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Titel1820

Wider die Selbstgewissheit der Satten  (Conrad Taler)

Wenn einem wie Jürgen Habermas die Zornesader schwillt, und zwar nicht im stillen Philosophenkämmerlein, sondern in aller Öffentlichkeit, dann will das was heißen. So geschehen in der Septemberausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik, wo er der deutschen Bundesregierung wegen ihres, wie er meint, mangelnden Mutes in der Europapolitik wieder einmal die Leviten liest.

 

Das Schwergewicht seiner Strafpredigt liegt jedoch auf der Verschiebung der innenpolitischen Machtbalance, gekennzeichnet durch den Umstand, dass sich »zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik rechts von der Union eine erfolgreiche Partei etablieren konnte«. Annegret Kramp-Karrenbauer habe sich als Bundesvorsitzende der CDU mit ihrem unrealistischen Beharren auf der Unvereinbarkeit einer Koalition der Christlich-Demokratischen Union sowohl mit der Linken als auch mit der Rechten ihr eigenes Grab geschaufelt. Der West-CDU, die auf ihren Wahlplakaten schon bei den ersten Bundestagswahlen Herbert Wehner und die SPD mit dem Slogan »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau« denunziert hatte, falle der »längst überfällige Abschied von einer moralisierenden Diskriminierung der Linken« immer noch schwer.

 

Habermas erinnert daran, dass Konrad Adenauer die antikommunistische Frontstellung während des Kalten Krieges benutzt habe, um die alten NS-Eliten, die in fast allen Bereichen ihre alten Positionen wieder eingenommen hatten, einzubinden. Der Antikommunismus habe damals in großen Teilen einer Bevölkerung, die Hitler mit überwältigender Mehrheit bis zum bitteren Ende unterstützt habe, das Ausweichen vor einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Verstrickungen erleichtert. »Renazifizierung des öffentlichen Lebens« nannte das der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde und Auschwitz-Überlebende Heinz Galinski laut FAZ vom 21. Februar 1959.

 

Hat der Verweis des bedeutendsten deutschen Philosophen und Soziologen der Gegenwart auf den Dreck vor der eigenen Tür unsere politischen Tugendwächter aus ihrer Selbstgewissheit aufgescheucht? Da müsste es schon um etwas anderes gehen als die Diskriminierung der Linken in Deutschland. Als am Muttertag des Jahres 1952 in Essen ein kommunistischer Demonstrant während einer verbotenen Kundgebung gegen die Wiederbewaffnung durch eine Polizeikugel in den Rücken tödlich getroffen wurde, ließ sich ein Beamter beim Ausladen des leblosen Körpers nach Zeugenaussagen durch den Satz vernehmen: »Das Schwein ist schon tot.« Bis auf eine Ausnahme hat keine einzige überregionale Zeitung das Ereignis kommentiert. Die politische und gesellschaftliche Ausgrenzung der kommunistischen Minderheit erlaubte es dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel sogar, nicht einmal nachrichtlich von den Geschehnissen Notiz zu nehmen; sie wurden einfach totgeschwiegen.

 

Im Gefolge des von der Bundesregierung angestrengten Verbots der KPD verloren 1956 Abertausende ihre Lebensgrundlage. Wer als Journalist bei einer kommunistischen Zeitung gearbeitet hatte, galt in seinem Beruf als ebenso unvermittelbar wie ein Bäcker mit Bäckerkrätze. Bewerber für den öffentlichen Dienst und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wurden bereits vor dem Radikalenerlass und der Berufsverbotspraxis auf ihre politische Zuverlässigkeit hin überprüft und gegebenenfalls angeschwärzt.

 

Von den Nazis verfolgte Widerstandskämpfer wurden mit dem Entzug ihrer Wiedergutmachungsansprüche bestraft und mussten mitunter sogar bereits erhaltene Leistungen zurückzahlen, wenn sie sich weiterhin für die Ziele der Kommunistischen Partei betätigten, deretwegen sie schon in der NS-Zeit bestraft worden waren. Zu einer Art inquisitorischen Orgie wuchs sich der Verfolgungswahn nach der Einverleibung der DDR aus, als die Sieger im Wettstreit der Systeme dem bereits auf dem Boden liegenden Gegner auch noch moralisch das Genick zu brechen versuchten, indem sie die DDR mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat, dessen Diener in der Robe die westdeutsche Justiz ungeschoren gelassen hatte, auf eine Stufe stellten.

 

Wie ein Stück aus dem Tollhaus nimmt sich die Rentenkürzung für die durch Kinderlähmung schwer behinderte Sonja Axen aus. Unter Hinweis auf die Tätigkeit ihres Mannes, des Auschwitz-Überlebenden Hermann Axen, im Politbüro der SED wurde ihr der Witwenanteil an der Entschädigungsrente ihres Mannes aberkannt. Der Witwe des ehemaligen Präsidenten am Volksgerichtshof der Nazis, Roland Freisler, hingegen wurde eine zusätzliche Schadensausgleichsrente mit der Begründung zugesprochen, dass ihr 1945 bei einem Luftangriff ums Leben gekommener Mann im Fall seines Überlebens nach dem Krieg als Rechtsanwalt oder Beamter des höheren Dienstes tätig gewesen wäre.

 

Vielleicht erwachen die beflissenen Verteidiger der Menschenrechte angesichts solcher Fußtritte gegen Gerechtigkeit und Menschenwürde aus ihrer Selbstgewissheit und nehmen doch noch den von Habermas geforderten überfälligen Abschied von der moralisierenden Diskriminierung der Linken.