erstellt mit easyCMS
Titel1717

Verstand ist das beste Kapital?  (Ingrid Zwerenz)

»Dem Kapitalismus wohnt ein Laster inne: Die ungleichmäßige Verteilung der Güter; dem Sozialismus hingegen wohnt eine Tugend inne: Die gleichmäßige Verteilung des Elends.« Winston Churchill (nachzulesen bei Bill Adler, Winston Churchills gesammelte Bosheiten)

 

 

Mit diesem so geistlosen wie bösartigen Zitat erreichen wir gleich die richtige Betriebstemperatur für unser Thema. Überdies ist es ein Beleg dafür, wie auch intelligente Menschen und Literaturnobelpreisträger in blinder Polemik weit unter ihr Niveau gehen können. Angepriesen wird die Premierminister-Definition als treffende Bosheit, mir scheint sie nicht boshaft, sondern bescheuert.

 

Ehe wir aus dem Argumentationsabgrund emporklettern, auf halbem Weg etwas kaum zu Tolerierendes von der in Holland geborenen jüdischen Marx-Mutter: »Wenn die Karell Kapital gemacht hätte, statt eins zu schreiben«, wäre das Frau Marx senior lieber gewesen. Marx karikiert im Brief an Engels die Ausdrucksweise der alten Dame, sie befreundete sich nie mit deutscher Grammatik und Orthographie, was ihr vom Sohn und den meisten Biographen schwer verübelt wurde. Die zahlreichen Zuwanderer exemplifizieren uns heute, welche ungeheure Anstrengung es erfordert, sich eine fremde Sprache zu erobern und erwarten mit Recht Toleranz sowie Geduld, beides brachte Karl Marx gegenüber der mütterlichen gewissermaßen frühen Zuwanderin nicht auf, wohl aber für Zuhörer 1850/51 in London, über die Wilhelm Liebknecht ausführlich berichtet. Dabei entwickelte er schon vollständig in den »Grundzügen sein System, wie es in dem ›Kapital‹ uns vorliegt«. Umsichtig vermied er alle den Arbeitern etwa unverständlichen Ausdrücke, so sehr er sonst jede Popularisierung, Vulgarisierung, Verfälschung hasste, hatte aber in diesen Veranstaltungen, lobt Liebknecht, »das Zeug zu einem vortrefflichen Lehrer«. Diese so lebendigen wie informativen Berichte finden sich in einem 1973 im Insel Verlag publizierten Sammelband unter dem Titel »Gespräche mit Marx und Engels«, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Verwiesen sei noch auf die Seite 349: Einer Studentengruppe, der die Begriffe fehlten, empfahl KM: Sagen Sie es lateinisch, das ist sowieso am besten, und war verblüfft, als er hörte, dass russische Gymnasiasten außerstande waren, sich des Lateinischen zu bedienen.

 

Über seine Karriere in Deutschland bemerkte Marx häufig, dass die »bourgeoisan Ökonomisten« sein Werk totschwiegen, desto mehr freute er sich über das Interesse in Russland.

 

Wissen Sie, wie viel Kapital ich mit dem »Kapital« erworben habe? testete er seine Zuhörer und rechnete die Einnahmen aus Band 1 zusammen.

 

Ganze 85 Mark.

 

Na, das änderte sich später, der Autor selbst wurde davon aber nicht reich.

 

Offen ist noch meine Ansicht über die Überschrift, für die ich ein altes Sprichwort gewählt habe: »Verstand ist das beste Kapital«. Auf solche Volksweisheiten ist nicht immer Verlass, so wenig wie auf den angeblich vom Weisen Salomon herrührenden Spruch: »Unrecht gut gedeihet nicht.« Und wie das gedeihet! Denken wir nur an die Handvoll Milliardäre, die eine Hälfte des Volksvermögens besitzen. Darunter sind sicher einige, die nicht ehrlich zusammenrafften, was sie einsackten. Ausgesprochen kriminell ist ein Ganove Apotheker aus Bottrop, der sich durch gefälschte Krebsmedikamente unglaublich bereicherte. Da mir im letzten Jahrzehnt 24 Chemotherapien verordnet wurden, male ich mir mit Schrecken aus, dass darunter auch nur klares Leitungswasser hätte sein können, und bedaure von Herzen alle Patienten, denen das passiert ist. Hoffentlich bekommt dieser aus Geldgier im wörtlichen Sinn über Leichen gehende Lump dreimal lebenslänglich.

 

Schwer erträglich ist auch die Präsentation einer sogenannten Dokumentation über Karl Marx, die im Juli und August 2017 im MDR lief. Verwandte und Freunde wiesen mich darauf hin, ich lag zu den Sendeterminen in der Klinik. Später fand ich diese Meldung im Netz:

»In einer aufwendig produzierten Dokumentation begeben wir uns auf die Spuren des Philosophen. Gestützt auf private Briefe, auf Geheimdienstdossiers und die Spitzelberichte des preußischen Innenministeriums zeichnen wir das spannende Porträt eines vom Schicksal schwer gebeutelten Visionärs. Marx' Leben gleicht einer Achterbahnfahrt. Zeitlebens zwischen Euphorie und Depression schwankend, ist er ein Genie mit vielen Macken: Geldverschwender, Macho und Ehebrecher, Dandy und Zocker, aber auch Kindernarr, einfühlsamer Poet und – last but not least – der wohl wirkungsmächtigste Philosoph, den die Welt bis heute gesehen hat.«

 

Großmäulig wird hier etwas als neu angepriesen, was jeder nicht gänzlich analphabetische Mensch schon seit Jahrzehnten im Buch hätte nachschlagen können. Kaum ein Detail dessen, was Marx auf dem Kerbholz hat, ist nicht bereits beim Schweizer Philosophen Arnold Künzli und der von ihm verfassten »Psychographie« schwarz auf weiß nachzulesen. Das 868 Seiten umfassende Werk erschien bereits 1966 im Europa Verlag Wien. Nicht behauptet wird allerdings von Künzli, dass die Marx-Familie Hunger und Not leiden und Engels sie retten musste, weil der Familienvater unglaublich faul gewesen sei – Künzli kreidet ihm an, dass er sich in seinen vielen Werken verzettelte – doch mangelnder Fleiß wird dem Denker aus Trier nicht vorgeworfen, das scheint eine Zutat des viel gerühmten Drehbuch-Verfassers André Meier zu sein. Ernst Bloch ordnete solche maßlos scheltenden Schreiberlinge ein bei miesen Typen, die einem toten Löwen mit Genuss Fußtritte versetzen. Oder wie Tucholsky anmerkte: »Man kann einem Größeren nicht auf die Schulter klopfen.«

 

Zur Hirn- und Seelenstärkung hier einige Sätze von Ernst Bloch aus dem Vorwort von 1962 zu seinem Buch »Erbschaft dieser Zeit«: »Der Kapitalismus mit dem Produkt zweier Weltkriege und dem Faschismus hat es nicht nötig, sich wichtig zu machen, doch die Korruption des Besseren wird trotz Pharisäern, die oft nicht einmal das Recht haben, recht zu haben, nicht heller. Es fehlt der Freiheitsklang des alten Antriebs, des implizierten Ziels, das Erbe an 1789, mit der nicht mehr rückgängig zu machenden neunten Symphonie.«