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Titel1714

14. September – Tag der Instrumentalisierung  (Renate Hennecke)

Nach Bayern und Hessen soll nun auch in Sachsen jährlich am zweiten Sonntag im September (in diesem Jahr der 14. September) mit einem Gedenktag für die deutschen Heimatvertriebenen an das »Leid der Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedelung« erinnert werden. Das beschloß der Landtag in Dresden am 18. Juni mit den Stimmen von CDU und FDP. Wunschperspektive der Initiatoren in allen drei Ländern: Ausdehnung des Gedenktages auf die ganze BRD oder – noch lieber – auf ganz Europa.

Die Frage ist, woran wir uns erinnern sollen. In ihrem Buch »Die Vertreibung im deutschen Erinnern – Legenden, Mythos, Geschichte« haben die Historiker Eva und Hans Henning Hahn auf die breite Vielfalt der Lebenswege jener Menschen hingewiesen, die in Deutschland als »Heimatvertriebene« bezeichnet werden. Und auf die enge Auswahl der Schicksale, die uns seit jeher präsentiert werden. Eine Auswahl, die von Anfang an wesentlich von politischen Interessen bestimmt war. Ins Rampenlicht gestellt werden Geschichten, die sich eignen, die Doktrin vom »Unrecht der Vertreibung« als unumstößliche Wahrheit erscheinen zu lassen. Zeitzeugen, deren Geschichten dazu nicht passen, finden nur selten Gehör. Nicht zuletzt die Statistiken belegen, wie wenig das Leid der Menschen in Wirklichkeit interessiert: Von fünf bis 20 Millionen reichen die Angaben über die Zahl der deutschen »Vertriebenen«, und bisher hat die deutsche Historiographie nicht die Mühe auf sich genommen, herauszufinden, welche und wie viele Menschen es jeweils auf welchen Wegen und unter welchen Umständen wohin verschlagen hat. Kann man von ernsthaftem Erinnern an das Leid von Millionen sprechen, wenn man nicht einmal bereit ist, zu erforschen, wie dieses Leid konkret aussah?

Die Hahns zeigen auf, daß die Geschichten eines Großteils der »Heimat-vertriebenen« keineswegs dem gängigen Geschichtsbild von den großen Trecks entsprechen, die im Januar 1945 bei eisigen Temperaturen vor der Roten Armee in Richtung Ostseeküste flohen. Da gab es zum Beispiel die »geplante humanitäre Katastrophe«, die sich auf Befehl der NSDAP schon im Sommer 1944 mit der Zwangsevakuierung der Zivilbevölkerung aus den östlichen Teilen des Großdeutschen Reiches abspielte. Sie diente angeblich der »Rettung deutschen Blutes im Osten« und brachte unendliches Leid über die Betroffenen. Da waren die Kollaborateure, die mit der Wehrmacht nach Westen abrückten – ihre Angst vor der Roten Armee hatte nachvollziehbare Gründe, aber wurden sie unrechtmäßig »vertrieben«? Waren sie Opfer von »Vertreiberstaaten« – oder Opfer des deutschen Faschismus? Waren sie überhaupt Opfer? Wer den Mythos von der kollektiven Unschuld ablehnt, sollte das Thema »Flucht und Vertreibung« nicht peinlich berührt von sich wegschieben, sondern konkrete Fragen stellen.

Meine konkrete Frage gilt der »Vertreibung« in der eigenen Familiengeschichte. Ich wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg in Niedersachsen in dem Verständnis auf, daß wir Flüchtlinge seien, der Vater aus Pommern, die Mutter aus Ostpreußen. Bei der Pommerschen Landsmannschaft lernte ich, wie man sich so eine Flucht vorzustellen hat (Treck, erfrorene Säuglinge, Panjewagen, die bei der Fahrt übers Haff ins Eis einbrechen et cetera). Was meine Eltern bei ihrer »Flucht« erlebt hatten, erfuhr ich nicht. Viel später entnahm ich hinterlassenen Dokumenten, daß mein Vater – Offizier an der »Ostfront« und Anfang 1945 verwundet – sich rechtzeitig vom Lazarett in Schwerin aus nach Niedersachsen durchgeschlagen hatte und auf diese Weise mit ein paar Monaten britischer statt jahrelanger russischer Kriegsgefangenschaft davongekommen war.

Und meine Mutter? Ihr deutsch-national gesinnter Vater war Staatsanwalt, dann Oberstaatsanwalt. Als solcher wurde er an verschiedene Gerichtsorte im »deutschen Osten« versetzt: Allenstein, Königsberg, Tilsit, Memel waren einige Stationen. Ab 1936 dann Naumburg an der Saale (Sachsen-Anhalt). Daß meine Mutter 1916 im ostpreußischen Allenstein (heute Olsztyn) geboren wurde, war also ein Zufall und hatte nichts mit »angestammter Heimat« zu tun. Ihre Ausbildung als Lehrerin für Landfrauen machte sie in Sachsen-Anhalt. 1941 wurde sie an die Landfrauenschule in »Wittingen« versetzt. Es handelte sich um eine Schule im besetzten Polen (im sogenannten Reichsgau Wartheland), aber das wurde mir erst klar, als ich vor einigen Monaten einen Stapel Briefe in die Hand bekam, die sie 1942/43 von »Wittingen« (Witkowo) aus an ihre Eltern in Naumburg geschrieben hat. Aus den Briefen bekommt man einen lebendigen Eindruck vom Leben an der Schule. Unterrichtet wurden dort junge Mädchen und Frauen aus deutschstämmigen Bauernfamilien, die aus anderen Gegenden (unter anderem baltische Länder, Wolhynien, Bessarabien) in den »Warthegau« umgesiedelt worden waren, um diesen zu »germanisieren«. Unterrichtsfächer waren neben Haushaltsführung, Ernährungslehre, Handarbeit, Wäschepflege, Gartenbau, Säuglingspflege und Kleintierzucht auch deutsche Literatur und Volkstumspflege. In ihren Briefen zeigte sich meine Mutter – sie war damals 26 Jahre alt – als sympathische, verantwortungsbereite junge Frau und keineswegs als eifernde Nazisse. Umso erschreckender für mich, mit welcher Selbstverständlichkeit sie den besetzten »Warthegau« als deutsches Gebiet betrachtete (mittlerweile weiß ich, daß dies ganz allgemein, von ganz rechts bis ganz links, als selbstverständlich galt). Die engagierte Lehrerin nahm es hin, daß Bildung ein Privileg der Herrenrasse sein sollte, von dem die polnischen Kinder ausgeschlossen waren. Auch hatte sie offenbar keinerlei Probleme damit, sich an dem Germanisierungsprojekt zu beteiligen. Am 17. April 1942 schrieb sie: »Ich habe mich jetzt ziemlich viel mit dem Aufbau der Bauernhöfe und Dörfer nach dem Kriege beschäftigt. Dann kommen ja noch die meisten Polen fort. Die Bauplanung ist sehr interessant zu verfolgen. Ganz leicht ist es ja nicht, hier einen richtigen Stil zu finden, da die Deutschen aus allen Gegenden stammen, und jeder hatte in der früheren Heimat eine andere Art Hof und Haus, und in die Landschaft muß dazu auch alles noch passen.« Schockierend die selbstverständliche Brutalität, die Beiläufigkeit ihres Rassismus. In einem Bericht über ihren Besuch in der Nachbarstadt Posen (Poznań) heißt es: »Gestern war ich am Vormittag längere Zeit im Stadtpark und Palmenhaus und wollte dann Frau W. besuchen, doch sie war nicht zu Hause. Deshalb ging ich dann in den Zoo, der mir aber nicht sehr gefallen hat. Furchtbar enge Käfige für alle Tiere, bei denen auch gar nicht auf ihre Lebensgewohnheiten, Klettern und so weiter, eingegangen war. Der Königsberger Tiergarten war viel größer, schöner und vollständiger. Dazu wimmelte es von Polen im Zoo. Man merkte dabei, daß es doch noch viel mehr Polen in Posen gibt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.« Oder über ihre Eindrücke in Łódź (»Litzmannstadt«): »Litzmannstadt ist eine häßliche typische Industriestadt, dabei noch recht rückständig und ungepflegt. Trotz seiner 800.000 Einwohner hat es nur eine ordentliche Straße, in der dann auch die größeren Geschäfte, besonders viele Stoffgeschäfte liegen. Das Getto ist ein wenig schöner Anblick. Im Kino sah ich einen Film aus dem irischen Freiheitskampf.«

Meine Mutter wurde aus Polen vertrieben, ebenso ihre Kolleginnen und Kollegen, ihre Chefs und die Germanisierungsplaner. Das war zweifellos mit Leid verbunden. Dennoch läßt sich mit ihren Geschichten kein »Unrecht der Vertreibung« anprangern. Wir werden deshalb solche Geschichten am 14. September nicht hören. Wohl aber die Zahl von 15 Millionen deutschen Heimatvertriebenen, denen Unrecht geschah. Statt Gedenktag sollte es besser Tag der Instrumentalisierung von Leid heißen; es wäre ehrlicher.