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Könnten Stolpersteine reden  (Hans-Jürgen Nagel)

Vor 75 Jahren wurde erstmals am 9. September der Tag der Opfer des Faschismus begangen. In Berlin trafen sich Tausende in einem Neuköllner Stadion, das nach dem Kommunisten Werner Seelenbinder benannt worden war. Die Zahl der Opfer der faschistischen Barbarei war zu dieser Zeit nur zu erahnen. Selbst 75 Jahre später ist die Blutschuld Deutschlands nicht in vollem Umfang bekannt. Das gilt in gleicher Weise für die Lebenswege der Verfolgten, Ermordeten, Geschundenen und Verfemten.

 

Könnten Stolpersteine im Zeugenstand der Geschichte sprechen, käme vieles endlich zu Tage. Da sie das nicht können, müssen es Archive, Akten, Aufzeichnungen und Kopien von Dokumenten tun. Ein Beispiel bietet das familiäre Umfeld des Journalisten, Künstlers und Schriftstellers Peter Edel:

Die Neuköllnerin Berta Reichmann war Peter Edels Schwiegermutter. Die spätere Krankenschwester im Jüdischen Krankenhaus an der Iranischen Straße im Berliner Wedding wurde als Berta Meier in Burgsteinfurt geboren und war mit Otto Artur Eduard Reichmann verheiratet. Tochter Lieselotte kam am 21. Januar 1922 in Magdeburg zur Welt. Nach der Scheidung wohnten Mutter und Tochter zuletzt in Berlin-Neukölln in einer Wohnung mit zwei Zimmern im Hinterhaus. Dort zog Schwiegersohn Peter Hirschweh mit ein – nach 1945 als Peter Edel in Bad Ischl und Wien sowie später in Berlin als Künstler, Grafiker und Schriftsteller international bekannt.

 

Im Berliner Adressbuch findet sich 1940 (noch!) ein Eintrag zu der »Pflegerin« Berta Reichmann mit der Anschrift Braunauer Straße 174, der heutigen Sonnenallee. Mit dem 36. Osttransport wurde sie im März 1943 von Berlin ins KZ Auschwitz deportiert. Sie überlebte nicht.

 

Ihre Tochter Lieselotte wurde mit dem 34. Osttransport vom 4. März 1943 ebenfalls nach Auschwitz verschleppt. Wann und wie ihr Leben endete, ist unbekannt. An beide und an Peter Edel werden künftig Stolpersteine in der Neuköllner Sonnenallee erinnern.

 

Unterlagen zu Lieselotte Hirschweh aus dem Arolsen Archiv, dem internationalen Zentrum über NS-Verfolgung, und ein Entschädigungsantrag hatten weitere gemeinsame Recherchen des Medizinhistorikers Harro Jenss und von mir zur Folge. Sie brachten bisher Unbekanntes über die Familie Edel zu Tage. Beginnend mit Karl Edel (1837–1921).

 

Von ihm und seiner Frau Elisabeth wusste man bisher nämlich nur, dass sie drei Söhne und eine Tochter hatten: Edmund Albert (der Großvater Peter Edels), Max und Paul sowie Gertrud Clara, später verheiratete Schönheimer. Der Sanitätsrat praktizierte als Psychiater und Nervenarzt in Charlottenburg. Dort hatte er ein »Asyl für Gemütskranke« gegründet und wirkte 21 Jahre als Stadtverordneter und Stadtrat von Charlottenburg. Darüber hinaus war er Vorsitzender der Krankenhausdeputation und Dezernent für das Schulwesen in Berlin.

 

Ein Antrag auf Wiedergutmachung wurde offiziell von Ernst Edel gestellt, Arzt am St. Augustine´s Hospital Chartham nahe Canterbury. Es handelte sich – wie aus dem Schriftwechsel hervorging – um einen bisher unbekannten, nach 1933 emigrierten Sohn von Karl Edel. Im Peter-Edel-Archiv der Akademie der Künste Berlin gab die Abschrift einer Heiratsurkunde ebenfalls bisher Unbekanntes preis. Im Standesamt Dortmund-Mitte heirateten am 23. Februar 1898 Bankier Viktor Joseph Edel und die Haustochter Johanna Herzfeld. Als Vater und Mutter des Mannes sind genannt: praktischer Arzt, Doktor der Medizin, Karl Edel und Elisabeth, geborene Abel.

 

So erhellen sich einige verwandtschaftliche Verhältnisse – mit Blick auf Peter Edel, seinen Großvater Edmund sowie seinen Großonkel Max. In Peter Edels Roman ,,Die Bilder des Zeugen Schattmann” und in seiner Autobiografie ,,Wenn es ans Leben geht” hatte der Schriftsteller Erinnerungen an seinen Großonkel sowie Begegnungen und Gespräche im Familienkreis für sich und die Nachwelt literarisch aufgearbeitet.

 

Entrechtet und gedemütigt starb Max Edel im März 1941 in Berlin. Seine Ehefrau Eva wurde an ihrem 65. Geburtstag, am 3. Oktober 1942, nach Theresienstadt deportiert, wo ihr Leben vier Wochen später zu Ende ging. Bei ihnen lebte ihre Enkelin Rosemarie Noah. Sie wurde als 18-Jährige im November 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihrer Mutter Rose Margarete war im April 1939 die Ausreise nach Großbritannien gelungen, mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen mit ihrer Tochter, die nachkommen sollte. »Reichsfluchtsteuer«, eine Vielzahl geforderter Papiere und der Kriegsbeginn vereitelten wie bei den Eltern Peter Edels weitere Ausreisebemühungen.

 

Von Rosemarie sind erschütternde Briefe an ihre Freundin in England erhalten geblieben, in denen sie unter anderem den erzwungenen Verkauf von Mobiliar ihrer Großmutter, die Reichspogromnacht und das Leben vor Kriegsbeginn schildert (Gudrun Maierhof, Chana Schütz, Hermann Simon (Hg.): »Aus Kindern wurden Briefe. Die Rettung jüdischer Kinder aus Nazi-Deutschland«, Metropol Verlag, Berlin 2004).

 

In Charlottenburg-Wilmersdorf werden in der Wittelsbacher Straße 22 Stolpersteine an Max und Eva Edel sowie Rosemarie Noah erinnern.

 

2018 wurde eine weitere Seite der Edel‘schen Familiengeschichte geschrieben und dokumentiert. Nicolas Rouzet, Dozent am Marseiller Don-Bosco-Lyzeum, hatte die Lektüre von Anna Seghers »Transit« zu Nachforschungen inspiriert. Er widmete sie dem Gedenken an Robert Wolfgang Edel, einen bis dato unbekannten Sohn Max Edels. Der promovierte Jurist emigrierte mit seiner Frau Frieda 1933 nach Frankreich, kämpfte als Fremdenlegionär in der französischen Armee gegen die Wehrmacht, war im Widerstand gegen die deutsche Besatzung und wurde verhaftet. Wann und wie sein Leben endete, ist unbekannt.

 

Zur Verwandtschaft Peter Edels gehörte auch die Familie Strauß aus Heilbronn. Deren Geschichte hat vor allem Harro Jenss erforscht, der sich seit Jahren mit in Vergessenheit geratenen jüdischen Familien und Ärzten beschäftigt. So klärte sich die familiäre Verbindung von Eva Strauß als Ehefrau von Max Leopold Edel. Sie hatte ihren späteren Ehemann wahrscheinlich durch ihre Brüder, die bekannten Mediziner Hermann und Josef Strauß, kennen und schätzen gelernt.

 

Hermann Strauß leitete von 1910 bis 1942 die Abteilung für Innere Medizin des Jüdischen Krankenhauses, in dem auch Berta Reichmann tätig war. 1918 war er in Anerkennung seiner Verdienste um die Einrichtung von zwei Lazaretten im Ersten Weltkrieg zum Geheimen Sanitätsrat ernannt worden. Er war der Erfinder der Strauß-Kanüle, die bis heute für intravenöse Behandlungen eingesetzt wird.

 

Hermann Strauß und seine Frau Elsa wurden am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Er wurde dort ab Oktober Mitglied des Ältestenrates. 74-jährig vermittelte er seine medizinischen Erfahrungen an die inhaftierten Kolleginnen und Kollegen sowie Krankenschwestern. Am 17. Oktober 1944 starb Hermann Strauß an den Folgen eines Herzinfarkts. Seine Frau erlebte zwar die Befreiung, erlag aber am 13. Juni 1945 den ihr zugefügten Leiden.

 

In Berlin sind am Kurfürstendamm 184 seit 2011 Stolpersteine für Elsa und Hermann Strauß sowie seit 2015 eine Gedenktafel zu finden. Sie gehen auf Harro Jenss und den Sozialwissenschaftler Peter Reinicke zurück.

 

Ein handschriftlicher Bearbeitungsvermerk des Entschädigungsamtes Berlin in den Unterlagen zu Lieselotte Hirschweh macht den Zeitgeist West im Mai 1955 deutlich. Im Vordruck »KONZEPT FÜR INHAFTIERUNGSBESCHEINIGUNG« steht wörtlich: Wurde ,,eingeliefert in das Konzentrationslager: …« Der Bearbeiter änderte »eingeliefert« in die Nazi-übliche Bezeichnung »evakuiert«. Zu diesem Zeitpunkt dürfte selbst in Berlin-West bekannt gewesen sein, was Auschwitz bedeutete.

 

Den heutigen Werner-Seelenbinder-Sportpark hatte der Magistrat am 29. Juli 1945 nach dem Deutschen Meister im Ringen und Olympiateilnehmer 1936 benannt. Seelenbinder hatte jahrelang in Neukölln trainiert. Er wurde 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Als Peter Edel ins KZ Großbeeren bei Berlin eingeliefert worden war, begegnete er dort Werner Seelenbinder. Dessen Haltung und die Gespräche mit ihm prägten den Schriftsteller lebenslang.

 

Berta Reichmann und Lieselotte Hirschweh, Hermann und Elsa Strauß, Max und Eva Edel, Robert Edel und Rosemarie Noah, Peter Edel und Werner Seelen-binder – verbunden in einem tragischen Kreis.

 

Im Rathaus Neukölln wurde am 27. Januar 2020 würdig an den 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee erinnert. Die Ausstellung »Ausgestoßen und verfolgt – die jüdische Bevölkerung während des Nationalsozialismus in Neukölln« zeigte gleichzeitig Schicksalswege von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die als Jüdinnen und Juden oder »Halbjuden« diffamiert wurden. Unter ihnen Lieselotte Hirschweh, die Ehefrau Peter Edels. Schüler*innen des Wahlpflichtkurses Gesellschaftswissenschaften der Fritz-Karsen-Schule lasen Texte von Zeitzeug*innen, die mit Fotos vorgestellt wurden.

 

Eine Ermutigung für die Zukunft.

 

 

Demnächst: »Briefe nach London«, »Worte eines Täters« und »Bereicherung«. Zu Peter Edel siehe auch Hans-Jürgen Nagels Beitrag: »Peter Edel und die LTI der Gegenwart«, Ossietzky 17/2018. Zur Familie Strauß siehe: Harro Jenss: »Hermann Strauß – Internist, Wissenschaftler in der Charité und im Jüdischen Krankenhaus Berlin: Mit einem Beitrag über Elsa Strauß«, Jüdische Miniaturen Bd. 95, Hentrich & Hentrich; 88 Seiten, 8,90 €; Hermann Strauß »Autobiographische Notizen und Aufzeichnungen aus dem Ghetto Theresienstadt«, herausgegeben von Harro Jenss und Peter Reinicke. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Harro Jenss und einem Vorwort von Irene Hallmann-Strauß, Hentrich & Hentrich Berlin, 168 Seiten, 24,90 €