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Titel1720

Übelstände beim Wembley-Stadion  (Johann-Günther König)

Ab den frühen 1870er Jahren zielten Friedrich Engels’ Schriften auf die begriffliche und methodische Schärfung des wissenschaftlichen Sozialismus. Dazu zählte auch der 1873 entstandene Text »Die Wohnungsfrage«, in dem er polemisch auf die populären proudhonistischen und bürgerlichen Rezepte zur Überwindung der Wohnungsnot eingeht (MEW, Bd. 18, Berlin 1962, S. 209-287). Zu jener Zeit ließen der durch die Industrialisierung getriebene Zuzug in die Städte und das Bevölkerungswachstum die Wohnungsnot stetig wachsen. Die vielen gesundheitsgefährlichen und baufälligen, zumeist überbelegten Behausungen waren so unwürdig wie notorisch. Und nicht nur sie. Friedrich Engels erhellt:

»Die moderne Naturwissenschaft hat nachgewiesen, daß die sogenannten ›schlechten Viertel‹, in denen die Arbeiter zusammengedrängt sind, die Brutstätten aller jener Seuchen bilden, die von Zeit zu Zeit unsre Städte heimsuchen. Cholera, Typhus und typhoide Fieber, Blattern und andre verheerende Krankheiten verbreiten in der verpesteten Luft und dem vergifteten Wasser dieser Arbeiterviertel ihre Keime; sie sterben dort fast nie aus, entwickeln sich, sobald die Umstände es gestatten, zu epidemischen Seuchen, und dringen dann auch über ihre Brutstätten hinaus in die luftigeren und gesunderen, von den Herren Kapitalisten bewohnten Stadtteile. […]

 

Sobald dies einmal wissenschaftlich festgestellt war, entbrannten die menschenfreundlichen Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter. Gesellschaften wurden gestiftet, Bücher geschrieben, Vorschläge entworfen, Gesetze debattiert und dekretiert, um die Quellen der immer wiederkehrenden Seuchen zu verstopfen. Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter wurden untersucht und Versuche gemacht, den schreiendsten Übelständen abzuhelfen. Namentlich in England, wo die meisten großen Städte bestanden und daher das Feuer den Großbürgern am heftigsten auf die Nägel brannte, wurde eine große Tätigkeit entwickelt; Regierungskommissionen wurden ernannt, um die Gesundheitsverhältnisse der arbeitenden Klasse zu untersuchen […]«

 

Heute – knapp anderthalb Jahrhunderte später – gibt es in Großbritannien wieder Kommissionen, die diese Untersuchungen durchführen. Nicht zuletzt die Brent Poverty Commission, die jüngst die Verhältnisse im Geburtsort des europäischen Reggae, im zum Londoner »Kulturviertel« des Jahres 2020 ernannten Bezirk Brent untersuchte. Die Bewohner des als Anlaufpunkt für Immigranten dienenden Quartiers sprechen mehr als 140 Sprachen. Im 19. Jahrhundert kamen die Iren, im 20. Einwanderer aus Indien und der Karibik, im 21. Flüchtlinge aus Syrien und Somalia. Der im Nordwesten Londons rund um das Wembley-Stadion gelegene Bezirk Brent ist einer der ärmsten des Landes. Fürchterliche Wohnbedingungen, ruinöse Mieten und die verbreitete Armut haben ihn der Kommission zufolge zu einem Hotspot der Covid-19-Pandemie gemacht – mit der bislang höchsten Todesrate aller Kommunen in England und Wales.

 

Mehr als 40 Prozent der Kinder im Stadtbezirk Brent leben in Armut, und viele der geringverdienenden Familien wenden mehr als 40 Prozent ihres monatlichen Einkommens für das Wohnen auf – immerhin kostet eine durchschnittlich kleine Mietwohnung um die 1500 Pfund. Die Brent Poverty Commission fordert umgehende Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, um die Überbelegung zu eliminieren, sowie mehr finanzielle Hilfen für von Schulden und Arbeitslosigkeit geplagte Familien – einschließlich Steuererleichterungen für all diejenigen, die durch die Coronakrise in Zahlungsrückstände gerutscht sind. Die Kommission fordert den Rückkauf der vielen privatisierten Sozialwohnungen und an private Investoren vergebenen Baugrundstücke und besteht darauf, den ausbeuterischen Vermietern das Handwerk zu legen. Friedrich Engels kannte 1873 Forderungen dieser Art zur Beseitigung der Wohnungsnot zur Genüge. Ihm griffen sie aber viel zu kurz, denn nicht »die Lösung der Wohnungsfrage löst zugleich die soziale Frage«, statuierte er, »sondern erst durch die Lösung der sozialen Frage, d.h. der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht«.

 

Als nach dem am 31. Januar vollzogenen Austritt aus der EU Premierminister Boris Johnson und sein Kabinett ihre »unerschütterliche Sicherheit« demonstrierten, das Vereinigte Königreich »einer besseren Lage zuzuführen«, herrschten durch die jahrelange Austeritätspolitik vielerorts für die Menschen unglaublich würdelose Verhältnisse, war der britische Traum von einer eigenen Immobilie längst ausgeträumt, war der Nationale Gesundheitsdienst chronisch überlastet, bot das öffentliche Bildungssystem nebst Bibliotheken ein Trauerbild und verbreitete sich der Erreger SARS-CoV-2 bereits in Brexitannien. Seit die Pandemie auf der Insel wütet, kann von einem angemessenen politischen Krisenmanagement leider keine Rede sein. Zunächst setzte die neue Tory-Regierung auf das fatale Konzept der Herdenimmunität, während Deutschland und andere EU-Staaten bereits den Lockdown verhängt hatten. Erst Ende März, als die Zahl der Covid-19-Fälle in Großbritannien dramatisch anstieg, zog das Land nach. Nun läuft in schwierigen Zeiten zwar immer auch etwas schief, im Königreich allerdings bereits ziemlich viel. Zum Beispiel versprach Boris Johnson zur Verfolgung der Neuinfektionen zwar das »weltbeste Track-and-trace-System« – die App funktioniert aber bislang nur mangelhaft. Schlicht katastrophal verlief gerade die Vergabe der Zensuren für Schulabgänger, die aufgrund der Pandemie viele Wochen zuvor keinen Unterricht erhalten hatten. Nach Weisung der Regierung wurden die Noten von einem Computer berechnet, dessen behördlicher Algorithmus weniger die individuelle Leistung der Schülerinnen und Schüler als vielmehr ihre geografische Herkunft berücksichtigte. Da dabei viel schlechtere Resultate als von den Eltern erwartet herauskamen, gab es einen Aufschrei und folgte schließlich die Kehrtwende der Regierung – sprich die Anerkennung der Lehrkraft-Bewertungen mittels Erfahrungsnoten.

 

Trotz dieser und vieler anderer Pleiten und Pannen zeigen laut dem Guardian Umfragen, dass die Tories noch genauso hoch im Kurs stehen wie bei ihrem großen Wahlsieg im Dezember 2019. Die hohe Zustimmung erfolgt, obwohl die  Mehrheit der Befragten die Tory-Regierung als inkompetent bezeichnet.

 

Wenigstens milderte Johnson mit seinem alles andere als vertrauenserweckenden Kabinett bislang die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie. So soll der sich abzeichnende epochale Wirtschaftsabsturz – es droht die tiefste Rezession seit mehr als 300 Jahren – mit Multi-Milliarden-Programmen abgefedert werden. Was Wunder, dem Office for National Statistics zufolge ist die britische Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal um 20,4 Prozent eingebrochen und haben allein von März bis Ende Juli bereits 730.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren – vor allem in der Luftfahrt- und der Autoindustrie sowie bei Finanzdienstleistern und Großbanken. Mit einem der deutschen Kurzarbeit nachempfundenen Programm, dem »Job Retention Scheme«, schützt die Regierung zumindest bis Ende Oktober rund 9,6 Millionen Beschäftigte. Da die Bank of England bis zum Jahresende von einer Verdoppelung der Arbeitslosenquote auf 7,5 Prozent ausgeht, wird – wie gerade in Deutschland – wohl auch das britische Kurzarbeiter-Modell demnächst verlängert werden.

 

Gewiss nicht verlängert werden die Verhandlungen über das künftige Verhältnis von EU und Vereinigtem Königreich. Die Chefunterhändler Michel Barnier und David Frost haben bislang jedoch noch keine Einigung erzielt und nur noch bis spätestens Ende Oktober dafür Zeit, weil der Text eines Abkommens vor dem Inkrafttreten zum 1. Januar 2021 in allen Parlamenten diesseits und jenseits des Ärmelkanals ratifiziert werden müsste. Auf das Pokern verstehen sich beide Seiten, und nach wie vor ist der ungeregelte Austritt, der harte Brexit, im Spiel. Die nächste offizielle Partie beziehungsweise Verhandlungsrunde beginnt am 7. September in London. Im Poker gilt das bewährte Sprichwort: Spiele den Spieler und nicht deine Karten. Fragt sich nur, worauf die Briten hinauswollen. Gut möglich, dass der Royal Flush in der Einigung auf einige provisorische Maßnahmen besteht, die zumindest einen chaotischen Brexit, bei dem die wirtschaftlichen Beziehungen schlagartig vom Binnenmarkt zu den deutlich strengeren Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) wechseln würden, ausschließt. Inzwischen haben laut dem britischen Innenministerium übrigens rund 3,8 Millionen in Großbritannien lebende EU-Bürgerinnen und -Bürger eine Niederlassungserlaubnis für die Zeit ab dem 1. Januar 2021 beantragt. Davon sind schon gut zwei Millionen bewilligt, zudem wurde knapp 1,5 Millionen Antragstellerinnen und -stellern ein vorläufiges Bleiberecht gewährt. Zu den bereits abgelehnten 4600 Anträgen dürften noch so einige dazu kommen – über 300.000 Anträge ist jedenfalls noch nicht entschieden.

 

Die mehr als 4000 »illegalen Migranten« (Johnson), die in diesem Jahr mit Schlauchbooten von Frankreich zur Südküste Englands übergesetzt haben, sind vielen konservativen Abgeordneten mehr als nur ein Dorn im Auge. Sie wollen gemäß der Parole »Take back control« die Wiedererlangung der Kontrolle über Grenzen und Gesetze und fordern deshalb die Mobilisierung der Kriegsmarine zur Abwehr der Flüchtlingsboote. Da die französische Regierung ihre Unterstützung zugesagt hat, können die Fregatten aber wohl in den Häfen bleiben. Zudem kündigte Premierminister Boris Johnson quasi beruhigend noch strengere Einwanderungsgesetze an.

 

»Rule, Britannia« heißt ein patriotisches Lied, das zum Finale der jährlichen Sommer-Promenadenkonzerte in der »Last Night of the Proms« kräftig mitgesungen wird – beim Schwenken der Union-Jack-Fähnchen versteht sich. Weil es in dem Lied von 1740 unter anderem heißt: »Briten werden niemals Sklaven sein«, sollte es im Hinblick auf die Black-Lives-Matter-Proteste nicht gespielt werden. Die BBC entschied sich aber für »Rule, Britannia« – vielleicht auch, weil Kulturminister Oliver Dowden geschrieben hatte: »Selbstbewusste, nach vorn schauende Nationen löschen ihre Vergangenheit nicht aus – sie fügen ihr etwas hinzu.« Ich nehme diese Anmerkung zum Anlass, demnächst ausführlicher auf die bemerkenswerte Sklaverei-Debatte im – noch – Vereinigten Königreich einzugehen.