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Titel1809

Die Lügenbergbauer  (Ralph Hartmann)

Je weiter das glorreiche Gedenkjahr 2009 voranschreitet und sich dem Höhepunkt, dem 20. Jahrestag des Mauerfalls, nähert, desto höher wird der über der DDR aufgetürmte Lügenberg. Die Zahl der an der Staatsgrenze zur BRD tragisch ums Leben Gekommenen wächst, die »Arbeitsgemeinschaft 13. August« ist mittlerweile bei 1.347 Mauertoten angelangt. Immer mehr Gedenkstätten, die an die Untaten des Unrechtsregimes erinnern, werden eröffnet oder erweitert. In Hubertus Knabes Gruselgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen werden so viele Schüler geschleppt, daß das Honorargeld für die MfS-Knast-Führer ausging und der Staat mit zusätzlichen 70.000 Euro einspringen mußte. Zeitzeugen verbreiten immer schaurigere Geschichten über den Unterdrückungsmechanismus. Kein Tag vergeht, an dem die Medien, die Print- wie die elektronischen, die öffentlich-rechtlichen wie die privaten, nicht der Mauer und ihrer Folgen gedenken, ohne freilich deren vielfältige nationale und internationale Ursachen zu erwähnen. In Endlosschleifen von Funk und Fernsehen werden Ulbrichts Worte »Niemand hat die Absicht ...«, Genschers Freiheitsverkündigung an die DDR-Bürger in der Prager BRD-Botschaft und das Gestammel Schabowskis über die Ab-Sofort-Gültigkeit der Grenzöffnung wiederholt. Erklärungen der MfS-Unterlagen-Verwalterin Marianne Birthler sind so gefragt, daß diese sich um ihren Arbeitsplatz keine Sorgen machen muß; sie ließ sich gar zu der Drohung hinreißen, die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit stehe erst am Anfang. Kein Zweifel: Der Lügenberg wächst und wird weiter wachsen. Die ihn aufschütten, noch mehr aber die, die ihn zur Rechtfertigung der eigenen Politik und zum Schutz vor dem sozialistischen Ungeist benötigen, verfügen über reiche Erfahrungen, denn sie selbst hocken auf einem Berg von Lügen über ihr eigenes Tun und Lassen in Vergangenheit und Gegenwart. Lug und Trug gehören zur Politik der Herrschenden in der Bundesrepublik wie der Hundekot zu Berlins Straßen.

Von Dieter Hildebrandt ist kürzlich eine CD, ein sogenanntes Audiobook, mit dem Titel »Politiker-Märchen: Die schönsten Lügen aus 60 Jahren Bundesrepublik« erschienen. Das 82jährige Kabarett-Urgestein kommentiert darin Originaltondokumente der »schönsten, dreistesten und dümmsten Lügen« aus 60 Jahren bundesdeutscher Geschichte. Einstmals angesehene Politiker kommen darin zu Wort und zum bissigen Kommentar, darunter Konrad Adenauer, der die deutsche Wiederbewaffnung wortreich ablehnte und sie nach Kräften betrieb, und Helmut Kohl, der Ostdeutschland »blühende Landschaften« versprach und es dann im Zuge der Restauration des Kapitalismus deindustrialisieren ließ. Neben beiden Kanzlern läßt Hildebrandt in seiner Lügnerparade unter anderen auch den Spiegel- und viele sonstige Affären-Minister Franz Josef Strauß, den unschuldigen Nazi-Militärrichter Hans Filbinger , den Ehrenwortmann Uwe Barschel und den brutalstmöglichen Aufklärer Roland Koch aufmarschieren. Der Verlag Diederichs wirbt für die CD mit den Worten: »Sechzig Jahre Bundesrepublik – das sind auch sechzig Jahre Lügen und Blendwerk unserer Politiker« und trifft damit den Nagel auf den Kopf.

Allerdings waren begnadete Lügner auch weit vor der Gründung der Bundesrepublik am Werke. Als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hinter den Kulissen die Macht des Großkapitals wiederhergestellt wurde, distanzierte sich die von Adenauer geführte CDU im »Ahlener Wirtschaftsprogramm« vom Februar 1947 bekanntlich wortreich vom Kapitalismus: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem ... Zusammenbruch ... kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben ... sein.« Das war kein »Programm«, sondern ein bewußtes Betrugsmanöver des erzkonservativen Adenauer und seiner Gesinnungsgenossen gegenüber dem Volk, in dem eine antifaschistische, antikapitalistische Grundstimmung herrschte. Um ihr scheinbar gerecht zu werden, hatte die CDU schon ein halbes Jahr vor Ahlen in einem Wahlaufruf erklärt: »Der Kapitalismus ist zusammengebrochen. Wir sind die letzten, die ihm eine Träne nachweinen. Eine neue Zeit bricht an. Sie trägt sozialistisches Gepräge.«

Und so wie vor der BRD-Gründung gelogen wurde, daß sich die Balken bogen, so wird auch nach ihrem 60. Jubiläum flott weiter gelogen. In Afghanistan kämpfen deutsche Soldaten mit schwerem Kriegsgerät, gehen in die Offensive, werden mit dem »Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit« dekoriert, sterben den Heldentod, aber Verteidigungsminister Franz-Josef Jung leugnet, daß Deutschland am Hindukusch Krieg führt. Hier nimmt er sich offensichtlich im Einvernehmen mit seiner Kanzlerin Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) zum Vorbild, der nach dem verbrecherischen Überfall auf Jugoslawien entgegen allen schrecklichen Tatsachen behauptete, die Bundesrepublik führe keinen Krieg.

Nicht weniger gelogen wird an der Heimatfront. CDU/CSU und SPD übertreffen sich im Wahlkampf mit Versprechungen, wie sie die Arbeitslosigkeit senken werden. In noch gemeinsamer Regierung sind sie nicht bereit, die Wahrheit über dieses gesellschaftliche Grundübel zu bekennen. Einvernehmlich schönen sie die Zahl der Erwerbslosen und lassen verbreiten, diese liege trotz der Krise bei »nur« 3,462 Millionen. Was für ein Erfolg! Er war allerdings nur möglich, weil mindestens 1,5 Millionen Arbeitslose statistisch weggelogen wurden: die Ein-Euro-Jobber, die Vorruheständler und Altersteilzeitarbeiter, die in sogenannte Weiterbildungsmaßnahmen oder zu privaten Arbeitsvermittlern Delegierten und nicht zuletzt die über 600.000 Männer und Frauen in den »stillen Reserven«, die sich aus lauter Frust nicht mehr als arbeitslos registrieren lassen.

Lügner waren in der BRD allerdings noch nie arbeitslos, allein schon deshalb, weil der Kapitalismus ohne Lügen nicht leben kann. In den vergangenen Jahrzehnten hat er das wieder und wieder bewiesen und einen Lügenberg aufgehäuft, der seinesgleichen sucht. Ausgerüstet mit diesen reichen Erfahrungen, werden seine Verfechter und Propagandisten weiter mit Eifer und insgeheimer Angst vor gesellschaftlichen Alternativen im Jubeljahr 2009 und natürlich auch im bevorstehenden »Wiedervereinigungs«-Gedenkjahr 2010 am Lügenberg über der DDR bauen. Wenn sie dann bei dieser Art Bergbau ihr Tagewerk beendet, neue Hunte voll Dreck zu Tage gefördert und sich selbst in der Kaue reingewaschen haben, dann können sie sich bis zur nächsten Schicht mit ihrem eigenen Bergmannsgruß voneinander verabschieden: »Lüg auf!«