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Titel1811

Bomben- und Propagandakrieg  (Joachim Guilliard)

Die Diskrepanzen in der Darstellung des Krieges in Libyen könnten kaum größer sein: Während westliche Medien vom Sieg des Volkes über Gaddafi berichten, wird der Sturm auf Tripolis in Lateinamerika, Afrika und Asien als imperiales Verbrechen verurteilt. So prangern 200 prominente afrikanische Künstler, Wissenschaftler und Politiker in einer gemeinsamen Erklärung Frankreich, die USA und Großbritannien als »Schurkenstaaten« an und bezeichnen deren Politik als »ernsthafte Gefahr einer neuen Kolonialisierung« des Kontinents. Hierzulande hingegen halten die tonangebenden Politiker und Publizisten hartnäckig am Bild einer »demokratischen Revolution« fest, deren Entfaltung durch die NATO geschützt wurde. Für den Nahost-Experten Volker Perthes, führender Kopf der regierungsnahen »Stiftung Wissenschaft und Politik«, rechtfertigt der Erfolg das Vorgehen – trotz der von ihm angegeben Schätzung von 30.000 Kriegstoten.

Dabei war von Anfang an klar, daß sich die Aufständischen nur dank der militärischen Unterstützung der Kriegsallianz halten und durchsetzen konnten. Die geringe Stärke der Gegner Gaddafis und der anhaltend große Rückhalt für sein Regime zwang die NATO-Mächte schließlich, die letzte Rücksicht auf die UN-Resolution 1973, die bis dato als Feigenblatt gedient hatte, fallen zu lassen und mit eigenen Truppen die Führung beim Sturm auf die Hauptstadt zu übernehmen.

Als im Juli der Krieg gegen Libyen in den fünften Monat ging und die libyschen Rebellen trotz einer militärischen, finanziellen und politischen Unterstützung, wie sie kaum eine oppositionelle Bewegung je zuvor bekommen hatte, keine nennenswerte Fortschritte erzielten, ging die Stimmung innerhalb der Kriegsallianz in den Keller. »Von inneren Auseinandersetzungen gebeutelt« und »unterminiert durch das rücksichtslose und undisziplinierte Verhalten ihrer Milizen« scheine der Aufstand gegen Oberst Gaddafi in einen trüben Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Fraktionen und Stämmen überzugehen, klagte noch am 13. August die New York Times. Frankreichs Verteidigungsminister Gérard Longuet sprach im französischen Fernsehen sogar schon von einem Scheitern der militärischen Operation. Die Dinge müßten sich in Tripolis bewegen, so Longuet. »Um es deutlich zu sagen, die Bevölkerung muß sich erheben.«

Die Großdemonstrationen im Juli, bei denen Hunderttausende in Tripolis und anderen Städten gegen die NATO und deren lokale Verbündete demonstrierten, machten diese Hoffnung zunichte. So blieb nur noch Plan B: den Feldzug am Boden selbst zu übernehmen und auch den »Aufstand in Tripolis« selbst zu inszenieren. Mit Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan begann die Kriegsallianz ihre Offensive, die Mitte August zum Durchbruch führte. Rebellenmilizen und aufständische Stammeskämpfer drangen in strategisch wichtige Städte rund um die Hauptstadt vor und schnitten ihr die Versorgungswege ab. Überraschend schnell gelang der Einmarsch in Tripolis.

Von einem »Sieg der Rebellen« oder gar einem »Sturz des Diktators durch das eigene Volk« wie beispielsweise die taz sogleich frohlockte, kann keine Rede sein. Ausschlaggebend für diese Erfolge waren allein die Intensivierung des Luftkrieges und der Einsatz von Elitetruppen der NATO an der Spitze der Rebellenmilizen. Indem die acht kriegführenden NATO-Mächte ihre Luftangriffe nun auf die vorgesehene Marschroute der Rebellenverbände konzentrierten, bombten sie diesen sukzessive den Weg frei; sie »weichten« die Angriffsziele für die Rebellen »auf«, wie es Derek Flood vom US-Think Tank Jamestown Foundation ausdrückt. Ein solches »Aufweichen« durch flächendeckende Bombardierung kostete allein in dem Dorf Majer, nahe der umkämpften Stadt Sliten, über 80 Männern, Frauen und Kindern das Leben.

Wie anschließend immer deutlicher ans Licht kam, hatten britische und französische Elite-Einheiten, unterstützt von jordanischen und katarischen Spezialkräften, die Führung beim Vormarsch übernommen. Diese Elitetruppen wiesen die NATO-Bomber ein und steuerten das Eingreifen der Kampfhubschrauber, die mit ihrer ungeheuren Feuerkraft den Angreifern den Weg freischossen. Sobald die Verteidiger sich gezwungen sahen, sich den Angreifern entgegenzustellen, wurden sie von Kampfjets und Hubschraubern unter Feuer genommen.

Auch libysche Spezialkräfte, die in den letzten Monaten von NATO-Staaten aufgebaut und trainiert worden waren, trugen zu den Erfolgen bei. Ein Teil von ihnen wurde zusammen mit erheblichen Mengen an Waffen und Ausrüstung vor dem Angriff nach Tripolis geschmuggelt, wo sie (lt. CBS News) bewaffnete »Schläferzellen« bildeten. Indem diese im entscheidenden Moment an zentralen Stellen zuschlugen, konnten sie den Eindruck vermitteln, die Hauptstadt wäre in kurzer Zeit in die Hände der Rebellen gefallen.

Diese Art der psychologischen Kriegführung spielte eine entscheidende Rolle. Mit einem Feuerwerk stark übertriebener oder erfundener Erfolgsmeldungen versuchte man, unter den Bewohnern der angegriffen Städte Panik und das Gefühl der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstands zu verbreiten. Indem die internationalen Medien solche Meldungen bereitwillig wiedergaben, verstärkten sie deren Wirkung, während die Zerstörung der staatlichen Radio- und Fernsehsender durch NATO-Bomben der Regierung die Möglichkeit zu Richtigstellungen nahm. Allein die Falschmeldung über die Gefangennahme der Gaddafi-Söhne, die weltweit verbreitet und vom Internationalen Strafgerichtshof bekräftigt wurde, habe den Rebellen einen erheblichen politischen und militärischen Vorteil verschafft, verkündete stolz der Chef des Übergangsrats, Mahmoud Dschibril. Viele Soldaten hätten daraufhin den Kampf aufgegeben (s. Reuters, 23.8.11)
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Deutungshoheit
Daß Deutschland der Ermächtigung des NATO-Militärs durch den UN-Sicherheitsrat nicht zugestimmt hat, hält Ex-Außenminister Joseph Fischer für »ein einziges Debakel, das vielleicht größte außenpolitische Debakel seit Gründung der Bundesrepublik«. So spricht er über Spiegel-online zum Volk, und fast alle Medien sind hell begeistert. Nicht über das »Debakel«, aber über den großen Außenpolitiker Fischer, vielleicht den größten seit Gründung der Bundesrepublik. Auf die Spiegel-online-Frage, ob die militärischen Operationen der NATO nicht doch eine »sehr kreative Auslegung« des Beschlusses der Sicherheitsratsmehrheit seien, antwortet er: »Die meisten Resolutionen des Sicherheitsrates sind interpretationsfähig« – womit er sagen will, daß sie Ausdeutungen zulassen. Und wer darf »interpretieren«? Wie der Fall Libyen zeigt: diejenigen Staaten, die kriegsfähig genug sind, um ihre Deutung zu einem Bombenerfolg zu machen.

Joseph Fischer könnte einen Lehrstuhl für Völkerrecht übernehmen (oder mehrere), falls ihm seine verdienstvollen Beratertätigkeiten in der Wirtschaft dafür genug Zeit lassen.

A.K.
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Doch in Deutschland erhält man mit manipulierten Bildern angeblicher Jubelfeiern in Tripolis das Bild eines Volkaufstandes aufrecht.

An ein baldiges Ende der Kämpfe in Libyen ist nicht zu denken, noch weniger an eine demokratische Entwicklung. Auch wenn die NATO und ihre Verbündeten endgültig die Oberhand im Land gewinnen, ist nicht zu erwarten, dass sich das Gros der Bevölkerung nun ohne weiteres den Eroberern unterordnet. Ohne militärische Unterstützung wird der »Nationale Übergangsrat« sich nicht lange als neue Regierung halten können. Planungen für die Entsendung von Besatzungstruppen sind daher offenbar seit langem in Gange. Die Ideen orientieren sich an der Kosovo-Mission, die nach Ende des Jugoslawienkrieges 1999 die Verwaltung der abtrünnigen serbischen Provinz übernahm. Ein Hilfeersuchen des Übergangsrats könnte das legale Mäntelchen liefern.

Die Unverfrorenheit, mit der Frankreich, Großbritannien, die USA und ihre Verbündeten vor den Augen der Welt ein Land angriffen, verwüsteten und die Regierung stürzten, ist für die Länder im Süden alarmierend. Viele Beobachter und Analysten, wie der indische Politologe Madhav Das Nalapat, sehen zu Recht einen Rückfall der UNO in die Zeit des Völkerbundes; der hatte sich in den 1920er Jahren zu einem Instrument geopolitischer Interessen vor allem Großbritanniens und Frankreichs entwickelt. Die Sorge der Afrikaner vor einem neuen Kolonialismus ist nicht übertrieben.