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Titel1618

Ein dickes Buch, ein dünnes Brett  (Herbert Graf)

Ein Stipendiat der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat ein dickes Buch vorgelegt, das unlängst in Berlin vom Bundesfinanzministerium und der Stiftung präsentiert wurde. Vom Tagesspiegel bis zur Süddeutschen Zeitung, in Radio- und Fernsehbeiträgen feierte man den Autor als neuen Stern am Historikerhimmel.

 

Marcus Böick kennzeichnete sein Werk als einen Versuch, »die Treuhandanstalt als zeithistorisches Problem zu übersetzen, um deren Geschichte sowie die ihres Personals neu vermessen zu können«. Es geht in dieser harmlosen Arbeit jedoch weder um ernsthafte gesellschaftliche Probleme, noch um die politischen Intentionen, die der Treuhand zur Beseitigung des Volkseigentums der DDR vorgegeben wurden. Böick war sieben Jahre alt, als die Treuhandanstalt gegründet wurde. Obwohl er in Sachsen-Anhalt aufwuchs, konnte er naturgemäß keine eigenen Erfahrungen über die sogenannte Nachwendezeit sammeln. Er stützt sich auf Veröffentlichungen, auf einige Archivmaterialien und Interviews mit Beteiligten. Sechzehn der von ihm Interviewten waren westdeutsche Treuhandmanager. Der Siebzehnte – ostdeutscher Herkunft – wurde nach knapp zwei Treuhandjahren in einer deutschen Großbank untergebracht.

 

Den eigenen Interviews fügte Böick 52 Befragungen hinzu, die der Ethnologe Dietmar Rost mit 52 Direktoren, Niederlassungsleitern und Abteilungsleitern 1991/92 führte. Die Namen seiner Gesprächspartner wurden von Rost anonymisiert und deren Aussagen »geglättet« (S. 53). Weiterhin wurden undatierte Interviews präsentiert, denen Angaben zum Befragten fehlen. Dass es sich auch dabei fast ausnahmslos um westdeutsche Privatisierer handelt, entspricht dem Anliegen des Verfassers. Gern und oft zitiert Böick, wie die aus Bonn Entsandten den Ostdeutschen – angeblich einfühlsam und schonend – beibringen mussten, dass sie von der Marktwirtschaft wenig Ahnung hatten. Um die Mühsal der westdeutschen Akteure zu dokumentieren, wird selbst eine westdeutsche Chefarztgattin zitiert, die über »ihr nervenaufreibendes Alltagsleben unter provinziellen Ossis« klagte. Ostdeutsche Analysen der Treuhandtätigkeit werden von Böick mit der Bemerkung abgekanzelt, diese bedienten sich »Darstellungsformen, die einer ostdeutschen Opferperspektive verpflichtet waren« (S. 20).

 

Bei der Vorstellung des Treuhandbuches meinte ein Vertrauter von Altbundeskanzler Helmut Kohl: »Wir hätten eher und früher erkennen müssen, wie nehmen wir die Menschen mit.« Das klang wie nachträgliche Reue. Aber wollte und konnte die Regierung der Bundesrepublik mit ihrem »alternativlosen« Vorgehen überhaupt jemanden mitnehmen? Ging es dem Westen 1989/90 nicht eher darum, alles, was in der DDR nicht westkonform oder gar sozialismusverdächtig erschien, rigoros unterzupflügen? Wie wollte man Menschen »mitnehmen«, wenn diese ihre Arbeit verloren, wenn ihre Biographien entwertet, ihre Ideale zertrümmert wurden? Für Wolfgang Schäuble war der inzwischen gerichtsbekannte, dubiose Günther Krause der geeignete Partner für die rigorose Zerschlagung der DDR. Krause ließ, so Schäuble, »nie den Drang verspüren, irgendetwas aus der alten DDR zu retten« (W. Schäuble: »Der Vertrag«, DVA 1991, S. 141).

 

Vergeblich sucht man in Böicks Schrift nach einem Bezug zu den tatsächlichen Abläufen, nach nationalen und internationalen Einflüssen und zu den Hintergründen dieses wechselvollen Abschnitts deutscher Geschichte. Zwar kommen im Text unterschiedliche Stimmen zu Wort, die einen gewissen Aufschluss über das Treuhandpersonal geben und vermitteln, wie sich die Beziehungen in dem Haus entwickelten. Zitatensammlungen und Darstellungen des »Wie« des Geschehens gehören jedoch zu den Lehrlingsarbeiten wissenschaftlicher Untersuchung. Will man zum Kern der Dinge vordringen, sind Beweise zur Beantwortung der Fragen nach dem »Warum« erforderlich.

 

Die Treuhandanstalt sollte das Volkseigentum der DDR liquidieren. Es ging dabei um mehr als 8000 Unternehmen, um annähernd 20 Milliarden Quadratmeter Agrarfläche, um Wälder und Seen, um 25 Milliarden Quadratmeter Nutz- und Wohnfläche in Immobilien, um etwa 40.000 Geschäfte und Gaststätten, um Krankenhäuser, Apotheken, um 615 Polikliniken und 340 Betriebsambulatorien, um 5500 Gemeindeschwesternstationen, um Hotels, Ferienheime, um das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, um das Vermögen von Parteien und Massenorganisationen, um Rechte, um Patente, um Kulturgüter und geistiges Eigentum. Es ging um das Leben, die Arbeitsplätze und die Würde von Millionen anständigen Menschen. Noch heute und in absehbarer Zukunft leiden die sogenannten neuen Bundesländer unter dem Kahlschlag der Deindustrialisierung durch die Treuhand und der nachfolgenden Abwanderung von Millionen Menschen. Unbegreiflich, dass unter dem Titel »Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung« jedwede volkswirtschaftliche Analyse und jedwede soziale Wertung vermieden wird. Das Wirken der Treuhandanstalt war keine innerdeutsche Angelegenheit. Die Institution war ein Instrument im großen Systemwechsel, der im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von der Werra bis nach Wladiwostok vollzogen wurde. Markante Abschnitte der Vorbereitung des Prozesses vollzogen sich 1988/89. Sie sind inzwischen durch Dokumente belegt. Die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten in Europa befand sich zweifellos in einer kritischen Situation. US-Präsident George Bush, vormals CIA-Chef, und sein Vertrauter Henry Kissinger trafen geheime Absprachen mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow. Diese führten zur Erarbeitung der 31 Seiten umfassenden Direktive des Nationalen Sicherheitsrates der USA. Wie amerikanische Historiker nachwiesen, bestand deren Intention darin, »die Sowjets in einer Weise herauszufordern, die sie zwingt, die Richtung einzuschlagen, die wir wünschen« (Michael R. Beschloss/Strobe Talbot: »Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989-1991«, übersetzt von u. a. Rita Seuß, Werner Steinbeiß und Heinz Tophinke, Econ Verlag 1993, S. 59). Zu den mit dieser Direktive geplanten Veränderungen im sozialistischen System gehörten neben anderem Freiheiten für Kapital- und Landbesitz, das Ende der Planwirtschaft, der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Staatsmacht. Osteuropa sollte »in den Schoß des Westens« zurückgeführt werden. Vom Erlass dieser Direktive bis zu ihrer Umsetzung vergingen kaum mehr als zwei Jahre.

 

Auf dem Weg zur Systemveränderung im sozialistischen Europa nahm Deutschland eine Sonderstellung ein. Der von den USA vorgesehene Prozess sollte mit einer Ostererweiterung der NATO verbunden werden. Daran lassen amerikanische Veröffentlichungen inzwischen keinen Zweifel. Die Systemveränderung in der DDR 1989/90 erfolgte nicht – wie immer wieder behauptet wird – in einer Symbiose von West und Ost, sondern in einer bedingungslosen Übertragung westdeutscher Verhältnisse auf die DDR. Wolfgang Schäuble hat in seinem Buch »Der Vertrag« sehr offen ausgesprochen, dass es nicht darum ging, irgendeine Erfahrung aus der DDR im Zuge der Vereinigung aufzunehmen.

 

Annähernd 50 Kilometer Behördenakten und 180 Kilometer Betriebsakten sind in Archiven gelagert. Böick hofft, diese zu erschließen, um sein Neuvermessungsverfahren der Treuhand weiterzuführen. Ein Lebenswerk scheint gesichert. Am Ende aber besteht die Gefahr, dass es ihm wie dem Studenten im Faust ergeht: Er hat die Teile in der Hand, allein es fehlt das geistige Band.

 

Erfolgreicher wäre es wahrscheinlich, in den Akten der Bundesorgane oder auch der westlichen Geheimdienste – falls diese je zugänglich werden – Hintergründe des Treuhandgeschehens zu analysieren. Milton Bearden, der die CIA-Aktion 1990/91 in Deutschland von Bonn aus leitete, ist nicht mehr im Dienst. Er ist inzwischen 78 Jahre alt. Zu erreichen ist er, falls er nicht wieder das Quartier wechselte, in Austin im Bundesstaat Texas. Er gehörte zu jenen, die wussten, worum es 1990/91 ging.

 

 

Prof. Herbert Graf war von 1990 bis 2000 Juristischer Mitarbeiter in Betrieben der Treuhandanstalt. Marcus Böick: »Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung«, Wallstein Verlag, 767 Seiten, 79 €