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Titel1619

Flaschenpost an die Zukunft  (Klaus Nilius)

»Pogrom 1938« – nicht nur im Format (24,5x29,5 cm) erinnert mich dieser Bildband an Bertolt Brechts »Kriegsfibel«, im Herbst 1955 im Eulenspiegel Verlag Berlin mit einer Startauflage von 10.000 Exemplaren erschienen. Meine »Neuauflage« stammt aus dem Frühjahr 1968, aus Anlass des 70. Geburtstags Brechts als Gemeinschaftsausgabe des Eulenspiegel Verlags, Berlin, und des Pfalz Verlags, Basel, ediert.

 

Ruth Berlau, die 1955 als Herausgeberin genannt wurde, schreibt in ihrem kurzen Vorspruch: »Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen. Denn es ist dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen. Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser.«

 

Eine ähnliche Vorbemerkung hätte der Fotograf Michael Ruetz (Idee, Konzept, Bildkommentare, Nachwort) dem Band »Pogrom 1938« voranstellen können, den er gemeinsam mit Astrid Köppe (Recherche, Redaktion) realisierte. Das Buch ist in Kooperation mit der Akademie der Künste in Berlin entstanden und wurde am 9. November 2018 bei einer Veranstaltung im Beisein des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier vorgestellt – und war bald vergriffen.

 

Nun aber bietet sich, wie der Verlag mitteilte, die unverhoffte Gelegenheit, doch noch die Foto- und Textdokumentation beim Verlag oder über den Buchhandel zu erwerben, »da durch die Remission eines Großverteilers doch noch etliche Exemplare« verfügbar sind. Meine dringende Empfehlung lautet: zugreifen.

 

Fast alle in dem Buch gezeigten Fotografien entstanden im Kontext der Pogromtage um den 9. November 1938 in Deutschland und Österreich. Sie stammen aus rund 1200 Archiven sowie von Gemeinden, Vereinen und Privatpersonen, wie die Autoren angeben. Im Fokus stehen Schaulustige, eben »Das Gesicht in der Menge«, wie der Untertitel heißt. Kurze Kommentare Ruetz‘, Augenzeugenberichte und Auszüge aus Texten zum Pogrom ergänzen die Abbildungen. »Keiner von denen, die man in den Bildern sieht, war unbeteiligt«, schreibt Ruetz. »Wer dabei war, war dabei. Alle liefen neugierig zusammen. Das wollte man sich nicht entgehen lassen.« – Was, wenn es damals schon Selfies gegeben hätte?

 

Die Recherche zu den Bildern und Texten führte die Verfasser quer durch die deutschen und österreichischen Lande, von der Kleinstadt Norden in Ostfriesland über Wismar im heutigen Mecklenburg-Vorpommern bis nach Tiengen an der Grenze zur Schweiz, natürlich auch nach München, in die »Hauptstadt der Bewegung«, und weiter nach Osten in die österreichischen Städte Linz und Graz. Das Pogrom – »ein gut organisierter, kontrollierter Bürgerkrieg, ein Landfriedensbruch im ganzen Land« – fand »in etwa 2000 Ortschaften statt, also überall in Deutschland, auch im kleinsten Kaff. Beauftragt und begangen von den staatlichen Autoritäten, die dergleichen zu verhindern [gehabt] hätten« (Michael Ruetz).

 

In einem emotionalen Vorwort sinniert die Filmemacherin Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste, Berlin, 1943 in Argentinien geboren, da – im Gegensatz zu einem Teil der Familie – ihre Eltern Europa noch rechtzeitig vor ihrer Ergreifung verlassen konnten: »Kann man in diesem Land noch leben? Diese Frage stellen sich Menschen wie ich jeden Tag. […] Das erneute Aufleben des Nationalismus lässt mich zweifeln. Ich kann nicht mehr behaupten, dass ein Pogrom wie das vom 9. November 1938 in Deutschland nicht mehr möglich ist. Und doch halte ich an meiner Vorstellung fest: Die Nachbarn würden helfen, nicht untätig bleiben, sie würden nicht rauben und plündern. Die Passanten, die Bürger, würden Widerstand leisten.«

 

Auf was sich diese Hoffnung gründet, lässt die Autorin offen.

 

*

 

Es war in der Bundesrepublik Deutschland seit jenen November-Tagen, denen noch viele schrecklichere Tage folgten, noch kein Vierteljahrhundert vergangen, da pfiffen die Rattenfänger wieder und eroberten die Straßen für ihre anachronistischen Umzüge.

 

Nach Vorläufern wie der Deutschen Reichspartei (DRP) – einer meiner Gymnasiallehrer war Anhänger – in den 1950er Jahren wurde 1964 die Nationaldemokratische Partei Deutschlands, die NPD, gegründet, auch heute noch in allen 16 Bundesländern organisiert, 2017 vom Bundesverfassungsgericht als eindeutig verfassungsfeindlich bezeichnet, aber nicht verboten. Vier Jahre nach ihrer Gründung war die Partei in sieben westdeutschen Landtagen vertreten.

 

Wie sehr die NPD damals die Öffentlichkeit aufwühlte, teilweise polarisierte, lässt sich auch daran ablesen, dass der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno (1903–1969), einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie der »Frankfurter Schule«, am 6. April 1967 auf Einladung des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs an der Wiener Universität einen Vortrag hielt, der die Erfolge der NPD zum Thema hatte: »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«.

 

Adorno hatte 1959 einen Vortrag gehalten, »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, in dem er »die These entwickelt[e], daß der Rechtsradikalismus dadurch sich erklärt oder daß das Potential eines solchen Rechtsradikalismus, der damals ja eigentlich noch nicht sichtbar war, dadurch sich erklärt, daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen«.

 

Jetzt, knapp zehn Jahre später, erläuterte Adorno, was er damit meinte: »in erster Linie […] die nach wie vor herrschende Konzentrationstendenz des Kapitals«. Sie »bedeutet nach wie vor […] die Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, […] die ihre Privilegien, ihren sozialen Status festhalten möchten und womöglich ihn verstärken«. Von »Armut bedroht«, sehen sie, »daß trotz Vollbeschäftigung und all dieser Prosperitätssymptome das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit nach wie vor umgeht in einem solchen Maß, daß im Zeitalter der Automatisierung […] auch die Menschen, die im Produktionsprozeß drinstehen, sich bereits als potentiell überflüssig […], sich [eigentlich] als potentielle Arbeitslose fühlen«.

 

Die Ausführungen von Adorno sind im Juli 2019 erstmals in gedruckter Form erschienen, aus Tonbandaufnahmen erstellt. Sie lesen sich, wie der Historiker und Publizist Volker Weiß in seinem Nachwort schreibt, »passagenweise wie ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen«. Heute zeige »die immense Zugkraft frauenfeindlicher und homophober Agitation in Zeiten der Gleichberechtigung oder die Renaissance des religiösen Fundamentalismus inmitten einer säkularen Gegenwart, wie trügerisch es ist, sich im Lichte des Erreichten zivilisatorisch sicher zu fühlen«. Und so lese sich die Rede Adornos »wie eine Flaschenpost an die Zukunft«.

 

Eine Metapher, die auch auf den Bildband über die November-Pogrome zutrifft.

 

Adorno beendete seinen Vortrag mit einem Satz von zeitloser Gültigkeit: »Wie diese Dinge weitergehen und die Verantwortung dafür, wie sie weitergehen, das ist in letzter Instanz an uns.«

 

 

Michael Ruetz: »Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge«, 156 Seiten, Nimbus Verlag, 29,80 €; Theodor W. Adorno »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, mit einem Nachwort von Volker Weiß, 89 Seiten, Suhrkamp Verlag, 10 €