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Titel1711

Sozialabbau 2011, Folge 11  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

31. Juli: Trotz guter Konjunktur haben im ersten Halbjahr 2011 nach einer Studie des DGB 1,442 Millionen Beschäftigte ihre Arbeitsplätze verloren, unter ihnen 908.000 Beschäftigte mit betrieblicher Ausbildung, während Unternehmer und Politiker immerzu über Fachkräftemangel klagten.

1. August: Die Geringqualifizierten erleiden seit 1990 Reallohnverluste, die sich ab 2005 nochmals beschleunigt haben, berichtet die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift IAB-Forum des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Das Lohnniveau der Geringqualifizierten befinde sich derzeit wieder auf dem Niveau von Mitte der 1980er Jahre. »Bis etwa zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung stiegen die Reallöhne auch für die Geringqualifizierten noch deutlich an. Seitdem sinken sie.« Deutschland gelte heute als eines der OECD-Länder mit dem höchsten Anstieg der Lohnungleichheit.

2. August: Seit Mitte der 1980er Jahre nimmt die Arbeitszufriedenheit von Beschäftigten in Deutschland in einem langfristigen Trend ab, stellt das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen in seinem jüngsten Report fest. Besonders stark sei der Rückgang bei älteren Arbeitnehmern jenseits des 50. Lebensjahres. Ursachen dafür seien Intensivierung der Arbeit in den Betrieben, Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geringe Lohnsteigerungen und wachsende Unsicherheit bezüglich der beruflichen Zukunft.

– Eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) belegt, daß die Altersarmut in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Die Schere zwischen armen und wohlhabenden Rentnerhaushalten sei weiter auseinandergegangen, die Zahl der Rentnerhaushalte unterhalb der Armutsgrenze (870 Euro) auf 11,5 Prozent im Jahr 2009 gestiegen.

3. August: Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wachsen 15 Prozent der rund 14 Millionen jungen Menschen unter 18 Jahren in armen Verhältnissen auf. Für ein Fünftel der Kinder seien Urlaubsreisen finanziell unerschwinglich. Sieben Prozent der Haushalte mit Kindern können der Statistik zufolge keine aktive Freizeitgestaltung wie Sport oder Musizieren bezahlen.

4. August: Die taz berichtet über den Fall einer arbeitslosen krebskranken Frau, deren Wohnung vom Jobcenter durchsucht wurde, während sie im Frühjahr längere Zeit im Krankenhaus lag: Eine Bekannte von ihr kümmert sich in der Zeit ihrer Abwesenheit um den Schriftverkehr mit dem Jobcenter. Da die Papiere aber nicht in der Akte der Frau landen, wird ihr das Geld für den Monat Mai gestrichen. Anfang Mai dringt ein Mitarbeiter des Jobcenters zusammen mit der Vermieterin ohne das Wissen der kranken Frau in deren Wohnung ein. Später heißt es, das »Mißverständnis« sei geklärt worden, allerdings muß die »Hartz-IV«-Empfängerin einen Monat warten, bis das Jobcenter ihr das ausstehende Geld überweist. Für die Monate Mai, Juni und Juli werden ihr dann trotzdem noch zehn Prozent des Sozialgeldes gestrichen, da während der Zeit des Krankenhausaufenthalts der Postzugang nicht gewährleistet gewesen sei, berichtet die taz. Sie zitiert Jürgen Freier von der Berliner Kampagne gegen »Hartz IV«: »Es hat seit Einführung des Arbeitslosengeldes II immer wieder Gesetzesverschärfungen gegeben, die für die Betroffenen noch mehr Kontrolle bedeuten.« Bei den Jobcenter-Mitarbeitern führten die Regelungen zu einem grundsätzlichen Mißtrauen und weichten ihre »grundrechtliche Sensibilität« auf.

5. August: Die Unternehmen müssen sich keine Sorgen machen, daß die Bundesbürger zu viel von den Gewinnen abbekommen wollen. Die Deutschen zeigen sich genügsam: Angesichts der Wirtschaftslage halten sie im Durchschnitt ein Lohnplus von 2,5 Prozent für angemessen. Das geht aus einer Umfrage der Hamburger Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung (GMS Dr. Jung) für den Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie hervor.

8. August: Immer mehr Menschen in Berlin, die sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten können, ziehen in die Hochhaussiedlungen am Stadtrand der Hauptstadt. Sie gehen »dorthin, wo der Leerstand hoch, die Nachfrage gering, der Preis entsprechend niedrig ist: nach Marzahn, Reinickendorf und Spandau«, berichtet die taz. So habe zum Beispiel Spandau einen deutlichen Zuzug von »Hartz IV«-Beziehern zu verzeichnen: »Zwischen Februar 2010 und Februar 2011 zogen 809 Jobcenter-»Kunden« mehr in den Westbezirk als diesen verließen.« Darunter seien immer mehr Menschen, die bis dahin im Berliner Bezirk Kreuzberg lebten. Dort werden inzwischen kleine Ein- bis Zweizimmerwohnungen um bis zu 60 Prozent teurer angeboten als im Mietspiegel ausgewiesen, berichtet Sozialpsychologe Martin Breger im Neuen Deutschland. »Das bedeutet, wer hier einziehen will, muß an die zehn Euro pro Quadratmeter Kaltmiete zahlen.«

10. August: Die Krise hat den Banken nichts ausgemacht, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in seinem aktuellen Wochenbericht fest: »Inzwischen sind die Banken größer als vor der Krise.« Die politischen Maßnahmen im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise hätten das fremdkapitalgetriebene Wachstum der Banken nur kurzfristig gebändigt.

11. August: Mehr als 180.000 Menschen müssen jedes Jahr ihren Beruf wegen eines Unfalls oder einer Krankheit aufgeben, doch sie erhalten deutlich weniger Geld aus der gesetzlichen Rentenkasse als noch vor zehn Jahren. Darauf verweist der Sozialverband Deutschland (SoVD) und beruft sich auf Zahlen der Rentenversicherung. Demnach bekam ein Mann im Jahr 2000 bei Neuanmeldung seiner Berufsunfähigkeit noch durchschnittlich 817 Euro Erwerbsminderungsrente im Monat; 2009 waren es nur noch 672 Euro. Bei den Frauen wurde von 629 Euro auf 611 Euro gekürzt. Immer mehr Betroffene seien sogar auf Grundsicherung, also »Hartz IV«, angewiesen: Ihre Zahl hat sich zwischen 2003 und 2009 von 181.000 auf 364.000 verdoppelt.


Wo bleiben Deine Steuern –?
Wenn einer keine Arbeit hat,
ist kein Geld da.
Wenn einer schuftet und wird nicht satt,
ist kein Geld da.
Aber für Reichswehroffiziere
Und für andre hohe Tiere,
für Obereisenbahndirektionen
und schwarze Reichswehrformationen,
für den Heimatdienst in der Heimat Berlin
und für abgetakelte Monarchien –
dafür ist Geld da.

Für Krankenhaus und Arbeiterquartier
Ist kein Geld da.
Für den IV. Klasse-Passagier
Ist kein Geld da.
Aber für Wilhelms seidne Hosen,
für prinzliche Zigarettendosen,
für Kleinkaliberschützenvereine,
für Moltkezimmer und Ehrenhaine,
für höhere Justizsubalterne
und noch eine, noch eine Reichswehrkaserne –
dafür ist Geld da.

Wenn ein Kumpel Blut aus der Lunge spuckt,
ist kein Geld da.
Wenn der Schlafbursche bei den Wirten zuguckt,
ist kein Geld da.
Aber für Anschlußreisen nach Wien,
für die notleidenden Industrien
und für die Landwirtschaft, die hungert,
und für jeden Uniformierten, der lungert,
und für Marinekreuzer und Geistlichkeiten
und für tausend Überflüssigkeiten –
da gibt’s Zaster, Pinke, Moneten, Kies.
Von deinen Steuern.
Dafür ist Geld da.

Kurt Tucholsky (1926)