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Titel1711

Kriegsbilder aus Libyen  (Alessandro Londero)

Am 28. Juli überquerten wir – acht Italiener mit humanitären Absichten – die Grenze von Tunesien nach Libyen, um dann nach Tripolis weiterzufahren. Die Situation an der Grenze war angespannt. Auf beiden Seiten gab es kilometerlange Schlangen von Reisenden. Viele Libyer kehrten zurück, um den Ramadan in ihrer gemarterten Heimat zu verbringen, andere verließen das Land, oder sie versuchten, sich jenseits der Grenze mit Benzin einzudecken. Der Mangel an Treibstoff fiel sofort ins Auge. Die beiden einzigen Tankstellen, die wir auf der nächtlichen 300-Kilometer-Fahrt passierten, wurden von Fahrzeugen, die auf die Öffnungszeit warteten, buchstäblich belagert. Bei unserer Rückfahrt gab es dort keine Autoschlangen, Benzin war nicht mehr aufzutreiben.

Nach unserer Ankunft im »Rixos«, einem Fünf-Sterne-Hotel für Journalisten, dem einzigen, das noch richtig arbeitet, nahmen wir gleich die Bombenexplosionen wahr. Sie dauerten, mit einer kurzen Unterbrechung in der Nacht vom 1. zum 2. August, die ganze Zeit an und wurden dann noch stärker. Unglaublicherweise hatten wir uns nach zwei, drei Tagen an sie gewöhnt. Der Bombenlärm bildete eine makabre Geräuschkulisse, die uns ständig begleitete.

Der Krieg hat in der Bevölkerung zu beeindruckendem Zusammenhalt geführt. Wer kein Benzin hat, zahlt dem, dessen Auto noch fährt, einen Dinar. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht mehr. Immer weniger Geschäfte sind geöffnet. Lebensmittel und alles Lebensnotwendige werden zur Mangelware.

Die NATO-Bomben treffen militärische Ziele und manchmal auch zivile; in diesen Tagen wurden in Tripolis Kraftwerke, Stromleitungen, Rundfunk- und Fernseh-Einrichtungen angegriffen. Häufig ist die Strom- und Wasserzufuhr unterbrochen. Das systematische Bombardement hat nichts mit einer »Flugverbotszone« zu tun, von der die Angreifer zu ihrer Rechtfertigung sprechen. Für das, was die NATO hier anrichtet, gibt es keine Rechtsgrundlage.

Mit dem Angriff auf das libysche Fernsehen am 31. Juli wurde die Informationsfreiheit bombardiert. Aber nach wenigen Stunden Unterbrechung begann der Sendebetrieb wieder. Die NATO rechtfertigte den Angriff, die drei Toten und 15 Verletzten mit dem Vorwurf, die libyschen Programme stachelten mit ihren Bildern Gewalt an. Wir haben uns die Sendungen angesehen: Sie zeigten Menschen, die demonstrierten, Berichte über den Krieg, Interviews, Nachrichten, politische Propaganda und hin und wieder auch eine Seifenoper und Werbung.

Wenn man den Kühlschrank öffnet, findet man nicht Genießbares; nach spätestens zwei Tagen ohne Strom ist bei 35 bis 37 Grad alles verdorben. Aus der Ferne versteht man nicht, was es heißt, wenn es kein Benzin gibt, um einkaufen fahren zu können, wenn die Regale in den Supermärkte sich leeren, und die Vorräte verderben, weil der Strom fehlt. Es leiden Menschen, denen es vorher gut ging und deren Leben jetzt zerstört wird. Kleine Kinder erhalten keine Milch mehr, Diabetiker können ihr Insulin nicht gekühlt halten. Das sind nur ein paar Beispiele für vieles, woran man aus der Ferne nicht denkt.

Leider sieht es so aus, als erlaubte die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats, ein Volk in eine solche Notlage zu bringen, daß ihm jegliche Mittel fehlen, um sich zu verteidigen, und zuletzt es völlig erschöpft ist. Die Schwächsten, die Kinder und Alten, sind am stärksten betroffen. Offenbar will die NATO dieses Volk in eine solche Notlage bringen.

Nachdem die NATO die libysche Luftwaffe und Marine zerstört hat, ist es für sie ein Kinderspiel, über Tripolis hinwegzufliegen. Die einzigen verbliebenen Mittel zur Verteidigung sind jetzt leichte Artillerie und Kalaschnikows. Schnellfeuerwaffen wurden millionenfach an die Bevölkerung verteilt.

Nach dem Gebet strömen die Menschen auf die Marktplätze und schreien ihre Wut hinaus. Sie richten ihren Blick hinauf zum Himmel, wo die Flugzeuge der Alliierten mit ihrer Arbeit zum »Schutz der Zivilisten« erbarmungslos fortfahren.

Am 3. August fahren wir zusammen mit Journalisten nach Zlitan. Diese Stadt liegt nur wenige Kilometer von Misurata und der Front entfernt. Entlang der Straße finden wir die schon gewohnte Trostlosigkeit vor. Es gibt kaum noch Versorgungseinrichtungen. Gleich bei der Ankunft sehen wir zerstörte Wohngebäude. In einer Ruine harren viele Leute auf den Trümmern aus. Wir erfahren, daß zwei Kinder, ihre Mutter und ihre Großmutter ums Leben gekommen seien. Ziel des Angriffes sei ein Professor gewesen, ein Freund der Familie Gaddafi. Er scheine sich gerettet zu haben.

Wir fahren zu einem Krankenhaus. Unterwegs sehen wir einen Trauerzug für einige Menschen, die ebenfalls im Morgengrauen dieses Tages ums Leben gekommen sind. Wir halten bei einer bescheidenen Moschee. Innen beten einige Hundert Menschen. Am Kopfende des Saales stehen drei Särge. Nach dem Gebet gehen die Menschen zu den Särgen, schlagen die Tücher zurück, die das Grauen verhüllten. Wir sehen zwei schwerverletzte Kinder und einen Erwachsenen. Zwei Männer weinen besonders laut. Einer ist der Vater, der andere der Bruder eines der Opfer. Die Gesichter der kleinen Kinder sind fürchterlich entstellt. Das ist der Krieg, wie ihn die Kampfpiloten niemals zu sehen bekommen.

Wir warten, bis die armen Opfer begraben sind. Am Schluß sehen wir, wie der Bruder eines der Opfer mit dem Schnellfeuergewehr in den Himmel ballert, als wolle er damit sein ganzes Leid und seinen Haß auf die Kindermörder dem Gewehrlauf schießen. Er blickt zum Himmel hinauf und schreit etwas auf Arabisch. Ich weiß nicht, was er sagt, aber alle können es sich denken: »Seht her, was ihr angerichtet habt! Welche Schuld hatten diese Kinder? Warum haßt ihr uns? Warum laßt ihr uns nicht in Frieden?«

Auf der Rückfahrt kommen wir an einer Schule vorbei, die von den Bomben restlos zerstört wurde. Ich frage ein Kind, ob es weiß, warum sie beschossen wurde. Als ihm klar wird, daß ich Italiener bin, dreht es sich wütend um und geht weg, ohne sich nochmals umzusehen. - Die Schule wurde um 5.30 Uhr getroffen. Ein Journalist sagt uns, daß sie um diese Zeit bombardieren, weil sie wissen, daß die Kinder dann noch nicht in ihren Klassen sitzen. Ich frage: »Aber warum ein Schule?« Die Antwort läßt erschrecken: »Weil sich möglicherweise Regierungssoldaten dort verstecken und während der Nacht ausruhen. In den Kasernen wären sie ein leichtes Ziel für die Bombenangriffe.« So lässt sich auch eine Schule, ein Kinderkrankenhaus, eine Moschee als militärisches Ziel legitimieren.

Namhafte Kritiker sagen, die NATO habe den Krieg und mit ihm ihr Gesicht schon verloren, als Millionen Libyer auf die öffentlichen Plätze strömten und gegen diese Intervention und für ihren Revolutionsführer demonstrierten. Man kann versuchen, das alles vor der Welt zu verheimlichen. Die Medien helfen dabei, filtern die Nachrichten, zensieren, was nicht bekannt werden soll. Früher oder später aber wird die Wahrheit herauskommen.

Wer herkommt und in die Gesichter dieser Unschuldigen blickt, begreift, daß wir, die NATO-Staaten, nicht so gut sind, wie wir uns dünken. Und daß man diesen Krieg hätte vermeiden müssen. Und daß man ihn stoppen muß, bevor unser letztes bisschen Würde verloren geht.

Autor dieses von Bernd Duschner übersetzten Berichts ist ein italienischer Unternehmer. Italien gehört zu den NATO-Staaten, die sich unmittelbar an dem Bombenkrieg beteiligen. Die US-amerikanische Einsatzzentrale befindet sich in Deutschland nahe Stuttgart.