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Polnische Schicksalssommer (I)  (Stefan Bollinger)

Der Sommer ist in Polen in den letzten hundert Jahren stets Zeit der Veränderung. Der August und September brachten vermeintliche Siege und große Niederlagen. Im nächsten Jahr wird der großen Streiks 1980 und der Gewerkschaft Solidarność gedacht werden, die für den Niedergang des Realsozialismus in Polen und letztlich des europäischen Ostblocks stehen.

 

Dieses Jahr geht es um zwei Schlüsselereignisse der polnischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg: den 75. Jahrestag des Warschauer Aufstandes und die achtzigste Wiederkehr des deutschen Überfalls auf Polen. Eigentlich unzweideutige Daten, denn in beiden Fällen haben Wehrmacht und SS des faschistischen Deutschlands Polen angegriffen und mit Vernichtung überzogen. Polnische Bürger und Soldaten kämpften heldenhaft, wenn auch in aussichtsloser Lage, für ihre Heimat. Grund genug zum Innehalten und Nachdenken über die Opfer, aber auch die Ursachen dieses Krieges einschließlich der Niederlagen. Polen verlor sechs Millionen Menschen, darunter Polen, Ukrainer, Juden – jeden sechsten polnischen Staatsbürger. Und doch sind die Erinnerungsfeiern durch Irritationen und neue Frontstellungen gekennzeichnet. Ein deutscher Außenminister würdigt die Warschauer Aufständigen und brachte seine Scham über das, was Deutsche in und gegen Polen angerichtet hatten zum Ausdruck. Die alte Leier: Hitler war schuld, und die verführbaren Deutschen wurden mitschuldig. Kein Wort zu den Ursachen des Krieges, zu den Interessen des deutschen Großkapitals und der Grundbesitzer, zu dem unaufhaltsam gemachten Aufstieg Hitlerdeutschlands zur Aggressionsmacht.

 

Es ist zu erwarten, dass neben den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges auch Deutschland in Warschau an den Überfall auf den polnischen Nachbarn erinnern wird. Russland ist unerwünscht. Wer polnische Stellungnahmen aus dem Umkreis der nationalkonservativen Regierung hört, reibt sich kaum noch verwundert die Augen. Da wird mit dem Ansatz der Heimatarmee des Jahres 1944 argumentiert: Polen habe sich gegen zwei Feinde, Deutsche und Sowjets zur Wehr setzen müssen.

 

 

Geschichte wird umgeschrieben

Die Geschichte ist offenbar komplizierter, und die politische Demenz heutiger Politiker und vieler Historiker, auch der Öffentlichkeit, ist bemerkenswert, ja erschreckend. Polen ist das erste europäische Land, das durch das faschistische Deutschland mit einem Vernichtungskrieg überzogen wurde, in dem es um »Lebensraum«, Unterwerfung einer als minderwertig angesehenen slawischen Volksgruppe, die Ausmerzung der Juden, die restlose Zerstörung eines polnischen Staatswesens und seiner intellektuellen Elite und die Schaffung eines Aufmarschraumes für den als unverzichtbar angesehenen Krieg gegen den ideologischen und politischen Hauptgegner, die Sowjetunion, ging. Für die Sieger war nicht einmal eine polnische Kollaborationsregierung denkbar, auch wenn Polen durchaus auch den Okkupanten zu Willen sein konnten.

 

Das Wiederentstehen eines polnischen Staates auf der Grundlage des Versailler Vertrages und der aktiven nationalistischen Bewegung von Polen auch in den bisher deutschen und österreichischen Gebieten hatte vom ersten Tag an deutsche Militärs und Großkapitalisten gewurmt. Die Tinte von Versailles war noch nicht trocken, da ließ der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, an einem »Großen Plan« arbeiten: der Wiederaufrüstung einer deutschen Wehrmacht, die in den Planzahlen tatsächlich 1939 das widerspiegelte, was Anfang der 1920er Jahre mehr oder minder hinter dem Rücken der Interalliierten Militärkommission aufgeschrieben wurde. Die Militärs planten und bildeten aus, deutsche Konzerne suchten alle legalen und illegalen Möglichkeiten, um im Ausland deutsches Rüstungs-Knowhow an den Mann zu bringen, Technik zu entwickeln und zu erproben.

 

Diverse Freikorps und die neue Reichswehr sammelten ihre Erfahrungen gegen die bolschewistische Revolution in den Randgebieten des einstigen russischen Imperiums und gegen polnische Aufständische, die erfolgreich ihren Staat auch in Richtung Westen arrondierten. Der Reichswehrführung war klar, dass mit dem von den Siegern aufgezwungenen kleinen Berufsheer kein großer Revanchekrieg gegen den Westen Aussicht auf Erfolg hatte, aber gegen Polen könnte man es schon wagen.

 

Und es fand sich ein unerwarteter Verbündeter: Sowjetrussland. Die beiden Paria der Weltpolitik, das Deutsche Reich und Sowjetrussland, begriffen 1922, dass ein Ausgleich, ja ein wirtschaftliches und klandestines militärisches Zusammengehen beiden Seiten Nutzen bringen konnte. Ideologische Vorbehalte hatten vor der Chance des Wiederaufstiegs zurückzutreten. Das gar nicht so kleine Klein-Klein des Klassenkampfes mit politischen, propagandistischen und geheimdienstlichen Mitteln sollte davon wenig berührt werden. Polen als potentieller gemeinsamer Gegner – als Rache für die Niederlagen 1918 Deutschlands beziehungsweise 1920 nach dem Scheitern eines Triumphes der Roten Armee gegen die polnische Intervention – schweißte ungleiche Partner zeitweilig zusammen.

 

 

Polen zwischen allen Stühlen

Polen selbst war ja eigentlich das missglückte machtpolitische Kind der Mittelmächte, die gegen Russland ihr Besatzungsgebiet mobilisieren wollten. Nach der Niederlage der beiden Kaiser in Berlin und Wien traten die Ententemächte die Erbschaft an und wollten ein starkes Bollwerk gegen die Bolschewisten. Die Niederlage der Roten Armee vor Warschau, das »Wunder an der Weichsel« 1920 schien dies zu bestätigen und hob das Selbstbewusstsein der jungen polnischen Republik. Im Ergebnis innerer Konflikte wurde das Land, was die heutigen Demokraten gern ausblenden, seit Mitte der 1920er Jahre zu einer autoritären, diktatorisch geführten Republik, die wenig Sympathien für linke Oppositionelle hatte.

 

Das Privileg des unverzichtbaren antibolschewistischen Bollwerks verlor Polen aber schon in dem Moment, da die westlichen Siegermächte Deutschland wieder als eine potentere Gegenmacht gegen den Kommunismus aufzubauen suchten. Die noch 1922 mögliche und notwendige Hinwendung Deutschlands zu Sowjetrussland in Rapallo sollte kompensiert werden. Im Vertragswerk von Locarno, bis heute als große Friedenstat gefeiert, gab es einen wesentlichen Dissens: Für den Westen wurden die Grenzen garantiert, für den Osten, also namentlich Polen und die Tschechoslowakische Republik (ČSR), blieben es Absichtserklärungen, die Vereinbarung von Schiedsgerichten, aber keine Grenzgarantien. Das war nicht nur der Instabilität der neuen osteuropäischen Staaten geschuldet, sondern vor allem der unveränderten Furcht vor der Sowjetunion.

 

Diese veränderte Lage ließ auch die deutschen Eliten kühner werden. Militär, Kapital und Großgrundbesitz, die Rechtsparteien hatten ein gemeinsames Elitenprojekt: Die Revanche für 1918, vor allem aber den »Drang nach Osten« – und dies hieß in erster Linie Vernichtung der größten Bedrohung, der radikalen sozialökonomischen Umwälzung in Richtung Sozialismus. Der Schock der Revolution von 1918 steckte ihnen immer noch in den Knochen.

 

 

Der »Drang nach Osten«

Noch waren sie sich nicht einig, welche Strategie sie einschlagen sollten: ökonomische Durchdringung oder militärische Eroberung. Carl Duisberg, mächtiger Konzernmanager und IG-Farben-Boss, proklamierte schon 1931 als Ziel einen Wirtschaftsraum von Marseille bis Odessa. Die Weltwirtschaftskrise sorgte für eine neue Situation. Hitler und seine Nazipartei waren nicht mehr extreme politische Randgestalten. Ihr radikaler Angriff auf alle Linken und Demokraten wurde in der tiefen Krise gebraucht. Damit wurde auch Hitlers außenpolitisches Programm salonfähig. Er sprach deutlich aus, was die Machteliten erhofften, vor allem garantierte er die Härte, Brutalität und Demagogie, ein solches Programm auch umzusetzen. Mit der Machtübergabe an die Faschisten konnte er entschlossen den Kurs auf Krieg umsetzen. Die Militärs hatten die Pläne und die Organisation, das Großkapital aktuelle Rüstungsprojekte und Kapazitäten sowie das Geld – bei allen Problemen – und anspruchsvolle Expansionsziele.

 

Die Franzosen, noch mehr die USA und Briten wollten die deutsche Aufrüstung mit der klaren Vorstellung, dass der Osten, die Sowjetunion zerschlagen wird. Wenn die Deutschen dabei auch Federn lassen würden, umso besser. Polen blieb der unsichere Kantonist: zu schwach, autoritär geführt, politisch nur bedingt verlässlich. Hitlerdeutschland umwarb die polnische Führung zunächst, ein gemeinsamer Kampf gegen die Bolschewisten könnte attraktiv sein, die Ukraine winkte als Preis für Polen. Aber die polnische Führung, erst recht nach Marschall Piłsudskis Tod, witterte die Risiken, mochte nicht Juniorpartner der wenig geliebten Deutschen sein. Mitte der 1930er Jahre spann sich wieder ein engeres Bündnis mit den Westmächten, die selbst unverändert unentschlossen waren und lange auf Appeasement zugunsten Deutschlands setzten.

 

Für Hitlers Generale und für Hitler selbst war klar, ein Krieg gegen die Sowjetunion musste mit oder über Polen erfolgen. Polen war ideal als Aufmarschgebiet, es gab Rohstoffe, auch Industrie, Siedlungsraum für Großgrundbesitzer und Wehrbauern, im Idealfall unbegrenzte, rechtlose, billige Arbeitskräfte.

 

 

Verträge, die keinen Frieden brachten

Die 1930er Jahre brachten Unruhe. In Asien expandierte Japan gewaltsam, die Welt schaute weg. In Nordafrika baute sich Italien gewaltsam ein Kolonialreich, die Welt schaute weg. In Spanien intervenierten Deutschland und Italien gegen die Republik, Briten und Franzosen setzten auf Neutralität. In Mitteleuropa revidierte das Deutsche Reich die Grenzziehungen des Versailler Vertrages, schloss Österreich an und baute hemmungslos seine Wehrmacht auf. Es störte im Westen die Verantwortungsträger wenig. Sowjetische Versuche, ein System kollektiver Sicherheit zu errichten, liefen trotz mancher Verträge ins Leere.

 

Mit dem Versuch, eine Krise um die deutsche Minderheit in der ČSR zu einem Kriegsanlass aufzublasen, spielte die deutsche Führung Vabanque. Endlich wollte sie es wissen und der Welt beweisen. Aber Großbritannien und Frankreich spielten nicht mit. Sie wollten Frieden um jeden Preis, zumindest mit der Preisgabe der einzigen stabilen Demokratie im Osten, der ČSR. Wieder einmal wurde über die Köpfe der Tschechoslowaken hinweg entschieden und faktisch deren Staatsgebilde ausgelöscht.

 

Polen beteiligte sich am Leichenschmaus, nahm dem am Boden liegenden Nachbarn das Olsa-Gebiet ab. Unschuld sieht anders aus.

 

Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die »Rest-Tschechei« begannen London, Paris, auch Warschau zu begreifen, dass sie in ihrer antikommunistischen Verblendung für sich selbst ein tödliches Risiko heraufbeschworen hatten. Nun suchte Polen eine Rückversicherung bei den westlichen Verbündeten, die es auch erhielt, die aber – wie sich zeigen sollte – wenig wert in der konkreten Situation war. »Sterben für Danzig«, dem von Deutschland vorgeschobenen Streitpunkt, wollte in Paris oder London niemand.

 

 

5. September, 16 – 21 Uhr: Konferenz »So werden Kriege gemacht. Vor 80 Jahren: Der deutsche Faschismus löst den Zweiten Weltkrieg aus«, Veranstalter: Helle Panke e. V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin; weitere Informationen siehe: https://www.helle-panke.de/de/topic/3.termine.html?id=2781.