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Titel1809

Todesmühle und Hirschhaus  (Monika Köhler)

Kampnagel-Sommerfestival, die letzte Woche. Zwei Gruppen, die unterschiedlicher nicht sein können: die »Batsheva Dance Company« aus Tel Aviv und »Jan Lauwers & Needcompany« aus Brüssel.

Die deutsche Erstaufführung des Stückes »Max« der Israelis läßt keinen Raum für Geschichten. Ihr Choreograf Ohad Naharin konzentriert sich bewußt auf den Körper. So ist auch die Bühne leer. Die fünf weiblichen und fünf männlichen Tänzer werden nur unterstützt durch wechselndes Licht und Musik, die aus Geräuschen, merkwürdigen Gesangsfetzen und einer Kunstsprache besteht. Töne, die sich steigern und – bei rotem Licht – Feuer assoziieren. Die Tänzer reagieren darauf wie gepeitscht, laufen im Kollektiv, Bewegungen wie unter Zwang. Auch wenn sie auf den Boden fallen, ist ihnen kein Ausruhen erlaubt; die Tänzer werden bis an die Grenzen ihrer Kraft getrieben. Dann Zahlen, geflüstert – in welcher Sprache? Das Zählen wird drohender, wie Hammerschläge. Man spürt: Nicht Worte, Zahlen entscheiden über Leben und Tod. Hände, vorgestreckt, wie ein Begrüßungsversuch, der in der Luft erstarrt – oder die Tänzer wollen etwas zeigen, die Nummern, die nicht sichtbaren Nummern auf den Armen. Das Zählen, jetzt wie Gebrüll von wilden Tieren. Dann ein Wechsel, irgendeine Maschine, Mühle, die alles beherrscht. Todesmühle, Paul Celan nannte sie Todesmühle. Ein hoher Ton begleitet eine einzelne Tänzerin im blauen Licht, macht ihre Einsamkeit hörbar. Ein Zittern durchläuft die Tänzer, kurz wie Stromschläge. Und immer wieder dieses Zählen. Die Tänzer, eingesperrt ins Dezimalsystem, können nicht ausbrechen. Die Männer versuchen durch Ironie auf die Gesangsfetzen zu reagieren, im Spitzentanz auf nackten Zehen. Was wird ihnen da mitgeteilt, in unverständlicher Sprache, Befehle? Zum Schluß gruppieren sich alle, schleudern dem Publikum diese Worte entgegen. Hat es verstanden? Der Beifall jedenfalls ist groß.

Bei Jan Lauwers und seiner »Needcompany«, die den letzten Teil der Trilogie »The Deer House« (Das Hirschhaus) zeigen, ist alles überbordend, ausufernd, vollgestopft. Nicht nur die Bühne, auch das Stück: »Märchen und Drama, Realität und Fiktion« – so wird es angekündigt. Das Hirschhaus, in dem eine ausgeflippte Großfamilie lebt, steht einsam irgendwo in den Bergen auf dem Balkan. Gewalt, nur gespielt, aus Spaß und Sex verwirren die Zuschauer. Ein Kriegsfotograf kommt hinzu, aus dem Kosovo, mit seiner toten Tochter. Wer tot ist und wer lebendig – das geht wild durcheinander. Anlaß zum Stück gab das Tagebuch eines im Kosovo erschossenen Journalisten, Bruder eines der Schauspieler. Genaue Daten, wann und unter welchen Umständen ein Foto entstand, werden verlesen, auch, daß es nur um »gute Bilder« ging. Eine Frau, »auf wunderschöne Art tot« auf einer Ziege. Leider bleibt es bei Ansätzen, die besondere Form der Leichtigkeit irritiert. Es wird viel geredet in französisch und englisch (deutsch übertitelt) über »hingerichtete« Frauen und Kinder und darüber, ob der Bruder jemanden erschossen habe. Aber alles bleibt nebelhaft, es könnten auch Geschichten aus dem Mittelalter sein. Dann singen alle wie im Musical. Viele Hirsche (aus Plastik) auf der Bühne und Geweihe auf den Köpfen der Schauspieler und alberne Hobbit-Ohren. Es gibt winzige Augenblicke, da scheint etwas auf, ein Bild im Kopf: die Erschießung eines Vietcong im Vietnamkrieg – hier mit einem Bolzenschußgerät angedeutet. Doch alles verliert sich im Spielerischen. Leichen stehen gleich wieder auf und sprechen. Eine ältere Schauspielerin kann mitten im Satz nicht weiter, erleidet einen Schlaganfall – das glaubt man ihr fast. Alle sind irgendwie verrückt, nicht nur die junge Grace, die zuletzt, als ein Schneesturm aufkommt, die Hirsche rettet und als Heldin gefeiert wird. Alle heulen um ein totes Kind, das jedoch nur ein alter Plastikweihnachtsbaum im Sack ist. So geht es weiter. Bis nach zwei Stunden alle ausgelassen tanzen und die Zuschauer begeistert sind.