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Titel1809

Bemerkungen

An das Zentralamt für Steuern
Sehr geehrte Damen und Herren, kürzlich erhielt ich einen Brief von Ihrer Außenstelle in Halle an der Saale, der an meinen Sohn adressiert war. Da dieser, wie Sie in dem Schreiben auch ganz richtig vermerkt haben, erst zwei Wochen alt ist, habe ich den Brief zuerst für ihn aufheben wollen, bis er alt genug ist, um ihn selber zu lesen. Nach einigen Tagen des Überlegens habe ich mir dann aber doch erlaubt, den Brief stellvertretend und in seinem Beisein zu öffnen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob er damit einverstanden war, denn er begann zu schreien. Ich hoffe, dies löst nicht den ersten vorpubertären Generationskonflikt zwischen uns aus. Ich würde Sie andernfalls ungern dafür verantwortlich machen.

Ich habe meinem Sohn (es ist tatsächlich ein männliches Kind, wie Sie ebenfalls ganz richtig notiert haben, die Anrede »sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr« hätte also kürzer und präziser ausfallen können) anschließend den Brief vorgelesen, in dem Sie ihm eine Identifikationsnummer für steuerliche Zwecke zugeteilt haben. Ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie meinen Sohn ausdrücklich darauf hinweisen, daß er seine Identifikationsnummer nicht mit seiner Steuernummer verwechseln darf, die er später noch beantragen muß.

Mein Sohn zeigte sich nicht sonderlich erfreut über diese Mitteilung, wollte sich aber nicht näher zu diesem Thema äußern. Ich befürchte, daß er auch künftig seinen derzeitigen Nebentätigkeiten wie Saugen, Strampeln und Schreien nachgehen wird, ohne sich steuerlich registrieren zu lassen. Als ich ihm die Passage »Sie werden gebeten, dieses Schreiben aufzubewahren« vorlas, griff er sofort nach dem Brief und zog daran. Ich dachte für einen Moment, er hätte endlich den Sinn und den Ernst Ihres Anliegens verstanden, doch als er sich das Schreiben zum Mund führte und es mit einem Schwapp Milch übergoss, bekam ich erste Zweifel. Als er das Papier schließlich wild umher schwenkte und gegen die Stäbe seiner Wiege preßte, war ich fest davon überzeugt, daß er es wohl nie in seinen Unterlagen abheften wird.

Mein Sohn möchte sich trotz mehrerer Nachfragen meinerseits nicht weiter zu seiner Identifikationsnummer äußern, weshalb ich Ihnen in seinem Namen für die Zusendung derselben danken möchte. Sicherlich wird er sie bald benötigen, wenn er in etwa 16 bis 18 Jahren seiner ersten steuerpflichtigen Tätigkeit nachgehen wird. Dann wird er sich an die rechtzeitige Zusendung seiner Identifikationsnummer durch Sie sicherlich dankbar erinnern, schließlich haben Sie ihm schon heute wenigstens einen zukünftigen Behördengang erspart. Bis das aber soweit ist, wird mein Sohn dieses wichtige, nun etwas aufgeweichte und zerknitterte Schreiben sorgsam in seiner Wiege aufbewahren.

Mit freundlichen Grüßen, auch im Namen meines Sohnes, der mit Ihrer Zuweisung einer steuerlichen Identifikationsnummer zum ersten Mal Post vom kinderfreundlichen Sozialstaat Deutschland erhielt und sich auf viele weitere nette Briefe und Postkarten freut, Ihr

Bernhard Spring


Es darf gewählt werden
Nachdem nun die Die Zeit sich kurz vor der Wahl genötigt sieht, angesichts des immer schlechter aussehenden Kapitalismus gar eine (nicht die!) »Systemfrage« zu stellen, die Jens Jessen mit der schlichten Antwort verabschiedet, daß »das System, in dem wir leben, gar keines ist«, daß es den Kapitalismus eigentlich überhaupt nicht gebe und die mit ihm aber doch irgendwie verwandte Demokratie durch die »individuelle Verantwortlichkeit der Manager oder Politiker« zu retten sei, sobald deren »aufrechter Gang« beginne – scheint es mir sinnvoll, auf ein schmales Bändchen hinzuweisen, das unsere heutigen industrialisierten Gesellschaften in ziemlich überzeugender Weise als »Postdemokratie« beschreibt. Mit diesem Begriff bezeichnet der Politikwissenschaftler Colin Crouch jene Gemeinwesen, in denen zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, deren Resultate sogar Regierungen aus dem Amt heben können, aber vorbereitet durch »konkurrierende Teams professioneller PR-Experten«, die »die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über die paar Probleme diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt.« Die reale Politik wird dann im Schatten dieser Inszenierung hinter verschlossenen Türen gemacht, von den gewählten Regierungen im Zusammenspiel mit jenen nicht gewählten Eliten, die vor allem die Interessen »der Wirtschaft« vertreten.

Colins Studie, die den Stand der politikwissenschaftlichen Forschung zum Thema knapp und sinnvoll mitreflektiert, erschien schon 2003 in Italien und basiert auch auf dortigen Beobachtungen, neben denen der Entwicklung in England. Im Vordergrund seiner Analyse stehen jedoch Institutionen wie die globalen Unternehmen als gesellschaftliches Modell (Kapitel 2), die neue Rolle sozialer Klassen im postdemokratischen Zeitalter (Kap. 3), das daraus resultierende Dilemma der Parteien (Kap. 4) sowie die Kommerzialisierung öffentlicher Leistungen (Kap. 5). Kapitel 6 »Und jetzt?« bietet keine Lösungen für die benannten Probleme, sondern präzisere Fragestellungen, denn die Überwindung der einfachen Unterscheidung zwischen Demokratie und Nichtdemokratie eröffnet der Diskussion über den Zustand unseres politischen Gemeinwesens einen erweiterten Horizont.
Susanna Böhme-Kuby

Colin Crouch: »Postdemokratie«, edition suhrkamp, 159 Seiten, 10 €



Das Win-win-Spiel
Daß die Abgabe der Stimme beim Wahlvolk an Beliebtheit gewinnt, läßt sich nicht behaupten. Bei der Kommunalwahl im bevölkerungsstärksten Bundesland NRW und bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sackte die Beteiligung weiter ab. Eine Ausnahme bildete das Saarland, vermutlich ist das Oskar zu verdanken. Aber die PolitikerInnen (mit Ausnahme eines sächsischen Sozialdemokraten, der gleich zurücktrat) sind zufrieden, denn alle Parteien haben gewonnen – wie bei jeder Wahl. Hier gibt es nur Gewinner. Auch eine Partei, die Stimmen verloren hat, findet immer noch eine andere, die noch mehr einbüßen mußte als sie oder die nicht so viel dazugewonnen hat, wie sie erhofft hatte. Auch läßt sich die Verlustquote einer Partei mit der vergleichen, die Meinungsforscher ihr zugedacht hatten, und siehe da: Die Partei befindet sich entgegen allen Vermutungen auf der Erfolgsstraße. Ein Problem bleibt freilich: Wie geht man mit dem Mangel an Aufmerksamkeit des Publikums für dieses Spiel um? Die Kanzlerin hat sich dazu, wie es ihre Art ist, bedächtig geäußert: »Ich kann subjektiv nicht feststellen, daß sich niemand für den Wahlkampf interessiert«, sagte sie am Wahlsonntag. Selbst objektiv ist feststellbar: Es gibt Interessenten, sonst fände die ganze Veranstaltung nicht statt. Eindeutig ist vor allem das Interesse derjenigen, die über Wahlen an das heutzutage nahezu einzige Ziel von Parteienpolitik gelangen wollen: die Regierungsbeteiligung. Da sind nicht nur Minister-, sondern auch viele andere Posten zu gewinnen. Beim Koalitionsspiel allerdings gibt es dann doch Verlierer; nicht alle Parteien können mitregieren, auch wenn sie es gerne möchten. In der Stunde größter Not von Banken und Aktiengesellschaften freilich wären sogar Allparteienregierungen denkbar Dann ließen sich Rettungsschirme leichter tragen, legitimatorisch.
Marja Winken


Elektromobil
Im Bundestagswahlkampf mangele es an »faßbaren« Aussagen der Politiker, wird geklagt. Stimmt aber nicht, da ist ein durchaus handfestes Thema zu finden.

Ob er sich ein Elektromobil als seinen Dienstwagen vorstellen könne, wird Karl-Theodor zu Guttenberg gefragt. Durchaus, sagt der, sobald diese Modelle ausgereift seien, solle ein Wirtschaftsminister damit »vorangehen«, insbesondere »wenn es sich um einen deutschen Hersteller« handele. Frank-Walter Steinmeier, vor dieselbe Frage gestellt, ist ein bißchen vorsichtiger: »Wenn es einen gepanzerten Elektro-Smart gibt, können wir darüber reden.« Ganz forsch Jürgen Trittin: Würde er Bundeskanzler, so verspricht er (was ihm allerdings leicht fällt, weil er’s nun wirklich nicht wird), hätten wir zehn Jahre später »über eine Million Elektroautos auf den Straßen, und unsere Autoindustrie wäre auf diesem Feld endlich wieder weltweit führend«.

Parteien? Die kennen wir nicht mehr. Nur noch das schwarz-rosa-grüne Elektromobil. (Die Politikerauskünfte sind der Welt am Sonntag entnommen.)
M.W.


Springer-Rat

Was wird aus der SPD, wenn sie nach dem 27. September nicht wieder in das warme Bett einer Großen Koalition schlüpfen kann, sondern in die Kälte der Opposition verstoßen wird? Thomas Schmid, Chefredakteur der Springer-Welt, macht sich Sorgen um die älteste deutsche Gegenwartspartei, weiß aber Rat: In der Opposition könne die SPD »wieder erstarken«. Wodurch? Indem sie eine staatspolitische Aufräumarbeit übernimmt: »der Linkspartei das Wasser abzugraben«. Nur in der Opposition könne die SPD die Partei »Die Linke« unter fünf Prozent drücken; »ein Gespenst, das in der politischen Arena nichts mehr zu suchen hat, wäre gebannt«. Franz Müntefering, der ja SPD-Parteivorsitzender bleiben will, müßte dann sagen: »Was kümmert mich mein Mist von gestern – jetzt retten wir Deutschland vor dem gespenstischen Kommunismus.« An Erfahrung mit einer solchen Aufgabe fehlt es der Partei nicht. Und daß in der Linkspartei leibhaftige Kommunisten kaum zu finden sind, macht nichts; es soll ja ein Gespenst gebannt werden.
Peter Söhren


Bald kommt die neue Agenda
Die Kluft zwischen Reich und Arm werde durch die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise kleiner, »Gleichmacherei« bahne sich an – warnte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Professor Klaus Zimmermann. Also kann ein mehrfacher Millionär, der durch bad papers einige Hunderttausende Euro verlor, sozialneidisch auf den Hartz-IV-Bezieher schauen: Dessen Regelsatz blieb ungekürzt.

Ein Milliardendefizit in den Sozialkassen drohe, warnte das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, und der vielgefragte Finanzwissenschaftler Professor Bernd Raffelhüschen mahnte bei Angela Merkel als der vermutlichen Weiterkanzlerin eine »neue Reform der Sozialsysteme« an, eine zweite »Agenda 2010«.

Ganz klar, die Finanzen, die nötig wären, um die Defizite in den sozialen Sicherungssystemen auszugleichen, kann der Staat nicht aufbringen. Er hat genug damit zu tun, die zigfach höheren Schulden von Finanzfonds und Banken zu übernehmen; er muß schließlich Prioritäten setzen, damit Reichtum nicht weniger reich wird. Für die Probleme der Sozialkassen gibt es, wie Raffelhüschen weiß, eine andere Lösung: weitere Privatisierung der Risiken! Er kennt sich im Geschäftsfeld der renditeorientierten Versicherungsgesellschaften aus: Die warten nur auf Kunden. Und damit dort Bewegung hineinkommt, muß Druck entstehen, das Gefühl: Sozialausgaben? Da muß der Staat sparen, und so arm sind die Armen ja auch gar nicht.

Die Experten bereiten jetzt auf eine neue Agenda vor, nach dem 27. sind die Politiker dran.
Arno Klönne


DDR-Kunst zurück in den Osten

Vor mehr als einem Vierteljahrhundert nahm in Oberhausen das »Institut für Kunst der DDR« die Arbeit auf. Sein Gründer war Peter Ludwig, Schokoladenfabrikant in Aachen und nebenbei auch Kunstsammler. Wie es seine barocke Art war, akquirierte er lastwagenweise Kunst direkt von den Künstlern oder kaufte die Ware über den Staatlichen Handel der DDR ein. Etwa sechshundert Werke stationierte er in Oberhausen, einem der Standorte seines weltumspannenden Imperiums – Köln als Zentrum sowie Aachen, Koblenz, Basel, Leningrad, Peking und Havanna. So zogen nach 1984 die Arbeiten von Sitte, Tübke, Heisig, Mattheuer, Ebersbach, Metzkes, Stelzmann und weiteren Malerkollegen in Oberhausen ein.

Der Name des Museums »Ludwig Institut für Kunst der DDR« hielt sich bis 1998. Dann wurde aus dem Institut die »Ludwig Galerie«. Nach gründlicher Sanierung und einem gläsernen Anbau holte man die DDR-Kunst nur noch ausnahmsweise aus dem Depot. Nicht für eigene Ausstellungen, sondern für andere Museen. Themenausstellungen zur DDR und ihrer Kunst fanden in Oberhausen nicht mehr statt – angesagt waren nun Plakatkunst und Comics aus den Beständen des Großsammlers Ludwig.

Im März 2008 trat als neue Museumsdirektorin Christine Vogt die Nachfolge von Bernhard Mensch an. Sie übernahm sein Konzept mit leichter Akzentverschiebung. Aber die Kunst der DDR, hundertsechzig Bilder und Skulpturen und fast fünfhundert grafische Blätter, empfand Frau Vogt in Oberhausen als fehl am Platz. So wird die DDR-Kunst in diesen Tagen das Kunst-Schloß Oberhausen verlassen. Die Gemälde und Plastiken gehen ans Museum der bildenden Künste nach Leipzig, die Grafik ans Germanische Nationalmuseum nach Nürnberg.

In einem Gespräch mit Journalisten legte Christine Vogt großen Wert darauf, daß der Impuls für diese Entscheidung, die vom Kuratorium der Ludwig Stiftung getroffen wurde, von ihr ausgegangen war. Als Museumsfrau habe sie gemerkt, daß die DDR-Werke nicht mehr zum Profil des Hauses passen. In Leipzig sei das Interesse an den Arbeiten größer, dort seien sie besser aufgehoben und könnten besser erforscht werden.
Für mich sind diese Argumente nicht nachvollziehbar. Vielmehr wird schlagartig sichtbar, wie es um das Ost-West-Verhältnis im Kunstbetrieb bestellt ist. Auch zwanzig Jahre nach der deutschen Einheit hat sich hier nichts geändert. Welchen Aufschrei würde es geben, wenn ein Museum in Halle, Rostock oder Cottbus Arbeiten von Beuys oder Kiefer in die Alt-BRD zurückschicken würde? Mit der Rückgabe der Kunst der DDR aus Oberhausen werden nicht nur die Künstler abgewertet. Museumspolitisch ist die »Entsorgung« mehr als kurzsichtig. In der DDR-Kunst wäre noch viel zu entdecken, für Museumsbesucher wie auch für Kunstwissenschaftler. Oberhausen wird nun, abgesehen von seinen Internationalen Kurzfilmtagen, kunstpolitisch wieder zur Provinz.
Karl-H. Walloch


Gelebter Pazifismus
»Du hattest gewählt« schrieb Milly Zirker in ihrem bewegenden Nachruf für Hellmut von Gerlach, den sie in der Neuen Weltbühne als Brief an den am 1. August 1935 in ihren Armen Verstorbenen veröffentlichte. »Jahrzehntelang hast Du im unerschütterlichen Kampf für die Völkerverständigung gestanden. Und weil Du wußtest, daß nur unter bestimmten Vorbedingungen eine Internationale der Völker möglich ist, drum hingst Du mit einer geradezu fanatischen Liebe an Deinem Traum der Deutschen Republik. Du hast ihn nicht mehr verwirklicht gesehen, wir werden ihn erkämpfen müssen, und wir werden ihn erkämpfen, das versprechen wir Dir.«

Ganz im Sinne dieses Gelöbnisses fanden sich im Sommer 2007 Gelehrte und Publizisten zu einer Tagung ein (s. Ossietzky 12/07), deren Beiträge nun im vorliegenden Band versammelt sind. Sie war Gerlach gewidmet, zugleich auch jenen, die an seiner Seite im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik für den Pazifismus eintraten.

Nichts sei so beständig wie der Wandel, heißt es. Doch dieser Band, an dem 15 Autoren sich beteiligten, handelt von der Beständigkeit eines Gewandelten. Wechselvoll und dennoch geradlinig verlief das Leben Hellmut von Gerlachs. Der Titel »Vom Junker zum Bürger« deutet es an, wenngleich einige Autoren bezweifeln, ob die Bezeichnung Junker zutreffend sei. Vielleicht hätte auch anderes gefunden werden können, zum Beispiel vom deutschnationalen Antisemiten zum Demokraten und von rechts nach links oder ganz und gar ein Titel, für den Karl Holls Einschätzung, Gerlach sei ein Radikaldemokrat ohne Partei gewesen, sich anbieten würde. Ja, Gerlachs Weg ist weit und dornig gewesen, entscheidend aber war seine außergewöhnliche Charakterstärke, die engstirnig-nationalistischem Zeitgeist und aggressiver Politik mutig standhielt.

Gerlach zählte 1908 zu den Mitbegründern der Demokratischen Vereinigung, dann der Internationalen Liga für Menschenrechte, der Deutschen Friedensgesellschaft und (1930) der Radikaldemokratischen Partei. Unter seiner Leitung entwickelte sich die Zeitung Welt am Montag zum auflagenstärksten linksliberalen Blatt. Er suchte Verständigung insbesondere mit Frankreich und Polen; in seiner intensiven Auseinandersetzung mit der preußischen Polenpolitik gelangte er zu der Einsicht, daß vor allem eine auf gegenseitiger Achtung und Aufrichtigkeit gegründete Beziehung zwischen Deutschland und Polen ein Schlüssel für das friedliche Zusammenleben der Völker in Europa wäre. Dieses Bemühen machte ihn in vielen Ländern bekannt. Vor allem in Polen genoß er hohe Achtung, deren Gegenwärtigkeit sich auch in den Beiträgen der polnischen Autoren dieses Bandes spiegelt.

Es verwundert kaum, daß Gerlach – nach dem Zweiten Weltkrieg erneut vom »Zeitgeist« betroffen – bislang relativ wenig Beachtung fand. In der DDR erschien 1965 eine Schrift aus der Feder Ruth Greuners, die den »Aufrechten« pries und damit eine Grundlage auch für Arbeiten Jenaer Historiker zu den »nichtproletarischen Demokraten« (wie es zeitgemäß hieß) bot. In der ehemaligen Bundesrepublik erschienen 1984 beziehungsweise 1988 Biografien von Ursula Susanne Gilbert und Franz Gerrit Schulte – insgesamt wenig im Vergleich mit der wesentlich umfangreicheren Literatur über Carl von Ossietzky oder Kurt Tucholsky. Da tröstet auch kaum, daß andere aus der Schar dieser Aufrechten – beispielsweise Milly Zirker oder Friedrich Wilhelm Foerster – völlig ungerechtfertigt noch weniger bedacht worden sind. Umso erfreulicher die hier geschaffene Abhilfe; einige Autoren wagen sich sogar an das schwierige Thema eines Vergleichs pazifistisch-demokratischer Persönlichkeiten.

Zwei der Beteiligten wenden sich fortwirkenden Problemen zu: zum einen der Herausgeber, Christoph Koch, der auf über einhundert Seiten die »Schatten des Reiches« in der deutschen Außen- und Innenpolitik der letzten beiden Jahrzehnte mustergültig decouvriert und nachdrücklich fordert, endgültig dem »reichlichen Identitätssyndrom« zu entsagen, zum anderen Eckart Spoo, der ganz in Gerlachs Sinne Widerstand gegen »Lügenpropaganda« und den »Abbau des Rechts« sowie kritischen Umgang mit der Vergangenheit verlangt. Und was Hans-Jürgen Bömelburg, Michael Quetting, Susanna Böhme-Kuby, Ludwig Elm, Karl Heinrich Pohl, Karl Holl, Wolfgang Wippermann, Helmut Donat, Karl Rose, Przemyslaw Hauser, Krysztof Rzepka, Mario Keßler und Jörg Wollenberg beisteuern, ist durchweg informativ und sehr anregend. Es verrät solide Kenntnis der Quellen und der Literatur (auch wenn auf Seite 153 für den Geopolitiker Haushofer der Vorname seines 1945 hingerichteten Sohnes erscheint). Alles fügt sich zu einem sorgsam erarbeiteten lesenswerten Buch, das problembewußt und überzeugend Wandlungen ebenso erkennen läßt wie gewonnene Beständigkeit friedenspolitischer Positionen, die Vielfalt und Differenziertheit des Pazifismus wie auch seine Schwierigkeiten in einem von politischen Parteien eng gesetzten Rahmen, nicht zuletzt die Vorteile einer aus engstirniger Polarisierung befreiten Gesellschaftskritik.
Manfred Weißbecker

Christian Koch (Hg.): »Vom Junker zum Bürger. Hellmut von Gerlach – Demokrat und Pazifist in Kaiserreich und Republik«. Mit einem Nachdruck der Broschüre: Hellmut von Gerlach: »Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik«, Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, 430 Seiten, 59.90 €



Press-Kohl
Das Mitteilungsblatt des Stadtbezirkes informiert: »Ab sofort findet im Rathaus die Beratung durch die Untere Denkmalschutzbehörde sowie die Bearbeitung von Anträgen zur Mietermodernisierung statt.« Solchen Antrag werde ich stellen. Ich bin schon seit Jahrzehnten Mieter, da wird es Zeit, sich endlich mal modernisieren zu lassen.
Felix Mantel