschrei einer Zeitung bringe der Zeitung Verluste; es habe keinen Sinn, so Rauter.

 

 Denn: »Mit welcher Sprache wollen sich die Katastrophenschreier mitteilen, wenn die Regierenden zu faschistischen Mitteln greifen, um das Privateigentum an den großen Herstellungsanlagen zu retten … Man wird denen nicht glauben, die dann schreien, weil sie zu lange zu laut geschrien haben.« Siehe Äsop.

 

Der Griff zu faschistischen Mitteln: Was kommt vor diesem Akt? Wie beginnt der Faschismus? Kommt er daher »auf leisen Sohlen« wie »das Böse« in Ray Bradburys Roman »Something Wicked This Way Comes«? Oder wechselt ein Land »langsam und schleichend das Gesicht«, wie Henning Mankell seinen Wallander in »Der Mann, der lächelte« mit Bezug auf Schweden für die Zeit nach der Ermordung Olof Palmes sagen lässt?

 

Was nützen, was lehren, was helfen uns heute die Faschismustheorien des letzten Jahrhunderts und die neueren? Helfen sie uns überhaupt im aktuellen Diskurs? Geraten wir manchmal nicht in die Position des äsopischen Hirtenknaben, wenn wir bei jedem Rap-Song, der nach unserer Ansicht die Bezeichnung sexistisch, rassistisch, antisemitisch verdient hat, den großen Knüppel schwingen? Oder bei solch toxischen Begriffen wie »Asyltourismus«, »Herrschaft des Unrechts«, »Anti-Abschiebeindustrie«? Oder gegen den Rassismus rund um die Fußballarenen?

 

Bei der Suche nach Antworten kann die Literatur helfen.

 

*

 

Bestandsaufnahme. Klaus Weber (58) lehrt Psychologie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München, hat eine Gastprofessur am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck inne und ist Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg- und der Hans-Böckler-Stiftung sowie Herausgeber der Reihe »texte kritische psychologie«.

 

»Resonanzverhältnisse. Zur Faschisierung Deutschlands« hat er sein »Politisches Tagebuch« genannt. Zwei Jahre lang, vom 4. Februar 2016 bis zum 4. März 2018, führte er ein dialektisches Zwiegespräch mit sich selbst. Pate standen Kurt Marti, der marxistische Pfarrer und Dichter aus der Schweiz mit seinem Band »Vor-Bilder«, Hannah Arendt mit ihrem »Denktagebuch«, Volker Braun mit »Werktage« und Wolf Haug mit seinem Buch »Jahrhundertwende«.

 

Erster Eintrag: »Mit wachsender Fassungslosigkeit lese ich den Briefwechsel des Münchener Soziologieprofessors Armin Nassehi und dem neofaschistischen Vordenker von AfD und Pegida, Götz Kubitschek.« Und weiter: »Beide kritisieren die ›Linken‹, der eine, weil sie anders leben würden, als sie reden (Nassehi), der andere, weil er so völkisch und faschistisch denkt , wie er lebt, und deswegen alle Feinde des Völkischen am liebsten ›unschädlich‹ machen würde.« Frau und Kinder, mit denen er auf einem Rittergut im sachsen-anhaltinischen Schnellroda lebt, müssen »Sie« zu ihm sagen und sich streng an die Regeln halten, die er vorgibt.

 

Seite um Seite hat Weber mit seinen Reflexionen gefüllt, in denen er der »Faschisierung unserer Gesellschaft« nachspürt: in »Alltagsszenen auf der Straße, im Café, an der Uni, in den Bergen, dazu die Auswertung des täglich Gelesenen und Gehörten aus Politik, Kultur, Sport und Ökonomie«, stets von der Denkfigur des Klangkörpers ausgehend, der dem Ton und seinem Klingen zu Grunde liegt. »Die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Sachen, die ohne einander nicht ›funktionieren‹, müssen täglich hergestellt, erklärt und verbildlicht werden.« Das ist »Arbeit gegen das Auseinanderreißen durch die Ideologieproduzenten der herrschenden Ordnung«.

 

Webers Tagebuchaufzeichnungen sind informativ, ja: spannend, erhellend, aufklärerisch. Den Leserinnen und Lesern allerdings, die sich von ihnen eine Antwort darauf erhoffen, »ob Deutschland ›schon wieder‹ auf dem Weg zum Faschismus ist«, empfiehlt der Autor, sich »die Frage offen[zu]halten, sie nicht vorschnell [zu] beantworten«.

 

Zwar deute »vieles darauf hin, dass der Faschisierungsprozess fortschreitet – als »Zusammenspiel völkisch-nationaler, patriotischer Deutscher mit einem autoritären, die demokratischen ›Spielregeln‹ peu à peu außer Kraft setzenden Staat und der ideologischen Erzeugung von Bildern eines ›Gegenvolks‹.« Mal seien dies Flüchtlinge, mal Islamisten, mal Juden.

 

Die bürgerlichen Kräfte und Parteien überböten sich dabei, »die neuen, faschismusbereiten Parteien und Bewegungen ›einzuholen‹ im Glauben, sie damit unwirksam zu machen.« Jedoch: »Die historische Erfahrung könnte lehren: Es hat nicht geklappt.«

Aber: Wiederholt sich Geschichte? Einfach so? So einfach? Wie heißt es in dem Gangsterspektakel »Arturo Ui« von Bertolt Brecht:

 

»Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert

Und handelt, statt zu reden noch und noch.

So was hätt einmal fast die Welt regiert!

Die Völker wurden seiner Herr, jedoch

Daß keiner uns zu früh da triumphiert –

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!«

 

Ich hoffe, dass Klaus Weber sein Tagebuch fortführt. Bis solche Notizen nicht mehr nötig sind.

 

*

 

1933, im April. Die Völker wussten noch nicht, was ihnen bevorsteht. Rechtsanwalt Hans Bauer – Urbild eines Deutschen, blond, blaue Augen, eins achtzig groß – weiß es auch nicht. Nach vier Monaten in St. Moritz, wo er sich wegen Überarbeitung körperlich regenerieren musste, ist er auf dem Heimweg. Gespannt, ob Berlin sich nach Hitlers Machtübernahme verändert hat. Er hat keine Sympathien für die Nazis und ist beunruhigt wegen der Papiere, die seine Sekretärin ihm geschickt hat. Alle nicht-arischen Rechtsanwälte sind aufgefordert worden, einen Antrag auf Ruhen der Zulassung für unbestimmte Zeit einzureichen. Die anderen müssen nachweisen, dass in der Familie innerhalb der letzten vier Generationen kein jüdisches Blut war. Kein Problem für ihn, denkt er. Die Vorfahren sind seit 300 Jahren Schiffbauer in Bremen. Unvorbereitet trifft ihn die Erkenntnis aus den Familiendokumenten, dass eine seiner Großmütter jüdischer Herkunft war. Unter den neuen Nazi-Gesetzen gilt er nun nicht mehr als Anwalt.

 

Felix Jacksons Roman »Berlin, April 1933« schildert eindrücklich den damaligen Faschisierungsprozess, der schließlich in den Zweiten Weltkrieg und in den Holocaust führte. Die deutsche Übersetzung des 1980 in den USA publizierten Buches »Secrets of the Blood« erschien erstmals 1993 in einem Aachener Verlag und wurde nun nach 25 Jahren wieder zugänglich gemacht: »Nicht ohne Gedanken an gegenwärtige beunruhigende Entwicklungen«, schreibt der Verlag im Klappentext. Felix Jackson, 1902 als Felix Joachimson in Hamburg geboren, war Journalist und Bühnenautor, floh im Oktober 1933 vor den Nazis nach Österreich und Ungarn und ging 1936 in die USA, wo er als Drehbuchautor arbeitete. 1992 starb er in Kalifornien.

 

Übersetzer und Verleger Stefan Weidle schreibt in seinem engagierten Nachwort: »So kann man das Buch in zwei Richtungen lesen: Zurück in die historische Geschichte, die es schildert, oder nach vorn, in dem man Warnzeichen heutiger Entwicklungen darin erkennt.« Und daher sind Spekulationen unwichtig, wer sich hinter den einzelnen Romanfiguren verbirgt: Erich Maria Remarque vielleicht? Oder Ludwig Renn? Oder wer auch immer.

 

Leicht identifizierbar ist dagegen das geschilderte Konzentrationslager: Oranienburg. Es wurde im März 1933 eingerichtet und war das erste KZ in Preußen. Hier wurde am 10. April 1934 Erich Mühsam ermordet.

 

*

 

1938, fünf Jahre nach der Machtübernahme. Die Faschisierung hat nun alle gesellschaftlichen Bereiche ergriffen. Unmittelbar nach den November-Pogromen verfasst der gerade einmal 23 Jahre alte Ulrich Alexander Boschwitz in nur wenigen Wochen den Roman »Der Reisende« über den jüdischen Kaufmann Otto Silbermann, »der zuerst sein Hab und Gut, dann seine Würde und schließlich seinen Verstand verliert« (Herausgeber Peter Graf in seiner editorischen Notiz).

 

Das Originaltyposkript wird seit den späten 1960er Jahren im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main aufbewahrt und wurde jetzt zum ersten Mal in deutscher Sprache publiziert, fast 80 Jahre nach seiner Niederschrift. Das Typoskript ist nie lektoriert worden. An diese Arbeit machte sich Peter Graf (51), Leiter des Verlags Das Kulturelle Gedächtnis, der sich die Wiederentdeckung vergessener Texte zur Aufgabe gemacht hat. Er hat den Roman mit Zustimmung der Familie sorgsam ediert, »um diesem ergreifenden und beeindruckenden Werk eine Form zu geben, die ihm gebührt« (Graf).

 

Seinem Verfasser war nur ein kurzes Leben beschieden. Er war ebenfalls ein »Reisender«, schrieb das Erfahrene auf der Flucht in Luxemburg und Belgien nieder, folgte der Mutter nach England. Im englischen Exil wurde er interniert und zusammen mit vielen jüdischen Intellektuellen in ein australisches Internierungslager verbracht. Nach seiner Freilassung machte er sich auf die Rückreise, um in den Krieg gegen die Nazis zu ziehen. Das Schiff wurde von einem deutschen U-Boot torpediert. Boschwitz starb mit 27 Jahren.

 

*

 

Motto zu »Berlin April 1933« von Felix Jackson: »Wenn wir über gestern reden, sprechen wir von heute und morgen«. Daher brauchen wir Bücher wie die hier vorgestellten, über gestern, über heute. Sie schärfen die Wachsamkeit. Denn wie sang doch Franz Josef Degenhart schon 1968, zur Hoch-Zeit der NPD (LP »Degenhardt live«):

 

»Wie oft hat man sie schon totgesagt, doch

hier im Innern des Landes leben sie noch

nach den alten Sitten und alten Gebräuchen,

kaum dezimiert durch Kriege und Seuchen,

stämmig und stark, ein beharrliches Leben,

den alten Führern in Treue ergeben.«

 

 

Damals war die 1964 gegründete NPD gerade in mehrere westdeutsche Landtage eingezogen. Heute sitzen die Rechten nicht nur in Landtagen, sondern auch im Bundestag, halten »Hitler und die Nazis« für einen »Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte« und träumen ihren Traum von einer Zukunft als Volkspartei, während Steve Bannon, der rechte Vordenker aus den USA und ihr Bruder im Ungeiste, in Europa an einem nationalistischen Netzwerk knüpft.

 

 

Klaus Weber: »Resonanzverhältnisse«, Argument-Verlag, 599 Seiten, 29,80 €; Felix Jackson: »Berlin, April 1933«, aus dem Englischen von Stefan Weidle, Weidle Verlag, 288 Seiten, 23 €; Ulrich Alexander Boschwitz: »Der Reisende«, herausgegeben von Peter Graf, Klett-Cotta, 303 Seiten, 20 €