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Titel1720

Zeit der Hysterie  (Erhard Jöst)

Vor kurzem fragte eine Lehramtsstudentin bei mir an, ob sie mich zum Thema »68 und die Folgen« befragen dürfe, mit dem man sich im Seminar beschäftige. Es ging um die Klärung der Fragen, ob und in welcher Weise die Protestbewegung Einfluss auf meine Biografie, auf die Gesellschaft und die politische Entwicklung der BRD genommen habe und was von ihr übrig geblieben sei. Um mich auf das Gespräch vorzubereiten, habe ich nach themenbezogenen Dokumenten gesucht und unter anderem einen Brief gefunden, den meine 2019 verstorbene Frau am 4. August 1980 geschrieben und als Flugblatt an ihre Mitbewohner verteilt hat. Sie unterrichtete seinerzeit als Studienrätin an einem Karlsruher Gymnasium die Fächer Deutsch und Geschichte und wohnte in einem Hochhaus im Stadtteil Durlach. Sie schrieb:

 

»An alle Freizeit-Terroristenfahnder und Hobby-Hilfssheriffs der Pfaffstraße 18: Aufgrund einer Anzeige eines mir unbekannten Hausmitbewohners wurde im Rahmen der Terroristenfahndung in der Nacht vom 31. Juli zum 1. August eine Polizeiaktion gegen mich und meine Freundin, die mich gerade besuchte, durchgeführt. Im Verlauf der Aktion fand eine Personalüberprüfung statt. Das Ergebnis der Überprüfung war natürlich negativ. Da ich sehr schreckhaft bin und nachts nicht gerne in die Gewehrläufe von Polizisten sehe, möchte ich allen Hausbewohnern, die sich auf die Beobachtung ihrer Mitbewohner spezialisiert haben, mitteilen, daß ich weder Terrorist noch Sympathisant bin. Auch bin ich nicht verwandt, verschwägert, bekannt oder befreundet mit einem RAF-Mitglied. Zu keiner Zeit stellte ich meine Wohnung konspirativen Zwecken zur Verfügung. Ich selbst würde mich eher als eine etwas zu brave Studienrätin einschätzen, die ihr Brot nicht durch Banküberfälle, sondern sauer am Otto-Hahn-Gymnasium verdient. Ich bitte deshalb, daß man mich und die Polizei in Zukunft in Ruhe läßt und wünsche allen Hobby-Sherlock-Holmes erholsame Ferien. Mit freundlichen Grüßen Christel Banghard«.

 

Aus dem Brief geht ja hervor, was passiert war: Zu früher Morgenstunde klingelte eine Gruppe schwerbewaffneter Polizisten an der Wohnungstür und führte eine Überprüfung durch. Meine Frau hatte nämlich ihre beste Freundin zu Besuch (ebenfalls politisch völlig unbescholten). Und wenn man eine Person, die keine Mitbewohnerin war, bei sich übernachten ließ, machte man sich verdächtig. Denn damals suchte die Polizei ständig nach RAF-Mitgliedern und deren Sympathisanten. Dabei gerieten massenhaft arglose Personen wie meine Frau in Verdacht, die sich zutreffend als brave Lehrerin charakterisiert hat. Sie war ihr Leben lang sozial eingestellt, in besonderem Maße hilfsbereit und sympathisierte zu keiner Zeit mit Terroristen. Sie vertrat eine sozialistische Weltanschauung, war aber nie Mitglied in einer Partei und gehörte auch während ihrer Studienzeit keiner radikalen K-Gruppe an. Trotzdem stand sie genau wie ich mehrmals im Fokus politischer Überprüfungen. Ich war ebenfalls nie ein Verfassungsfeind, es sei denn, man rechnet die SPD, der ich von 1969 bis 2019 knapp fünfzig Jahre angehörte und für die ich in zahlreichen Ämtern und Funktionen tätig war, zu den verfassungsfeindlichen Parteien.

 

Mit der Sichtung der Zeitdokumente kommen Erinnerungen an eine Zeit der Hysterie hoch, eine Zeit, in der ehemalige Nazis wieder zu Amt und Würden gekommen waren und alle, die sich politisch links positionierten, mit Überwachung, Verfolgung und Unterdrückung regelrecht terrorisierten. Als Grundlage diente ihnen der sogenannte Extremistenerlass aus dem Jahr 1972, der verabschiedet worden war, um die Linken auf ihrem »Gang durch die Institutionen« zu stoppen. In Baden-Württemberg wurde der »Radikalenerlass« von einer tiefschwarzen Landesregierung, an deren Spitze Hans Karl Filbinger (ehemaliges NSDAP-Mitglied und »furchtbarer Jurist«) stand, besonders gnadenlos praktiziert. Er hatte sich mit Gerhard Mayer-Vorfelder einen rechtsradikalen Schlagdrauf-Politiker herangezogen, der die »Tendenzwende« und die mit ihr verbundene Politik der Berufsverbote konsequent exekutierte. Dabei half auch der amtierende Innenminister Karl Schiess mit, ebenfalls ehemaliges NSDAP-Mitglied. Nach ihm wurde die verschärfte Version des Radikalenerlasses benannt.

 

Aus der historischen Distanz betrachtet, kann man über viele Aktionen, die seinerzeit durchgeführt worden sind, eigentlich nur den Kopf schütteln, ja man könnte über so manche Provinzposse sogar lachen, wenn man nicht selbst erlebt hätte, wie sie sich auf das Leben von Betroffenen ausgewirkt hat, wie die Schikanen und verhängten Berufsverbote einigen die berufliche Existenz und die mit ihr verbundene Altersversorgung entzogen.

 

Ich habe meine Erlebnisse in verschiedenen Büchern und Aufsätzen festgehalten. Um die Dimension der Politik der Einschüchterung und Unterdrückung wenigstens im Ansatz aufzuzeigen, liste ich lediglich ein paar Erlebnisse auf:

 

Von 1979 bis 1981 unterrichtete ich als Lehrer am Deutschorden-Gymnasium in Bad Mergentheim. Als ich 1980 heiratete und die Hochzeit mit einer Anzeige kundtat, die mit einem Zitat von Heinrich Heine aus dessen Werk »Deutschland – Ein Wintermärchen« versehen war (»Und fehlt der Pfaffensegen dabei, die Ehe wird gültig nicht minder«), ordnete Kultusminister Mayer-Vorfelder eine dreifache Bestrafung an: Disziplinarverfahren, Probezeitverlängerung und »Strafversetzung«. Die Medien berichteten über die »Hexenjagd im Taubertal«, und die katholische Neue Bildpost vertrat mit dem Artikel »Und der will unsere Kinder lehren!« vom 25. Januar 1981 die Auffassung, dass man mich aufgrund der Verwendung des Heine-Zitats aus dem Schuldienst entfernen müsse. Eigentlich konnte ich froh sein, dass ich dann nicht entlassen, sondern lediglich aus der Gegend versetzt wurde, durch die in diesen Jahren immer noch ein schwarzbrauner Zeitgeist wehte. Zum Beispiel war noch im Jahr 1980 an einer Scheune in der Nähe von Weikersheim unterhalb des Giebels weithin sichtbar ein zwei Quadratmeter großes Hakenkreuz eingemauert. Als ein Bürger das zuständige Landgericht Ellwangen anrief, sah dieses »keine Veranlassung, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten«. Man könne dem Besitzer auch nicht zumuten, das Hakenkreuz zu entfernen, da dadurch die Bausubstanz gefährdet sei. Infolge der »Strafversetzung« landete ich 1982 in Heilbronn.

 

Nächstes Beispiel: Als die Landesregierung 1986 zusammen mit dem Südwestfunk nach einer Hymne für Baden-Württemberg suchte und einen Wettbewerb ausschrieb, gingen über 450 Vorschläge ein. Der Siegertitel, das Werk eines Bankangestellten, präsentierte Reimereien wie: »Die Bad‘ner und die Schwaben friedlich vereint sich haben« oder »Große Worte sind geschrieben hier von Uhland, Mörike, Schiller. Geist und Freiheit sind zu finden hier, dies Werte sind für immer«. Der Kabarettist Dieter Hildebrandt kommentierte seinerzeit das Ergebnis so: Wenn das die Siegerhymne ist, wie sehen dann erst die anderen 449 Versionen aus? Ich habe mir den Spaß erlaubt und eine »Gegen-Landeshymne« geschrieben, die am 21. Oktober 1986 als Leserbrief in der Tageszeitung Heilbronner Stimme veröffentlicht wurde. Über die Folgen berichtete die Südwestpresse am 6. Oktober 1987 unter der Überschrift »Staatsaktion nach satirischer Hymne. Lehrer wird stundenlang überprüft«. Kultusminister Mayer-Vorfelder hatte wieder einmal zugeschlagen und die »Staatsaktion« angeordnet, weil seiner Auffassung nach mein Text zu Bedenken Anlass gab, ob mein Unterricht »den Anforderungen von Landesverfassung, Schulgesetz und Lehrplan entspricht«. Erneut wurde unter Bezugnahme auf den »Radikalenerlass« mit »Berufsverbot« und der Entlassung aus dem Schuldienst gedroht.

 

Man fragt sich selbstverständlich, was das für ein revolutionärer Text ist, der den Minister und seine Lakaien so in Rage versetzte. Meine Landeshymne liest sich so:

 

»1. Ein Land regiert von Daimler-Benz und anderen Konzernen, / Mit Gift und Deponien gefüllt, mit Müll und Kernkraftwerken, / In dem die Industrie regiert und schon die Schüler lernen, / Dass Zucht, Ordnung und Sauberkeit die Lebensfreude stärken. / Feiern wir stolz mit Herz und Hand: / Baden-Württemberg, unser Heimatland!

 

2. Die Menschen voll mit Frömmigkeit und gut gekochten Spätzlen / Fordern voneinander stets ›Grüß Gott‹, die Kehrwoch und Moneten. / Schwarzkranker Wald reich angefüllt mit Kirchen und Kasernen: / Ergänzt wird dies idyllisch Bild durch Reben und Raketen. / Feiern wir stolz mit Herz und Hand: / Baden-Württemberg, unser Heimatland!

 

3. Das Land, aus dem einst Schiller floh, mit Schreibverbot vertrieben, / Wo sie den Schubart ein Jahrzehnt im düstren Kerker hieben, / Weil er furchtlos gefördert hat des Volkes Freiheitsstreben. / Geschützt durch Stammheims Sicherheitstrakt kann man hier fröhlich leben. / Feiern wir stolz mit Herz und Hand: / Baden-Württemberg, unser Heimatland!«

 

Solche Spottverse genügten, um in den Verdacht zu geraten, ein Verfassungsfeind zu sein. Auf Anweisung des Kultusministers hat sich ein Beamter eingehend mit meiner Landeshymne befassen müssen. Bei der Einsicht in meine Personalakten, die jetzt im Landesarchiv Baden-Württemberg / Hauptstaatsarchiv Stuttgart lagern (Bestand Q 2/51. Unterlagen Erhard Jöst 1968–2018), fand ich seine Interpretation, die sich wie eine Satire liest. Im Aktenvermerk heißt es: »In Kreuz- und Paarreim, jambisch und daktylisch, über drei Strophen hinweg reimt dieser [Studienrat Dr. Jöst] in Kolhaas‘scher Manier blinder Selbstüberschätzung aus der Leberwurst-Perspektive beleidigt-schulmeisterlicher Existenz von nur zeitweilig öffentlicher Beachtung, Apokalyptisches zum Thema Baden-Württemberg: Atomarer Holocaust und Öko-Desaster zerstörter Umwelt stehen unter ungutem Stern großindustriellen Despotismus beruhend auf der spätzlesfrommen, willfährigen Ordentlichkeit des baden-württembergischen Menschen. Gleichsam in Anklängen sonetthaft-dumpfer Ahnung werden Schiller, Schubart und der Sicherheitstrakt von Stammheim zitiert, um publizistisch ignoriertem Selbstverständnis eine wenigstens lokale Bedeutsamkeit zu verleihen.« Immerhin hatte auch meine Landeshymne kein Berufsverbot zur Folge, auch wenn der Kultusminister mich wegen ihr einen »Volksverhetzer« nannte.

 

Zum zweiten Mal »strafversetzt« wurde ich wegen Personalratstätigkeit, als ich Personalratsvorsitzender an einem Gymnasium war. Da wird jeder sofort ausrufen: Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit! Eigentlich ja, aber auch das war im »Musterländle« zu der Zeit möglich, es gab fähige Rechtsverdreher, und der Kultusminister rühmte sich selbst, ein Einser-Jurist zu sein. Immerhin blieb die zweite »Strafversetzung« in der Familie: Ich blieb in Heilbronn und kam vom Theodor-Heuss- ans Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium. Es würde den Rahmen des Artikels sprengen, wenn ich den Vorfall schildern würde. Wer sich dafür interessiert, kann ihn und auch andere Vorgänge in dem Buch »Kultus und Spott« nachlesen.

 

Als 68er konnte ich als Lehrer keine Karriere machen, aber immerhin gelang es der Kultusbürokratie trotz einiger Versuche nicht, mich aus dem Schuldienst rauszuwerfen. Bei anderen hat sie es geschafft. Die Website der Initiative gegen Berufsverbote informiert. Die Betroffenen hatten 2015, als es in Baden-Württemberg eine grün-rote Landesregierung gab, zusammen mit drei Landtagsabgeordneten einen Runden Tisch gebildet. Sein Ziel war die Rehabilitierung und Entschädigung der Personen, gegen die ein Berufsverbot verhängt worden war. Aber Ministerpräsident Winfried Kretschmann, obwohl er als Studien-Referendar selbst wegen seiner Mitgliedschaft im Kommunistischen Bund Westdeutschlands von einem Berufsverbot bedroht war, verhinderte, dass die Resolution in den Landtag eingebracht wurde. Das Vorhaben wurde in die Zeit nach der Landtagswahl verschoben und erledigte sich dann von selbst. Denn es wurde eine grün-schwarze Landesregierung gebildet: Kretschmann blieb Ministerpräsident. Innenminister und sein Stellvertreter wurde der CDU-Politiker Strobl, der nach eigenem Bekenntnis in seiner Schulzeit in die Partei eintrat, weil ihm seine Lehrer zu links waren. Es ist demnach kaum zu erwarten, dass Strobl, der seinerzeit ein vehementer Verfechter der Politik der Berufsverbote war, sich heute dafür entschuldigt und zugibt, dass der »Radikalenerlass« der Demokratie schweren Schaden zugefügt hat.

 

Ein Ergebnis hat der Runde Tisch immerhin hervorgebracht: An die Universität Heidelberg wurde der Auftrag vergeben, den »Radikalenerlass« in Baden-Württemberg wissenschaftlich zu erforschen. Jetzt hat das Team um den Historiker Edgar Wolfrum einen ersten Zwischenbericht vorgelegt (»Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, 68 und der ›Radikalenerlass‹. 1968-2018. Ein Forschungsbericht«). Bleibt zu hoffen, dass der Endbericht des Forschungsprojekts auch aufzeigt, wie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts reaktionäre, zum Teil sogar schwarzbraun angehauchte Politiker ihre Ämter dazu missbraucht haben, die Linken und Liberalen einzuschüchtern und zu schikanieren, und wie sie Beamte unter Berufung auf zweifelhafte Erlasse und Verordnungen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keinen Bestand hatten, aus dem Dienst entfernten.

 

Leseempfehlungen: Ruth Broda/Erhard Jöst (Hg.): »Wintermärchen in der Provinz. Ein Heine-Zitat und seine Folgen«, Freiburg 1981; »Der Schulfriede ist in Gefahr. Eine Dokumentation«, Stuttgart 1982; Erhard Jöst: »Kultus und Spott. Provinzpossen und Schulsatiren«, Stuttgart 1987.