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Titel1715

Obama droht mit Freundschaft  (Volker Hermsdorf)

US-Präsident Barack Obama hat dem sozialistischen Kuba die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. So ist es jedenfalls seit Monaten in hiesigen Leitmedien zu sehen, zu hören und zu lesen. Kaum ein Bericht verzichtete am 1. Juli, nach Obamas Ankündigung der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen darauf, seinen an die Kubanerinnen und Kubaner gerichteten Satz zu zitieren: »Wir sind Nachbarn; jetzt können wir Freunde werden.« Das klang wie eine Drohung.


Die Bundesrepublik und andere Länder Europas können ein Lied davon singen, was es heißt, von Washington als »Freund« bezeichnet zu werden. Flächendeckende Überwachung der Kommunikation von Regierung, Politikern und Bevölkerung, systematisches Ausspionieren von Unternehmen und Wirtschaft, Missachtung internationaler Vereinbarungen und nationaler Gesetze sowie die Nötigung zu Handlungen, die – wie etwa die Sanktionen gegen Russland – den eigenen Interessen schaden, sind nur einige der Aufmerksamkeiten, die Washington befreundeten Nationen angedeihen lässt. Wenn ein Präsident der Vereinigten Staaten das Wort »Freund« in den Mund nimmt, wünscht der so bezeichnete sich fast, er wäre stattdessen lieber als »Feind« angesprochen worden. Damit ist der Charakter der Beziehung zumindest klar und treffend formuliert. Nach jahrzehntelanger offener Feindschaft möchten Obama und die Mächtigen seines Landes nun also Kubas Freunde werden.


Auch die von Außenminister John Kerry, nach dem Hissen des Sternenbanners vor der US-Botschaft am Malecón von Havanna, angebotene »gute Nachbarschaft« klingt nach einer Mogelpackung. Sind Grenada, Honduras und Paraguay nicht ebenso Nachbarn wie all die anderen Länder der Region, in denen CIA, NED, USAID und von Washington alimentierte Contra-Banden progressive Regierungen mit blutigen Staatsstreichen beseitigten und dabei Arbeiter, Bauern, Gewerkschafter, Studenten und alle, die linker Überzeugungen verdächtig sind, massakrierten? »Die Völker Amerikas sind freier und glücklicher, je weiter sie sich von den Vereinigten Staaten abwenden«, schrieb Kubas Nationalheld José Martí kurz bevor er 1895 im Unabhängigkeitskrieg gegen die spanische Kolonialmacht starb. Martís Einschätzung ist noch aktuell. Die verdeckten und offenen Aktivitäten von US-Diensten zur Destabilisierung progressiver Regierungen in Bolivien, Ecuador, Argentinien, Brasilien, El Salvador, Nicaragua und vor allem in Venezuela belegen das. Auch ein Regime Change in Kuba steht weiterhin auf Washingtons To-do-Liste.


Doch angesichts gewaltiger ökonomischer Vorhaben, neuer gesellschaftlicher Herausforderungen etwa durch den wachsenden privaten Sektor oder der zu erwartenden rasanten Verbreitung neuer Kommunikationstechniken sowie des Generationenwechsels in Politik, Wirtschaft und Institutionen, hilft es Kuba nicht weiter, wie ein Kaninchen auf die Schlange zu starren. Wer sich nicht bewegt wird gefressen, scheint die Devise der Verantwortlichen in Havanna zu lauten. 54 Jahre nach den am 3. Januar 1961 von US-Präsident Dwight D. Eisenhower einseitig abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zum sozialistischen Kuba sind die von Raúl Castro und Barack Obama eingeleiteten Schritte zur Normalisierung ein Kompromiss in einer festgefahrenen Situation, aus der beide Seiten – mit jeweils unterschiedlichen Interessen – herauswollen. Während John Kerrys Besuch in Havanna betonte Außenminister Bruno Rodríguez am 14. August erneut das Interesse Kubas, »die Beziehungen unter Berücksichtigung der Achtung der Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten wieder herzustellen«. Trotz aller Differenzen sei es zwischen beiden Regierungen möglich, »konstruktive Beziehungen einzugehen, die sich von denen der gesamten bisherigen Geschichte unterscheiden«.
Kommentatoren bundesdeutscher Leitmedien begleiten den Prozess auf ihre unverkennbare Art, schreiben vom »Tauwetter«, dem »Ende der Eiszeit« und – da sind sich FAZ bis taz einig – heben gegenüber Kuba den belehrenden Zeigefinger. Es sei an der Zeit, sich zu ändern, einen Schlussstrich unter das Geschehene zu ziehen und den Blick nach vorn zu richten, heißt es nach dem bekannten bundesdeutschen Muster zur Vergangenheitsbewältigung. Was war, ist vorbei. Sprechen wir nicht mehr davon: Schwamm drüber!


176 getötete und mehr als 300 verletzte Kubanerinnen und Kubaner sowie 200 Opfer auf Seiten der Angreifer bei der mit Hilfe der USA vorbereiteten Invasion in der Schweinebucht im April 1961. Ist lange her: Schwamm drüber!


73 zerfetzte Passagiere der DC-8 mit Flugnummer CU 455 der Cubana de Aviación, die am 6. Oktober 1976 kurz nach dem Start in Barbados durch eine Bombe in der Luft zerrissen wurde. Einer der beiden Auftraggeber, der ehemalige CIA-Agent Luis Posada Carriles, lebt – obwohl er sich zu diesem und weiteren Terroranschlägen bekennt – unbehelligt in Miami, verhöhnt die Opfer und empfängt Systemgegner aus Kuba. Vergessen wir’s: Schwamm drüber!


3478 Tote und 2099 auf Dauer körperlich Versehrte, die den 713 gegen Menschen und Einrichtungen Kubas seit 1959 verübten Anschlägen zum Opfer fielen. Zerstörte Familien, das Leid der Hinterbliebenen. Wozu an alten Wunden rühren: Schwamm drüber!


Pestizideinsätze gegen Nutzpflanzen und Bauern, 14.000 in den Jahren 1960 bis 1962 mit der CIA-Operation Peter Pan entführte Kinder, die Liste der von den USA gegen Kuba verübten Grausamkeiten ist lang. Schwamm drüber!


Die Rückgabe der Bucht von Guantánamo, die laut Pachtverträgen von 1903 und 1934 von den US-Militärs ausschließlich als Nachschubbasis für die Versorgung ihrer Schiffe genutzt werden darf, mittlerweile jedoch zum berüchtigtsten Gefängnis und Folterzentrum der Neuzeit ausgebaut wurde. Für Obama, Kerry und viele Konzernmedien kein Thema. Schwamm drüber!


Und schließlich die seit 1962 über Kuba verhängte völkerrechtswidrige Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade, die trotz jährlicher Verurteilung durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen bis heute in Kraft ist. Der dadurch für Kuba verursachte wirtschaftliche Schaden beläuft sich mittlerweile auf mehr als 1,1 Billionen US-Dollar (circa 995 Milliarden Euro). Das Leid tausender Schwerstkranker, die sterben müssen, weil überlebensnotwendige Medikamente wegen der Blockade nicht von Kuba importiert werden dürfen, lässt sich mit Zahlen auch nicht erfassen.


Zumindest zu diesem Punkt geben sich Obama und Kerry gesprächsbereit, verweisen aber darauf, von den Republikanern im Kongress ausgebremst zu werden. Über die von US-Regierungen, ihren Geheimdiensten und deren Gedungenen an Kuba begangenen Verbrechen verlieren sie dagegen kein Wort, äußern kein Bedauern gegenüber den Opfern und deren Angehörigen, ganz zu schweigen von einer Entschuldigung. Die neue Kuba-Politik der USA besteht nach eigenen Aussagen in einer Änderung der Methoden zur Erreichung der alten Ziele. Als »gescheitert« bezeichnete Obama die bisherige Politik seines Landes gegenüber dem südlichen Nachbarn, nicht weil sie völkerrechtswidrig ist und Leid über unschuldige Menschen bringt, sondern weil sie das Ziel der Isolierung Kubas und der Zerstörung seines sozialistischen Gesellschaftssystems in den letzten 56 Jahren nicht erreicht hat. In einer ähnlichen Situation hatte sein Vorbild John F. Kennedy Anfang der 1960er Jahre mit der Formel »Wer den Status quo ändern will, muss ihn anerkennen« für eine neue Politik der USA gegenüber der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern Europas plädiert. Jetzt, kommentierte DDR-Außenminister Otto Winzer damals, komme die »Aggression auf Filzlatschen«.