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Titel1809

Lissabon-Vertrag, der stille Staatsstreich  (Dietrich Antelmann)

In einer Demokratie geht, das wissen wir ja, alle Staatsgewalt vom Volke aus. Dieses legt als Souverän auch die Grundregeln der Politik fest, entscheidet über die staatliche Ordnung, die Verfassung. So die Theorie, wie wir sie gelernt haben.

In der Praxis muß das doch auch anders zu machen sein, dachten die Machteliten im zusammenwachsenden Europa und ließen einen umfangreichen und schwer verständlichen Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union entwerfen, der in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten rasch durchgewinkt werden sollte. Aber dann fanden in Frankreich und in den Niederlanden nach intensiver öffentlicher Diskussion Volksabstimmungen darüber statt, und die gingen für die Urheber des Verfassungswerkes schlecht aus. Also wurde die »Verfassung« zum »Vertrag« umgeschrieben und noch ein bißchen komplizierter formuliert. Wieder wurde in den Parlamenten der einzelnen Staaten durchgewinkt, eine Volksabstimmung fand diesmal nur in Irland statt, und weil auch dort die Mehrheit Nein sagte, müssen die Iren demnächst noch einmal abstimmen. In der Bundesrepublik Deutschland klagten der CSU-Politiker Gauweiler, die Bundestagsfraktion der Linken und andere gegen den Vertragsentwurf beim Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter machten sich einige Einwände zu eigen und nötigten so den Bundestag, neue »Begleitgesetze« zu dem bereits angenommenen Vertrag zu fabrizieren, vor allem um die eigenen Mitspracherechte bei Entscheidungen der EU abzusichern. Eher unwillig und möglichst selbstgenügsam wollen die Parteien diesem Auftrag nun noch vor der Bundestagswahl nachkommen. Ob der EU-Vertrag der Demokratie und der Verfassung in der Bundesrepublik Boden entzieht, ist ihnen offenbar gleichgültig. Nur die Linkspartei hat noch Bedenken.

Was ist die Substanz des Lissabon-Vertrags, der den Bürgerinnen und Bürgern in der EU aufgedrückt werden soll?

Unbeschränkte Freiheiten für Kapital, Waren und Dienstleistungen, Niederlassungs- und Wettbewerbsfreiheit werden zu den obersten Prinzipien der EU erklärt. Ihnen ist in allen Fällen Geltung zu verschaffen. Zusätzlich abgesichert werden diese einseitig die Kapitaleigner begünstigenden Regelungen durch das neue Grundrecht der unternehmerischen Freiheit (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Titel I, Artikel 16). Entsprechende Rechte für die Gewerkschaften sucht man ebenso vergebens wie soziale Standards. Der Vergleich mit dem Grundgesetz läßt überdies Einschränkungen der Pressefreiheit und der akademischen Freiheit erkennen. Sie werden nach Artikel 11 und 13 der Charta der Grundrechte nicht mehr gewährleistet, sondern nur noch geachtet. Machtstrukturen, die regelmäßig Wirtschaftskrisen hervorgebracht haben und hervorbringen, werden im Vertrag von Lissabon unter Ausschluß jeglicher Alternative festgeschrieben und weiter ausgebaut. Damit entfallen auch die in Artikel 14 des Grundgesetzes enthaltene Sozialpflichtigkeit des Eigentums und die in Artikel 15 GG enthaltene Möglichkeit der Vergesellschaftung von Grund und Boden, von Naturschätzen und Produktionsmitteln.

Entscheidungen zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bis hin zur gemeinsamen »Verteidigung« werden in die Zuständigkeit der Union überführt. Die im Europäischen Rat versammelten Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten bestimmen die strategischen Interessen und Ziele. Das EU-Parlament darf in Fragen der GASP weder entscheiden noch eine Kontrollfunktion ausüben. Es dient einer Scheinlegitimation. Schon der Name EU-Parlament ist irreführend, weil es kein Gesetz initiieren und über Budgetfragen nicht abstimmen kann.

Nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (sechster Teil, Abschnitt 5, Artikel 275) darf der Gerichtshof der Europäischen Union nicht über die Bestimmungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und über die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte urteilen. Das oberste Gericht erhält vielmehr die Hauptaufgabe, die uneingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit zu garantieren. Richter und Generalanwälte werden ohne parlamentarische Mitwirkung von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt. Kein Wunder, daß sie zu Lasten des Allgemeinwohls, zum Vorteil der Kapitaleigner entscheiden. Zum Beispiel wurde die französische Regierung verurteilt, eine Autobahnblockade zu räumen, die aus Anlaß eines Streiks der Lastkraftwagenfahrer errichtet worden war. Begründung: Das Recht auf freien Warenverkehr habe Vorrang. Ein weiteres Beispiel: Mit Sonderaktien wollten sich Frankreich und Portugal an Energiekonzernen beteiligen, um die Energieversorgung der Bevölkerung in Krisensituationen sicherstellen. Der EU-Gerichtshof erachtete die Kapitalverkehrsfreiheit als das höhere Rechtsgut und verwarf die Sonderaktienregelung.

Um die »harten Leistungserwartungen« (so Werner Weidenfeld von der Bertelsmann-Stiftung in einer von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Broschüre zur Verfassung der Europäischen Union) erfüllen zu können, bedarf es entsprechender militärischer Kräfte, die das Kapital auf der Jagd nach größtmöglicher Rendite unterstützen. Alle Mitgliedstaaten werden durch den Lissabon-Vertrag verpflichtet, schrittweise aufzurüsten. Militäreinsätze werden als friedenstiftende Maßnahmen, humanitäre Rettungseinsätze, Eingriffe zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung und als Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten verharmlost.

Die mit dem Vertrag verknüpfte Preisgabe des Sozialstaates, die Verpflichtung zur Aufrüstung in Zusammenhang mit dem Umbau der Bundeswehr zu einer weltweiten Interventionsstreitmacht, der an die Substanz gehende Demokratieabbau und der gleichzeitige Aufbau eines vernetzten Polizei- und Geheimdienstapparates laufen in ihrer Summe auf einen stillen Staatsstreich hinaus.

Auch das Bundesverfassungsgericht äußerte in seiner Entscheidung vom Juni dieses Jahres tiefe Sorge um die Demokratie in Deutschland und Europa, auch wenn es sie mit viel Höflichkeit formulierte: »Die Europäische Union erreicht auch bei Inkrafttreten des (Lissabon-) Vertrags noch keine Ausgestaltung, die dem Legitimationsniveau einer staatlich verfaßten Demokratie entspricht.« Das Europäische Parlament sei »kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes«.

Noch gilt das Grundgesetz. Aber wie lange? Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages sollen gemäß Erklärung Nr. 17 zur Schlußakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, das Vertragsrecht der Union und die Rechtsprechung der Union Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. Die »Erklärung zum Vorrang« bedeutet zum Beispiel, daß mit seinem Inkrafttreten das deutsche Atomausstiegsgesetz keinen Bestand mehr hat, sondern hinter den Euratom-Vertrag zurücktritt, der die Atomenergie fördert. Und schon (31. August) wird aus Brüssel gemeldet, daß die Europäische Union hinsichtlich der Rettungspläne für Opel auf folgende Maßgabe aufmerksam gemacht habe: Wenn eine deutsche Staatshilfe für Unternehmen an Arbeitsplatzgarantien geknüpft werde, verstoße sie gegen europäisches Recht.

Ein erfahrener Jurist hat über die politischen Zustände, in die der Vertrag von Lissabon hineinführt, geäußert: »In Brüssel gilt die Selbstermächtigung der Administratoren. Es gibt keine Kontrolle und auch keine Verantwortung der Hoheitswalter gegenüber den Bürgern. Das Gesamtkonglomerat der Brüsseler Machthaber würde noch viel mehr Macht gewinnen. Die Parlamentarier blieben zu Schulbuben degradiert, die ein bißchen mitspielen dürfen.« Kein Linksradikalinski war es, der das sagte, sondern der langjährige CSU-Europaabgeordnete Graf Stauffenberg. Da hat ein Schwarzer ins Schwarze getroffen.