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Titel1810

Ein abstoßendes Symbol der Unmenschlichkeit  (Kai Weber)

»Reisefreiheit, Freizügigkeit und Zusammenarbeit werden – davon bin ich überzeugt – dazu führen, daß die Teilung Europas überwunden wird. Damit wären auch die Tage der Mauer in Berlin gezählt. Dieses abstoßende Symbol der Unmenschlichkeit muß verschwinden.« So sprach Helmut Kohl am 8. November 1989 in seinem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland.

Heute, 20 Jahre später, gibt es keine sichtbaren Grenzen mehr in Deutschland und keine Grenzkontrollen in Europa. Die uneingeschränkte Freizügigkeit, wie das Grundgesetz sie garantiert, gilt für alle Deutschen – nicht jedoch für Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge. Für sie gelten in Deutschland rigide Beschränkungen der Reisefreiheit, ein perfides System, euphemistisch »Residenzpflicht« genannt.

Asylsuchenden ist es in Deutschland verboten, ohne Erlaubnis den Bezirk der für sie zuständigen Ausländerbehörde vorübergehend zu verlassen (§ 56 Asylverfahrensgesetz). Spazierfahrten, Arzt- und Freundschaftsbesuche oder auch Jobs außerhalb des Bezirks sind für sie tabu. Lediglich Besuche bei Behörden sowie beim Asylanwalt sind außerhalb des genehmigten Aufenthaltsbereichs zulässig. Bei geduldeten Flüchtlingen ist der Bereich etwas weiter gesteckt: Sie dürfen sich innerhalb eines Bundeslandes ohne behördliche Genehmigung frei bewegen (§ 61, 1 Aufenthaltsgesetz). Hingegen macht sich ein Geduldeter, der im niedersächsischen Delmenhorst wohnt und zum Einkaufen ins benachbarte Bremen fährt, dadurch strafbar. Kein einziges anderes Land in Europa schränkt die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge derartig ein. Nirgendwo außer in Deutschland müssen die Asylsuchenden bei Verlassen des ihnen zugewiesenen Aufenthaltsortes Sanktionen befürchten.

Die Betroffenen können »Reisegenehmigungen« bei den Ausländerbehörden beantragen, müssen aber damit rechnen, daß es lange dauern kann, bis über den Antrag entschieden wird, und oftmals erheben die Behörden Gebühren in Höhe von zehn bis 30 Euro. Diese Praxis ist zwar rechtswidrig, aber nur wenige Flüchtlinge klagen dagegen. Schließlich wird längst nicht jeder Antrag bewilligt: Die Erlaubnis soll nur erteilt werden, wenn hieran ein »dringendes öffentliches Interesse« besteht, »zwingende Gründe« es erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine »unbillige Härte« bedeuten würde. Was darunter zu verstehen ist, entscheidet die örtlich zuständige Ausländerbehörde. Flüchtlinge klagen über teilweise inquisitorische Befragungen von Behördenangestellten zur Beurteilung der Frage, wie »dringend« und »zwingend« eine Reise sei.

Der togoische Flüchtling Komi E. berichtet: »Als ich meine Freundin in Berlin heiraten wollte und in meinem Landkreis, dem Saalekreis (Sachsen-Anhalt), den Urlaubsschein beantragte, wurde ich gefragt: Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt? Die Sachbearbeiter fragten nach Einzelheiten und wollten erfahren, ob ich in der Vergangenheit heimlich nach Berlin gefahren sei, denn dann hätte ich mich strafbar gemacht. Sie zweifelten an meiner Partnerschaft und erklärten, sie reiche nicht aus für eine Heirat. Ich mußte lange argumentieren, bevor sie mir den Urlaubsschein gegeben haben.«

Der niedersächsische Landkreis Northeim erließ im Juni 2010 folgenden Ablehnungsbescheid: »... Sie gaben an, daß Sie Ihre Frau vermissen und Sex mit ihr haben möchten. Auf Nachfrage erklärten Sie, daß Sie nicht standesamtlich, sondern lediglich nach irakischem Ritual verheiratet sind. Entsprechend Nr. 12.5 ff. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz ist die Ver-lassenserlaubnis u.a. bei bestehendem dringenden öffentlichen Interesse zu erteilen. Dieses kann u.a. vorliegen, wenn der Ausländer unter Zeugenschutz steht, oder zur Beschaffung von Heimreisedokumenten. Weiterhin wird die Verlassenserlaubnis bei Vorliegen von zwingenden Gründen erteilt. Dies kann z.B. der Besuch eines Facharztes oder eines schwer kranken Familienmitglieds sein. Bei Ihrem Vortrag, Ihre Frau zu treffen, um mit ihr Sex zu haben, handelt es sich nicht um einen Grund, der den genannten Voraussetzungen entspricht.«

Dem Schlachter Ahmed S. der schon viele Jahre Tiere in anderen Bundesländern begutachtet und ankauft, teilte der Landkreis Hildesheim schriftlich mit: »Um die Voraussetzungen [für eine Reisegenehmigung] prüfen zu können, haben Sie ausführlich den Grund, Art, Umfang und Ort der Tätigkeit darzulegen sowie die genaue Anschrift mit Namen und Telefonnummer des Geschäftspartners bzw. der Person anzugeben, deren Besuch beabsichtigt ist. Ich weise darauf hin, daß eine Ablehnung keiner schriftlichen Begründung bedarf.« Der Betroffene lebt bereits 25 Jahre in Deutschland.

Auch eine politische Betätigung von Flüchtlingen wird nicht gern gesehen. Die niedersächsische Landesregierung geht so weit, eine Teilnahme an Demonstrationen rundweg zu verbieten. In einem Runderlaß der Landesregierung heißt es lapidar: »Für die Teilnahme an Demonstrationen soll grundsätzlich keine Verlassenserlaubnis erteilt werden, um die Schaffung von Nachfluchtgründen zu verhindern. Die damit mittelbar verbundenen Einschränkungen ihrer Meinungsfreiheit sind hinzunehmen.« Entsprechend verweigerte die Verwaltung des Aufnahmelagers Blankenburg bei Oldenburg der kurdischen Aktivistin H. beispielsweise die Teilnahme an einer Anhörung des Flüchtlingsrats Niedersachsen zum Thema »Leben im Lager«.

Wer sich derartigen entwürdigenden Prozeduren und verfassungswidrigen Verboten nicht unterwirft und ohne Genehmigung den Bereich des zugewiesenen Aufenthalts verläßt, riskiert drastische Konsequenzen: Das Gesetz sieht eine Geldbuße bis zu 2.500 Euro vor, im Wiederholungsfall auch eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Solche Verurteilungen können später die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verhindern.

Der Sprecher des Flüchtlingsrats Nordrhein-Westfalen, Michael Stoffels, hat bereits vor Jahren an die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 erinnert, die eine Zuwiderhandlung gegen eine auferlegte räumliche Beschränkung unter Strafe stellte – mit gleichem Wortlaut und Strafmaß wie das heutige Aufenthaltsgesetz. Seine Schlußfolgerung: »Die Auflage einer räumlichen Aufenthaltsbeschränkung gehört zu jenem Traditionszusammenhang administrativer Diskriminierung von Ausländern, wie er sich im vergangenen Jahrhundert durch ein Wechselspiel von öffentlichem Rassismus und restriktiver Ausländerpolitik herausgebildet hat.« Die Aktivistinnen und Aktivisten von »Togo Action Plus« verweisen auf koloniale Traditionen: »Es sollte daran erinnert werden, daß es während der Kolonialisierung Togos, Kameruns und weiterer Länder durch Deutschland der Bevölkerung nicht erlaubt war, ihr jeweiliges Dorf oder Gebiet ohne eine kostenpflichtige Sondergenehmigung zu verlassen.«

In der Regel werden Geldstrafen zwischen 100 und 500 Euro verhängt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Residenzpflicht und ihre Strafbewehrung für verfassungsgemäß erklärt, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die deutschen Vorschriften als mit Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (»Recht auf Freizügigkeit«) vereinbar angesehen. Dennoch sind diese Verurteilungen häufig schon deshalb rechtswidrig, weil viele Flüchtlinge, die für ihren Lebensunterhalt Sachleistungen in Höhe von rund 30 Prozent weniger als den »Hartz IV«-Satz erhalten, diese Strafen mit ihrem armseligen »Taschengeld« von 40,90 Euro im Monat gar nicht zahlen können. Eine Reduzierung der Strafen auf rund ein Zehntel wäre bei Einlegung von Rechtsmitteln durchaus möglich. Da jedoch die Gebühren für eine anwaltliche Vertretung die damit erreichbare Reduzierung der Strafe in der Regel überschreiten, verzichten die Betroffenen oftmals auf ihr Recht.

In vielen Fällen kommt es zu noch höheren Geld- oder sogar Freiheitsstrafen: Zu acht Monaten Haft verurteilte das thüringische Amtsgericht Bad Lobenstein den Kameruner Felix Otto, weil er wiederholt gegen die Residenzpflicht verstoßen hatte. Otto lebte in einem abgelegenen Asylbewerberheim einige Kilometer von Juchhöh im Saale-Orla-Kreis. »Er sollte sich einmal pro Woche in seinem Heim in eine Liste eintragen,« begründete Richter Marufke sein drakonisches Urteil. »Er ist jedoch bei polizeilichen Kontrollen mehrfach außerhalb dieses Landkreises angetroffen worden.«

Derartige Verurteilungen kommen nur ausnahmsweise ans Tageslicht, wenn die Betroffenen sich wehren, so wie Otto, der Mitglied der afrikanischen Flüchtlingsorganisation »The Voice« in Jena ist. »Er hat sich lediglich die Bewegungsfreiheit genommen, die außer Asylbewerbern jedem Menschen in Deutschland zusteht«, sagt The-Voice-Sprecher Osaren Igbinoba. Wie alle Asylbewerber sei er »ohne irgendein Verbrechen für Jahre zur sozialen Isolation in seinem Landkreis verurteilt gewesen«. Weil er dies nicht akzeptiert habe, werde er nun »mit einem Gefängnis aus Mauern, Gitter und Stahl bestraft.«

Otto ist kein Einzelfall: Nach den Berechnungen der Sozialwissenschaftlerin und Journalistin Beate Selders werden in der Bundesrepublik jährlich 80 bis 100 Flüchtlinge inhaftiert, weil sie gegen die Residenzpflicht verstoßen haben. Mehr als 160.000 Strafverfahren wurden seit 1982 gegen Flüchtlinge geführt, die sich unerlaubt aus den zugewiesenen Kreis- oder Bundeslandgrenzen fortbewegt hatten, ermittelte Selders.

Diese massenhafte Verfolgung und Kriminalisierung von Flüchtlingen ist nur möglich, weil Polizisten im Rahmen sogenannter ereignisunabhängiger Kontrollen immer wieder gezielt dunkelhäutige und schwarzhaarige Personen nach ihren Pässen fragen. »Ich werde kontrolliert, sobald sie meine Hautfarbe sehen«, berichten übereinstimmend und wiederkehrend Flüchtlinge, die auf Plätzen, Bahnhöfen oder Autobahnraststätten – oft aus einer großen Menschenmenge – gezielt herausgegriffen und vor den Augen anderer Passanten festgehalten, durchsucht und kontrolliert werden.

Offiziell wird die Residenzpflicht damit begründet, daß die Flüchtlinge für die Behörden erreichbar sein sollen. Dabei müssen sie sich zur Verlängerung ihrer Papiere ohnehin regelmäßig bei den Behörden melden. »Für eine generelle Einschränkung der Bewegungsfreiheit fehlt es an schlüssigen Gründen«, betont der Vertreter beim UN-Hochkommissars für Flüchtlinge in Deutschland, Michael Lindenbauer, und schließt sich damit der Kritik an. Der Zugang zu Bildungs- und Beratungsangeboten sowie zu medizinischer Versorgung werde dadurch ebenso wie ein Besuche bei Angehörigen und Freunden oft unnötig erschwert.

Berlin und Brandenburg haben vor kurzem die Residenzpflicht zumindest gelockert: Nach dem Willen des Innensenators Körting und seines Brandenburger Amtskollegen Speer sollen die Länder aufgrund besonderer örtlicher Verhältnisse landesgrenzüberschreitende Residenzpflichtbezirke schaffen können. Dieser Schritt ist begrüßenswert, auch wenn diverse Ausschlußklauseln befürchten lassen, daß nur wenige Flüchtlinge davon profitieren werden. Wichtiger noch ist der mit rot-rot-grüner Stimmenmehrheit im Düsseldorfer Landtag verabschiedete Beschluß, die Reisemöglichkeiten für Flüchtlinge zu verbessern: »Asylbewerber und Geduldete sollen sich erlaubnisfrei im gesamten Gebiet des Bundeslands Nordrhein-Westfalen aufhalten dürfen«, heißt es in der Vorlage. Die Landesregierung wird aufgefordert, »alle Möglichkeiten für eine Lockerung der räumlichen Beschränkungen, denen Asylbewerber und geduldete Ausländer im Land NRW aufgrund des Asylverfahrensgesetzes und des Aufenthaltsgesetzes unterliegen, auszuschöpfen«. Die Erteilung der Verlassenserlaubnisse (»Urlaubsscheine«) soll künftig »weitgehend im Sinne der Antragsteller gehandhabt« werden.

Die Landesregierung ist also nun ausdrücklich aufgefordert und ermächtigt, alles zu tun, was ihr im Rahmen der Bundesgesetze möglich ist. Der Vorwurf von »The Voice« an die deutsche Linke, sie bejubele sich nur selbstgerecht, betreibe Heuchelei und wolle »nicht das ganze rassistische System der Sondergesetze für Flüchtlinge und Migranten abschaffen, sondern nur einzelne Teile reformieren«, wirkt da unpassend. Osaren Igbinoba hat jedoch Recht, wenn er darauf hinweist, daß mit den Beschlüssen in Berlin/Brandenburg und Nordrhein-Westfalen die Residenzpflicht noch nicht abgeschafft ist, und wenn er feststellt: »Es gibt keine Kompromisse, wenn es um die Einhaltung von Menschenrechten geht. Die Anerkennung der Bewegungsfreiheit eines jeden Menschen in Deutschland und Europa steht noch aus.«