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Titel1820

Niedergang einer Hochkultur  (Manfred Sohn)

In der August-Ausgabe des Magazins Mitbestimmung der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung wird die Veranstaltungstechnikerin Sandra Beckmann mit dem Hinweis zitiert, unter dem Strich seien in der Branche, die kulturelle und andere Veranstaltungen organisiert, mehr als drei Millionen Beschäftigte in 320.000 – meist kleineren – Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 210 Milliarden Euro tätig. Auf sie rolle bei anhaltender Krise eine »riesige Insolvenzwelle« zu.

 

In einem Interview für die Wochenzeitung unsere zeit schätzt der Wirtschaftswissenschaftler Heinz Bontrup am 28. August den gegenwärtigen Einbruch von gut zwei Prozent Wirtschaftsleistung im ersten und zehn Prozent im zweiten Quartal als »dramatisch« ein. Das von ihm dringend empfohlene Rezept von Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich als Mittel gegen den wirtschaftlichen Absturz, der sich vor unseren Augen ereignet, wird bei realistischer Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse nicht ausgestellt werden.

 

Diejenigen regierungsnahen Experten, die noch im Frühjahr eine V-Kurve der ökonomischen Entwicklung, also eine schnelle Erholung nach dem tiefen Sturz im ersten Halbjahr, ankündigten, sind über den Sommer weitgehend verstummt oder ins Stottern geraten. Egal ob Stahlproduktion, Außenhandel oder eben Veranstaltungswirtschaft: Alle Daten weisen auf einen nicht nur tiefgreifenden, sondern dauerhaften Einbruch der Wirtschaftsleistung fast aller kapitalistischen Volkswirtschaften auf dem europäischen und dem amerikanischen Kontinent hin.

 

Wer – als Reisen noch selbstverständlich war – die Kulturstätten der Hochkulturen des Altertums rund um das Mittelmeer besuchte, hat staunend in den Stadien und Theatern oder den bis heute beeindruckenden Ruinen etwa von Ephesus an der heutigen türkischen Westküste gestanden und die Reste einer verblichenen Hochkultur bewundert. Daran ändert nichts, dass in diesen Theatern auch mittelmäßiger Schund aufgeführt, in den Häfen auch Tand gehandelt, in den Stadien auch primitiven Gelüsten gefrönt und in den Badelandschaften auch blödsinnige Gespräche geführt wurden. Es bleibt: Hochkultur.

 

Die Hochkultur, die sich seit gut 100 Jahren in den jetzt ökonomisch abstürzenden Ländern Europas und Nordamerikas in Stahl, Stein, Glas und Beton materialisiert hat, ist mit diesen Zeugnissen von vor über 2000 Jahren vergleichbar. Ihre Tempel sind Stadien, Flughäfen, Theaterbühnen und Museen. Die treibende Kraft dahinter ist der über Geld vermittelte Tauschhandel mit dem zentralen Ziel, aus dem eingesetzten Geld – »G«, wie Karl Marx, der diese Art von Wirtschaft grundlegend analysiert hat, es abkürzte – G‘ zu machen, also mehr Geld. Der Motor des Systems ist die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft – nicht aus Bosheit, sondern weil nur so aus G eben G‘ gemacht werden kann. Dieser Prozess ist schon länger ins Stottern geraten. Die Produktivität, so Bontrup in einem weiteren Interview, das er am 17. August der Frankfurter Rundschau gab, sei im Zeitraum 2006 bis 2019 nur noch um 0,8 Prozent gewachsen. Der Motor dieser auf stete Expansion angewiesenen Hochkultur steht inzwischen praktisch still.

 

Was ist die Folge? Die großen Stadien stehen leer. Die noch vor einem Jahr wie ein Bienenschwarm summenden gigantischen Flughäfen ähneln großen Fabrikhallen kurz bevor Wind und Wetter die Fensterscheiben brechen. In den sonst florierenden Einkaufsstraßen langweilen sich in leeren Geschäften ihre maskierten Besitzer. In den gläsernen Verwaltungspalästen der Banken und Versicherungen telefonieren in Großraumbüros, in denen vorher Dutzende Menschen saßen und ihre Köpfe zusammensteckten, einsame Stallwachen. In den meisten Fabriken wird weiter gearbeitet und potentiell Mehrwert produziert – aber wenn keine Konsumenten am Schluss die Waren nachfragen, stockt auch hier über kurz oder lang die Produktion.

 

Wäre da nicht die Abhängigkeit der Kultur von der Geld- und Tauschwirtschaft, gäbe es die Kausalität des Verwaisens kultureller Paläste nicht. Einem Virus jedenfalls kann nicht die Schuld am Zusammenbrechen einer ganzen Kulturlandschaft zugeschoben werden. Die kann er nur herbeiführen bei einem Organismus, der schon vorher vom Niedergang gezeichnet war.

 

Von »Trippelschritten zur Rezession« hatte ich im Mai 2019 hier im Ossietzky geschrieben und dafür plädiert, »der sich abzeichnenden Dauerkrise der auf Tauschwirtschaft beruhenden Produktionsweise ins Auge zu sehen«. Die zeichnet sich inzwischen nicht nur ab, sondern ist da. Hochkultur bewahren – Theater also, Lieder, Gedichte und bildende Kunst – wird nur möglich sein, wenn es den Kulturschaffenden gelingt, sich von der Abhängigkeit dieser abstürzenden Tauschwirtschaft zu lösen, selbst zum treibenden Motor einer neuen Gesellschaft zu werden, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Geldvermehrung steht.