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Libanon: Wie weiter nach der Hafenexplosion?  (Karin Kulow)

Als am 4. August im Beiruter Hafen 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten und tausendfaches menschliches Leid sowie gewaltige materielle Verheerungen anrichteten – geradeso, als ob dort eine gewaltige Bombe eingeschlagen hätte –, kam das einer nationalen Katastrophe gleich. Interessanterweise hatten sowohl die israelische Armee als auch die libanesische Hisbollah-Führung jede für sich sofort erklärt, nichts damit zu tun zu haben. Nichtsdestoweniger aber widerspiegelt sich in dem Desaster wie in einem Brennglas das ganze Dilemma des kleinen, an der Ostküste des Mittelmeeres gelegenen Staates, dessen Fläche nur knapp der Hälfte der des Bundeslandes Hessen entspricht. Es beherbergt neben seinen 4,5 Millionen Einwohnern noch reichlich 1,5 Millionen syrische beziehungsweise palästinensische Flüchtlinge.

 

So folgerichtig der Rücktritt der erst seit Anfang 2020 unter Hassan Diab im Amt befindlichen Regierung war, lässt sich ihr allein aber die Verantwortung für die Schlamperei beim Umgang mit der gefährlichen Chemikalie nicht anlasten. Vielmehr erweist sich der durch Korruption und Missmanagement nahezu völlig zersetzte libanesische Staat schon seit längerem als unfähig, überhaupt noch die elementarsten öffentlichen Dienste – Bildung, Gesundheitsfürsorge, Strom- und Wasserversorgung sowie Abwasser- und Müllentsorgung – bereitzustellen. Während sich die an den politischen Machthebeln befindlichen Eliten schamlos bereichern und den Staatsbankrott in Kauf nehmen, grassiert unter der Mehrheit der Bevölkerung bis in die Reihen der Mittelschicht mehr und mehr die Armut. All das wird durch die Covid-19-Pandemie noch zusätzlich weiter verschärft.

 

Genau genommen, sieht sich Libanon erneut an einem äußerst kritischen Punkt seiner Entwicklung, bei dem es im Wesentlichen wiederum um sein konfessionalistisch geprägtes politisches System geht. Wie nämlich schon während des Bürgerkrieges zwischen 1975 und 1990, als die damals sich als Sammlungsbewegung der patriotischen Kräfte verstehende »Libanesische Nationalbewegung« einen neuen, auf dem Fundament der Demokratie beruhenden Nationalpakt eingefordert hatte.

 

 

Schicksalhafte koloniale Erblast

Der aktuell wieder im Fokus stehende und noch aus der Zeit der französischen Kolonialherrschaft herrührende politische Konfessionalismus hat Libanon nicht nur sein besonderes Gepräge gegeben. Vielmehr wurde damit die strukturelle Basis für dessen extreme innere Zerrissenheit und Quasi-Unregierbarkeit sowie für verschiedenste äußere Einflussnahmen zugunsten jeweiliger Partikularinteressen gelegt. So gilt die von der Mandatsmacht Frankreich im eigenen Vorherrschaftsinteresse für den von ihr 1920 ausgerufenen Staat »Grand Liban (Groß-Libanon)« festgelegte und dann in der Verfassung von 1926 festgeschriebene konfessionalistische Machtverteilung im Prinzip bis heute: für die mit Frankreich schon seit Ende des 11. Jahrhunderts eng verbundenen maronitischen Christen die Staatspräsidentschaft, das Oberkommando der Armee und der Vorsitz der Zentralbank; für die sunnitischen Muslims der Ministerpräsidentenposten und für die schiitischen Muslims die Parlamentspräsidentschaft.

 

Zwar war gemäß Art. 95 der 1990 revidierten 1926er Verfassung vorgesehen, »nach einem Etappenplan den politischen Konfessionalismus zu überwinden«. Aber davon blieben letztlich nur jene Neujustierungen übrig, die im zuvor unter saudischer Vermittlung zustande gekommenen Taif-Abkommen zur Beendigung des Bürgerkrieges verankert worden waren. Sie betreffen – als gewissen Machtzuwachs für die Sunniten – die Übertragung der alleinigen Exekutivgewalt auf die Regierung sowie die Aufstockung der Parlamentsabgeordnetenzahl von 99 auf 128 Abgeordnete – jeweils zur Hälfte Christen und Muslims statt des früheren christlichen Übergewichts.

 

Inzwischen hat sich allerdings dieser der politischen Machtaufteilung zugrunde liegende Proporz von 1926 deutlich zugunsten der Schiiten verschoben, so dass ihnen eigentlich die wichtigsten Staatsämter zustünden. Noch relevanter aber sind indes die von diesem spalterischen System ausgehenden nachhaltig negativen Wirkungen auf das bisherige Nation Building. Anstelle des notwendigen Strebens nach einem gesamtgesellschaftlichen Konsens bei der nationalen Selbstbestimmung dominieren jeweilige spezielle Gruppeninteressen, einschließlich Klientelismus, Nepotismus und anderer Abhängigkeitsverhältnisse, die zumeist noch mit äußeren Mächten verbunden sind und nicht selten deshalb schon untereinander kollidieren. Aus Furcht vor Macht- oder Patronageverlust bleiben die Kommunitäten lieber unter sich und suchen sich Unterstützung bei äußeren Mächten mit durchaus widerstreitenden Interessen, wodurch Libanon dann immer wieder auch zu deren Austragungsort mutiert.

 

 

Äußeres Streben nach Einflusssicherung

Niemand wird die Notwendigkeit bestreiten wollen, dass westlicherseits die Bereitstellung international zugesagter Hilfsgelder zur Eindämmung der Hafenschäden in einer Höhe von immerhin gut 250 Millionen Euro an gewisse Bedingungen geknüpft wird, damit diese nicht auch – wie bereits viele andere Gelder zuvor – im Korruptionssumpf versickern. Dessen ungeachtet aber bestehen ernsthafte Zweifel, inwieweit das tatsächlich nur aus Sorge um die so leidgeprüften Menschen geschieht. Schon der französische Präsident maßt sich die Rolle eines spiritus rector an. Wenngleich sich seine Aktivitäten nun auch gegen das einst von seinem Land selbst implementierte politische System zu richten scheinen und er sich überdies expressis verbis dafür ausspricht, zwischen dem militärischen und dem politischen Arm der Hisbollah zu differenzieren und sie als politische Kraft selbstverständlich in den notwendigen politischen Reformprozess einzubeziehen, löst dennoch sein forsches Vorgehen ambivalente Reaktionen aus. Während die einen ihn als einzige Hoffnung feiern, replizieren andere die Vergangenheit Libanons gerade im 100. Jahr von dessen Proklamierung als einstiges französisches Protektorat.

 

Aber auch andere Mächte, darunter vor allem die USA und Israel sowie nicht zuletzt Saudi-Arabien, verfolgen deutlich erkennbar ihre eigene Agenda. Ihnen geht es erklärtermaßen in erster Linie darum, mit Blick auf Iran die Hisbollah als innerlibanesischen politischen Faktor auszuschalten. Undifferenziert als reine Terrorgruppierung klassifiziert, wird für weitere Sanktionen gegen sie und mit ihr Verbündete plädiert oder auch ihre Mitwirkung in der Regierung angeprangert. Außer Acht bleiben dabei ihr realer Einfluss unter den schiitischen Bevölkerungsteilen sowie alle damit für Libanon verbundenen Risiken, zum Austragungsort antiiranischer Attacken zu werden – analog jenen israelischen Kriegshandlungen von 1978, 1982 und 2006, die Libanon zum blutigen Schauplatz des ungelösten Palästina-Israel-Konflikts werden ließen. Allerdings ist die bisher immer wieder gegen Hisbollah vorgebrachte Anschuldigung, gemeinsam mit Syrien für das tödliche Attentat 2005 auf den damaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq Al-Hariri verantwortlich zu sein, mit dem Urteil des eigens dafür eingerichteten UN-Tribunals vom 18. August 2020 nicht mehr aufrechtzuerhalten.

 

 

Zivilgesellschaftlicher Protest als notwendiges Druckmittel

Dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht länger bereit ist, sich mit der Misswirtschaft und Korruption abzufinden, bezeugen allein schon ihre Protestbekundungen unmittelbar nach der Hafenexplosion. Die Demonstranten machten dabei nicht nur ihrem Zorn gegen die Regierenden Luft, sondern schritten zugleich zu aktiver Selbsthilfe beim Wegräumen von Schutt und Splittern.

 

Bereits mit ihrem Aufstand vom 17. Oktober 2019 hat die sich formierende Demokratiebewegung ihre Entschlossenheit bekundet, eine Veränderung der immer untragbarer werdenden Verhältnisse herbeizuführen. Eine ihrer Hauptforderungen damals wie heute ist, eine vom konfessionalistischen Prinzip unabhängige ExpertInnen-Regierung zu bilden, um die akuten sozialen und Wirtschaftsprobleme endlich anzugehen. Im Herbst vergangenen Jahres erreichte sie zunächst einmal den Rücktritt von Ministerpräsident Saad Al-Hariri.

 

Jedoch sieht sich die in politischer wie sozialer Hinsicht heterogene Bewegung nun selbst vor große Herausforderungen gestellt: die Klärung ihres Charakters und die Erarbeitung eines Programms. Inwieweit sie willens und fähig ist, jene am Oktoberaufstand beteiligten Gruppen und Einzelpersonen in organisiertem Rahmen zu bündeln sowie einen möglichen Fahrplan für den Übergang zu einem neuen, demokratisch verfassten Libanon zu unterbreiten, ist noch ungewiss. Ohne »Druck der Straße« wird kaum zu erreichen sein, dass sich die politischen Eliten des Landes nicht mehr in erster Linie von der Absicherung ihrer Pfründe leiten lassen. Bezeichnend ist, dass eben die sunnitische Zuordnung des Ex-Botschafters in Deutschland, Mustapha Adib, maßgeblich für dessen Berufung zum neuen Regierungschef war, der auch über 70 Prozent der Abgeordneten zugestimmt haben. Die Demokratiebewegung hingegen verurteilte das Vorgehen umgehend.

 

Es wird sich zeigen müssen, inwieweit es der Demokratiebewegung gelingt, die notwendige demokratische Erneuerung zu befördern, oder ob letztlich die Beharrungskräfte erneut obsiegen und damit das Land weiter in den Abwärtsstrudel treiben.