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Titel1812

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Auf zu den Festungen der dramatisch-theatralischen Genres. Zunächst zum Schloßparktheater, einem Theater, das schon bessere Zeiten erlebt hat, als es Dependance des Schillertheaters war und große Autoren und Regisseure dort arbeiteten: Ich denke an Beckett, Jessner, Kortner, Noelte oder Swinarski. Davon und von einem richtigen Spielplan weit entfernt, beschränkt man sich derzeit meist auf Einzelauftritte, kleine Gastgruppen, macht Boulevard, was nicht schlecht sein muß. Lange Zeit dominierte das Stück »Alexandra« um den unklaren Tod der Doris Nefedow, von Jasmin Wagner dargestellt. Sie gefiel mir zwar, der Abend war gehobenes Mittelmaß.

Nunmehr ein alter Stückekalauer: die schwarze Komödie »Arsen und Spitzenhäubchen« von Joseph Kesselring, als Horrorfabel von Ottokar Runze inszeniert. Zwölf Darsteller sollte man Ensemble heißen, aber unter einem richtigen dieser Gattung stelle ich mir anderes vor. Die Story des Grauens hinter freundlicher Familienlüge stellt kein richtiges Grauen her. Nur zwei altgediente Komödianten wußten ihre Pointen und Stiche so an die richtigen Stellen zu setzen, daß man sich Grauen vorstellen konnte: Brigitte Grothum und vor allem Dieter Hallervorden, der Chef. Das war Routine, aber große.

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Weiter zum Osten, zu einer Bühne von Rang, dem Maxim Gorki Theater (MGT) unter den Linden. Es ist eine DDR-Gründung im Unterschied etwa zum Deutschen Theater oder zur Volksbühne. Im MGT – einem ehemaligen Konzertsaal – begründete der Sowjetremigrant Maxim Vallentin mit dem aus dem Widerstand kommenden Ottofritz Gaillard eben dieses Theater, sich auf das Erbe Maxim Gorkis stützend. Etwas später gesellte sich ihnen Albert Hetterle hinzu, ebenfalls aus dem Sowjetexil kommend, der dann 18 Jahre lang das Theater in der Tradition des russischen und sowjetischen Erbes sowie des Gegenwartstheaters der befreundeten Völker Ost- und Südosteuropas führte. Mit riesigem Erfolg lief einst zum Beispiel Pavel Kohouts »So eine Liebe«.

Den Gegenentwurf leisteten Bertolt Brecht und Helene Weigel mit anderen Freunden aus dem USA-Exil und dem Widerstand, so mit Ernst Busch, als sie das Berliner Ensemble (BE) gründeten, das zunächst als Gast Wolfgang Langhoffs im Deutschen Theater (DT), ab 1954 im alten neuen Haus am Schiffbauerdamm (Uraufführungsstätte früher Brecht-Werke vor 1933) das neue, sozialistisch geprägte deutsche Theater hervorgebracht hatte. Neben den Inhalten (zahlreiche im Exil entstandene Stücke Brechts) kamen auch neue künstlerische Darstellungsmethoden ins szenische Bild beziehungsweise auf den Bühnenboden: die auf Einfühlung zielende Methode Stanislawskis aus der UdSSR (noch nicht das Erbe etwa von Meyerhold und Tairow) im MGT sowie Brechts Verfremdung im BE. Es gab einen längeren, oft ziemlich verbissen geführten Methodenstreit, in welchem beide Seiten auch ihre Nähe entdeckten und voneinander lernen konnten, sich letztlich mit dem deutschen Erbe von Max Reinhardt bis Leopold Jessner auseinandersetzten. Es entstand eine demokratisch-sozialistische Theaterkultur, die sich bis in die 1970/80er Jahre der pluralistisch-westlichen stellte. So laufen Theaterströme eben auch und bringen Höhepunkte hervor.

Zurück zum heutigen MGT. Der triste »Trinker« nach Hans Fallada liegt mir noch im Magen. Warum der Roman, ein 1944 vom Autor unter zuchthaus-ähnlichen Umständen sich abgezwungener, 1950 aus dem Nachlaß herausgegebener Text – unter Falladas Romanen gewiß nicht der beste – für die Bühne zurechtgeschneidert wurde, bleibt mir schleierhaft, so wichtig es gewiß ist, sich öffentlich dem gesellschaftlichen Problem der Trinkerei zu stellen – man denke nur an das Koma-Saufen der jungen Generation. Weder mit dem Roman, geschweige denn mit dieser Fassung ist da etwas zu machen. Das konnte nicht einmal Regisseur Sebastian Hartmann retten, und die drei Darsteller Steve Binetti, Samuel Finzi und Andreas Leupold taten mir leid. Schade um die Kraft und die Zeit! Mir war halbwegs die Lust vergangen, mir solches anzuschauen! Noch mehr, als weitere solche Trostlosigkeiten hinzukamen: wieder ein Roman und noch einer, Texte, die zumindest als solche ausgegeben werden.

Da schrieb ein Sven Regener ein Buch mit dem Titel »Der kleine Bruder«, die Handlung spielt in Berlin-Kreuzberg, im MGT immerhin von Milan Peschel (ehemals Volksbühne) inszeniert. Da hat man sich gleich mehrfach im Stoff vergriffen: Das Leben der Elendsszene wäre einer großen Reportage oder klinischer Berichte wert gewesen, auch eines Polizeireports (wenn deren Verfasser nur schreiben könnten!), aber Roman oder Bühnenstück? Nur kaputte Typen sind uninteressant. Dazu kommt ein armseliger bis erbärmlicher Wortschatz, und das Hauptwort heißt »Scheiße«. Ich hab nicht gezählt, aber es war »beschissen«. Und langweilig! Was nur hätte Tucholsky dazu gesagt, der bereits zu seiner Zeit geißelte, daß das, was gewiß »kein Feingut« sei, nun »Allgemeingut« geworden sei? Gewiß hat auch der das nicht für die Bühne gemeint! Und der feine Ernst Jandl nutzte es auch, doch um in wirkungsvoller Weise einen vor der Geschichte versagt habenden Humanismus zu kritisieren. Zehn Schauspieler agieren – Spiel kann man das kaum nennen – für sie gilt das Gleiche wie das bei Fallada Gesagte. Doch will ich wenigstens Paul Schröder und Roland Kukulies nennen – wegen ihres körperlichen Einsatzes. Aber wir sind hier nicht auf dem Fußballfeld. Und es sei noch Maike Rosa Vogel genannt, freilich mehr für ihre dann und wann anhörenswerte Musik.

Als ob das nicht gereicht hätte! Danach mutete man uns eine Adaption des Romans »Schimmernder Dunst über Coby County« von Leif Randt zu. Der kleine Roman ist halbwegs ehrlich, denn er schildert die »heile« Fassade einer durch und durch morbiden Welt. So geschieht ziemlich alles, was unsere »gebenedeite« Welt so ausmacht: vom schalen Liebesglück über Untreue und Verrat bis zu Unglücken und Naturkatastrophen. Nun mag das im Roman noch angehen, der eben nicht an die »Buddenbrooks« heranreicht, wie ich irgendwo unlängst gelesen habe. Aber das auf die Bühne? Es bearbeiteten David Czesienski, Robert Hartmann (die auch Regie führten, als Kollektiv sich »Prinzip Gonzo« nennen) und Rebecca Lang (Dramaturgie). Herausgekommen ist ein belangloser Naturalismus – so belanglos, elend und schäbig wie diese sogenannte Glitzerwelt ist, so gefährlich ist sie eben auch. Nur das Abgründig-Gefährliche wird nicht erkennbar. Nicht entschuldigend, aber erklärend sei hinzugefügt, daß dies eine Diplomarbeit der Hochschule für Schauspielkunst im Fach Regie war. Da kann man sich noch auf einiges gefaßt machen!

Auch kein Meisterwerk, aber wenigstens etwas zum Ruhiger-Verhalten war ein neuer Versuch mit Ulrich Plenzdorfs »Die Legende vom Glück ohne Ende oder Paul und Paula« (als Film 1973, als Stück 1983) und »Kein runter, kein fern« – am MGT in einer Fassung von Robert Borgmann, welche der sich aus des Autors Texten mit einigen eigenen Zusätzen geschneidert hat. Die in den Texten damals durchaus vorhandene DDR-Kritik hat Borgmann etwas verschärft, wozu heutzutage kein Mut gehört. Was damals noch an- und auch aufregend war, konnte man hinnehmen unter der Losung: »Seid netter zueinander!« Ob das oder die im Text auch vorhandene Liebesbotschaft in dieser bösen Gesellschaft jemand versteht? Die fünf Schauspieler zeigten einiges, was sie konnten, am besten gefielen mir Julischka Eichel und das Kind.

Zum Glück gab es auch Belangvolleres. Zwar wieder nicht mit einer Dramenvorlage, sondern mit einer Spielvorlage nach einem Film, immerhin einem wesentlichen: »Sein oder Nichtsein« von Ernst Lubitsch. Der Stückschreiber heißt Nick Whitby, er bezeichnet sein Stück anspruchsvoll als Komödie. Auch hier hat Milan Peschel inszeniert. Im weltbekannten Warschauer Teatr Polski soll eine NS-Satire gespielt werden, doch die Zensur lehnt diese ab, man spielt »Hamlet«, ein berühmtes Schauspielerpaar kann Triumphe feiern. Allerdings im falschen Moment, denn just zu diesem Zeitpunkt, als sich noch eine Liebesbeziehung der Hauptdarstellerin mit einem jüngeren Mann entwickelt, beginnt der zweite Weltkrieg. Der Liebhaber flieht nach England und will als Flieger der Royal Air Force kämpfen. Stattdessen muß er zurück nach Warschau, um einen polnischen Gestapo-Spion aufzuspüren, womöglich unschädlich zu machen. Dabei gerät wieder in den Bannkreis des Künstler-Paares. Heute würde man sagen, ein Thriller. Whitby nennt es Komödie.

Kann man Komödien über solche Schreckenszustände schreiben? Man kann es, wenn man es kann. Man kann zwischen Aristophanes und Shakespeare, bei Goethe und Brecht, bei Puschkin und Shaw, Kraus, Arrabal, Dürrenmatt und Hacks, vielfach in den Adaptionen des Amphitryon-Stoffes solche Komödien finden. Die Gefahr der Verharmlosung besteht sicher auch, man hatte es Lubitsch vorgeworfen. Whitby kann in diesen Strudel kommen, wenn die Aufführung es nicht schafft. Zwar ist diese Produktion der zehn Darsteller die derzeit beste, der von mir im MGT wahrgenommenen, was sicher auch der intelligent gemachten Ausstattung von Magdalena Musial zu danken ist. Aber voll auf der Höhe des Gegenstandes ist auch diese Inszenierung nicht. Kann diese in mehr oder weniger friedvoller Zeit in Europa aufgewachsene Künstler-, vorrangig Darsteller-Generation das Grauen nicht mehr nachvollziehen, ist sie zu weit vom Weltkrieg, von Korea, Vietnam und Bosnien entfernt? Wie überhaupt das Kriegsthema kaum in der zeitgenössischen Dramatik erscheint – nach Schiller, Kraus, Brecht, Müller und Hacks derzeit nur von Jelinek und Loher dargestellt.

Es handelt sich um ein ernstzunehmendes Problem, vielerorts feststellbar und auch bereits benannt. Es wird noch belangvoller, wenn man weiß, daß es sich um eine internationale Produktion mit dem Stary Teatr Krakow handelt, das nach meiner und wohl auch allgemeiner Meinung als das berühmteste Theater Polens gilt. Überall dieselbe Lage!

So viel zum MGT. Es befindet sich in einer Krise, hat von seinem früheren Format enorm viel verloren. So scheint der 2013 geplante Intendanten-Wechsel von Armin Petras zu Shermin Langhoff und Jens Hillje nur folgerichtig. Immerhin war der Erfolg von Nurkan Erpulat mit »Verrücktes Blut« im bereits erwähnten Theater Ballhaus in der Naunynstraße ein Ausweis für dessen Leiterin Shermin Langhoff und den Dramaturgen der eben genannten Inszenierung, Jens Hillje.