erstellt mit easyCMS
Titel1820

Bemerkungen

Hirnbesitzer

Rund um die Welt feiert man in diesem Jahr den 250. Geburtstag des Komponisten Ludwig van Beethoven. Allerorten finden Veranstaltungen zu seinen Ehren statt. Und es gibt wohl kaum jemanden, dem nicht zumindest seine neunte und auch die fünfte (Schicksals-)Sinfonie bekannt sind. Der Komponist war trotz seiner eher bescheidenen schulischen Ausbildung auch ein Kritiker der Verhältnisse seiner Zeit. Ich erinnere mich noch gut, wie ich während meiner Oberschulzeit – was nun auch schon fast ein halbes Jahrhundert zurückliegt – in meinem Lehrbuch für das Fach Musik auch auf Äußerungen von Beethoven stieß, die mich beeindruckten. Dort war zu lesen, dass Beethoven einst einem Fürsten schrieb: »Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall, durch Geburt, aber was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten hat es und wird es noch Tausende geben, aber Beethoven nur einen.« Als ihn einst ein Brief eines Zeitgenossen erreichte, der als Absender seinem Namen den Zusatz »Gutsbesitzer« hinzugefügt hatte, antwortete ihm Beethoven und schrieb am Ende hinter seinem eigenen Namen »Hirnbesitzer«.                        

 

Ralph Dobrawa

 

 

Konzentrationsprozess

Vor Jahren wollten die CaixaBank (Barcelona) und die Bankia (Madrid) von einer Fusion nichts wissen. In der ersten Septemberwoche bestätigten nun die zwei Geldinstitute Meldungen spanischer Zeitungen, dass es vielleicht doch zum Zusammenschluss kommt. Einer Verschmelzung müsste allerdings die Zentralregierung in Madrid zustimmen, die über den Bankenrettungsfonds mit 62 Prozent an dem Geldhaus Bankia beteiligt ist. Durch die Vereinigung würde mit einer Bilanzsumme von 664 Milliarden Euro die größte Bank von Spanien entstehen. Nur die Banco Santander und die Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA) sind durch ihre Auslandsaktivitäten größer.

 

Am Kapitalmarkt hätte die neue Bank einen Marktwert von 16 Milliarden Euro, sie verfügte über 51.000 Beschäftigte und 6727 Filialen. Die Fusion bedeutet auch, dass bei Standorten und Mitarbeitern eingespart wird. Die Investoren reagierten an der Börse begeistert, die Bankia-Aktie legte um 30 Prozent zu, bei der Caixa betrug der Kurssprung 15 Prozent. Nach der Fusion wird es zu Kündigungen kommen, und das bei einem Arbeitsmarkt, der keine neuen Arbeitsplätze bietet. Wie jetzt bekannt wurde, hat die Regierung die Fusion seit längerer Zeit betrieben.

 

Mit dem Platzen der Immobilienblase zur Jahreswende 2007/08 geriet der spanische Bankensektor in eine Schieflage. Berater des damaligen Ministerpräsidenten José Luis Zapatero (PSOE) hatten nicht begriffen, dass davon der gesamte Bankensektor in Spanien betroffen war. Ein milliardenschweres Konjunkturprogramm, das Rettung bringen sollte, verpuffte wirkungslos.

 

Hintergrund ist auch die EU-Aktion, die Sparkassen zu Banken beförderte. Die kommunale Trägerschaft endete, die Bankinstitute wurden Aktiengesellschaften. Das war ein Anschlag auf »kleine Sparer«. Vor allem änderten sich die Bedingungen für Kredite. Auch gaben die Sparkassen Vorzugsaktien heraus, die keine Vorzüge hatten. Kunden wurden beschwatzt zu kaufen, kein Risiko. Das Geschäft brummte. Ein euphorischer Mitarbeiter schrieb dem damaligen Chef von Caja Madrid, Miguel Blesa: »Heute 1,2 Milliarden Euro, historische Rekordfinanzierung an einem einzigen Tag.«

 

Die Bankia wurde 2010 gegründet durch die Verstaatlichung und Fusion der ältesten spanischen Sparkasse Caja Madrid mit sechs weiteren Sparkassen, denen die Immobilienkrise zum Verhängnis geworden war. Nur zwei Jahre später musste der Staat mit 22,4 Milliarden Euro die neue Bankia vor dem Zusammenbruch retten.

 

Die Leitung der Bankia übernahm am 3. Dezember 2010 der ehemalige Wirtschaftsminister in der konservativen Regierung von José María Aznar (Partido Popular), Rodrigo de Rato, gemeinsam mit Miguel Blesa. Davor war Rato von Mai 2004 bis Februar 2007 Mitglied des Exekutivdirektoriums des Internationalen Währungsfonds in Washington D.C. 2009 wurde er Mitglied im Vorstand der Caja Madrid wie Miguel Blesa.

 

Rodrigo de Rato und Miguel Blesa mussten bereits am 7. Mai 2012 zurücktreten. Der Grund: ein System »schwarzer Kreditkarten«, die an 20 Führungskräfte und 63 Verwaltungsratsmitglieder ausgegeben worden waren. Die so Begünstigten konnten auf Kosten der Bank ihren privaten Konsum bestreiten. Zudem waren 2011 Bankia-Bilanzen gefälscht worden, Hunderttausende Kleinanleger verloren ihr Erspartes. Im April 2015 wurde Rato verhaftet. Am 23. Februar 2017 wurde er wegen widerrechtlicher Aneignung von Geldern im Zusammenhang mit der »tarjeta opaca« (undurchsichtige Karte) zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Trotz seines Widerspruchs musste er die vom Obersten Gericht bestätigte Strafe am 25. Oktober 2018 antreten.

 

Miguel Blesa wurde wegen Kartenbetrug zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Die Ausgaben waren einfach als »Computerfehler« verbucht worden. Blesa erschoss sich 2017, als sich alle Hoffnungen auf Haftverschonung zerschlugen.

 

Regierungschef Pedro Sánchez (PSOE) sieht in der Fusion positive Aspekte. Anders Irene Montero (Unidos Podemos), Ministerin für Gleichstellung. Sie ist besorgt über den Zusammenschluss der Banken, denn vor allem werden Frauenarbeitsplätze verlorengehen.

 

Die letzte Bankenfusion in Spanien gab es im Juni 2017. Die Banco Santander übernahm ihre Konkurrentin, die Banco Populár, für den symbolischen Kaufpreis von einem Euro und verhinderte damit deren Bankrott.

 

Die Bankia ist, ebenso wie die CaixBank, durch die Corona-Pandemie in schweres Fahrwasser gekommen. Es kann sein, dass weitere spanische Banken folgen. Offen ist, ob die Zentralregierung ihren Anteil an der Bankia verkauft oder ihre Beteiligung behält, um weiter Einfluss nehmen zu können.      

  

 Karl-H. Walloch

 

 

 

Wiederbegegnung

Die Einladung zur Jubiläumsausstellung des 80-jährigen Malers Hans Ticha im Kurt Tucholsky Literaturmuseum im Schloss Rheinsberg führte zu einer wunderbaren Wiederbegegnung, noch dazu in einer durch die Pandemie belasteten Zeit.

 

Dass sich Peter Böthig, Chef des in der Bundesrepublik einmaligen Tucholsky-Literaturkleinods, ständig darum bemüht, die Sammlung von Zeitzeugnissen aus der viel zu knappen Lebenszeit und dem persönlichen Umfeld des vielseitigen Schriftstellers und bissigen Spötters nicht nur zu ergänzen, sondern die Attraktivität des Museums durch Vorträge und Ausstellungen in den historischen Schlossräumen zu bereichern, waren wir gewohnt. Außer den Biographen des Mannes, den jeweiligen Stadtschreibern und weiteren interessanten Literaten und Künstlern aus der Region oder entfernteren Gebieten haben wir um den originalen Schreibtisch Tucholskys herum schon manch anregende Veranstaltung erleben können.

 

Nun also eine Einladung zu Hans Tichas »Geburtstagsbildern«, und das am 15. August, wenige Tage vor seinem 80. Wiegenfest. Bis zum 3. Januar 2021 besteht die Möglichkeit, sich in Rheinsberg in sein Werk zu vertiefen.

 

Unser erster Kontakt mit dem Künstler kam Ende der 70er Jahre zustande, als der studierte und praktizierende Pädagoge und nachfolgende Absolvent der Weißenseer Hochschule für bildende und angewandte Kunst im kulturbewegten Prenzlberger Kollwitzkiez lebte und sich längst dem Risiko des freischaffenden Malers und Buchillustrators hingegeben hatte. Wir hatten mit ihm zu tun, als er sich auf Drängen von Regisseur Fritz Decho bereitfand, die Ausstattung unserer »simplen Ulk- und Scherzstunde« »Bananen mit Reißverschluss« zu übernehmen. Sein Bühnenvorhang, die Lätzchen der Darsteller, die Programmflyer und sonstigen Requisiten verschmolzen als originelle Entsprechungen nahtlos mit den Texten von Kurt Tucholsky, Karl Valentin, Roda Roda, Lene Voigt, Gerhard Branstner, Jo Schulz und anderen. Tichas künstlerische Darstellungsart beeindruckte uns stark – seine eigenwilligen geometrisch-rhombischen Formen, die kräftige Farbgebung und die Betonung von Besonderheiten sind unübertroffen. Einige der von uns nach dem Ende des Ensembles erworbenen und aufbewahrten Requisiten flossen nachträglich noch in die Rheinsberger Ausstellung ein.

 

Zu weiteren gemeinsamen Vorhaben mit dem damaligen Berliner Lehrerensemble kam es leider nicht, da Fritz Decho den Künstler durch eine übersteigerte Reaktion vergrault hatte. Dann folgte wenige Jahre später die »Wende«, die den 1940 im tschechischen Děčín an der Elbe geborenen Künstler von der Spree an den Rhein spülen sollte. In der DDR war Hans Ticha mit seinen bei den Kunstausstellungen in Dresden gezeigten Werken unliebsam in die Kritik geraten. Er hatte eine Fußballmannschaft provokativ mit überdimensionalen Gliedmaßen und bedauernswert kleinen Köpfen dargestellt, was in der dem Leistungssport zugeneigten DDR auf wenig positive Resonanz stieß.

 

Wie es der Zufall wollte: Als wir nach dem Mauerfall unseren betagten Moskwitsch zur ersten West-Tour in die reizvolle Lübecker Bucht lenkten, lernten wir ein Juristen-Ehepaar kennen, das die Malerei begeistert als neben- oder nachberufliches Hobby betrieb und dafür seine Garage zu einer Galerie umfunktioniert und veredelt hatte. Das gemeinsame Interesse an der Kunst wurde durch die Frage gekrönt, ob wir »Ostkünstler« kennen würden, die man für eine Ausstellung in ihre »GIG«; die »Galerie in der Garage«, einladen könnte. Da kam uns Hans Ticha in den Sinn. Dass unserem Vorschlag prompt die Einladung nach Timmendorfer Strand folgte, erfuhren wir allerdings erst Jahre später.

 

Die nächste Berührung mit dem Werk des Malers, Graphikers und eindrucksstarken Buchillustrators kam durch unsere Mitgliedschaft in der Büchergilde Gutenberg zustande. In deren Tucholsky-, Jandl-, Čapek- und Ringelnatz-Lizenzausgaben fand und hinterließ der Schüler Werner Klemkes und Arno Mohrs seine unverwechselbare künstlerische Handschrift.

 

Seine Werke sind unter anderem in der Neuen Nationalgalerie Berlin, den Staatlichen Kunstsammlungen Schwerin, dem Kunstmuseum Halle-Moritzburg und dem Haus der Geschichte der BRD Bonn zu bewundern.

 

Hans Ticha ist in seiner Originalität und Gestaltungsfülle unerreichbar. Er strahlt sanfte Ironie und herben Spott aus und geht zugleich einfühlsam mit Lyrik um, beobachtet anerkennend ungewöhnliche Tätigkeiten, entwirft Kinder- und Tierporträts, zeichnet Blumen und Beeren, entwirft Plakate, Briefmarken und Ex-Libris und beweist in seinem gesamten künstlerischen Vorgehen kritisches Herangehen, Neugier, Vernunft und Menschenliebe.

 

Kurt Tucholskys »Gut geschrieben ist gut gedacht« kann man auf Hans Ticha vielleicht so übertragen: »Gut gezeichnet ist kritisch betrachtet.«

 

Wolfgang und Marlis Helfritsch

 

 

 

Abschied vom Leben

Robert Seethalers Romane sind nicht dick, aber gehaltvoll. Diesmal geht es um Gustav Mahler, das Genie, den größten Komponisten seiner Zeit, wie seine Frau Alma zu Beginn ihrer Ehe meinte. Er, der nie kräftig war, sitzt nun müde und todkrank allein auf dem Sonnendeck eines Schiffes, das aus Amerika kommt. Wie Schatten gehen ihm Episoden aus seinem Leben durch den Kopf. Der Tod seiner kleinen Tochter Maria, die Arbeit an der Wiener Hofoper und in Amerika, die Liebe zu Alma, die als die schönste Frau Wiens galt. Er erinnert sich an das Modellsitzen bei Rodin und die Begegnung mit Sigmund Freud. Es war ein reiches Leben, und Mahler will es nicht verlieren, obwohl er seinen baldigen Tod spürt. Sehnsucht und Resignation, das Licht über dem Meere und das Gleiten des Schiffes. Der ihn umsorgende Schiffsjunge. Warten auf fliegende Fische und der fiebernde Kranke ...

 

Kritiker meinten, es sei zu wenig von Musik die Rede. Über die könne man nicht reden, sagt Mahler. Mir scheint, Seethaler versucht, sich mit Komposition und Stil der Musik Mahlers anzunähern. Ein Abschied voller Wehmut.     

 

Christel Berger

 

Robert Seethaler: »Der letzte Satz«, Hanser Berlin, 128 Seiten,19 €

 

 

 

Die Jiddisch-Retter

Dieses Kunstwerk über eine Sprache würde ich gern in mehr Sprachen loben, als mir zur Verfügung stehen. Der Autor Jakob Hessing wählt zum Einstieg in das anspruchsvolle Projekt über den jiddischen Witz eine Mischung von Autobiographie und Sachinformation. Hier ein Exempel für das erste Thema:

 

Es ist eine anrührende kurze Geschichte, sie wurde Hessing von der aufmerksamen Verwandtschaft kolportiert: »Als kleines Kind überquerte ich mit meinen Eltern einmal einen Fahrdamm, da soll ich mich auf den Asphalt gesetzt und gesagt haben: ›Kenni, hoken Kojach.‹« Das klingt so lautmalerisch, es muss jiddisch sein! Hessing folgert: »In meinen frühen Jahren in Polen und vor der Übersiedlung nach Berlin sprach ich offensichtlich Jiddisch.« Jakob ist in Harmonie mit Vater und Mutter, anders als Franz Kafka, der mit seinem Erzeuger auf keinem guten Fuße stand, gleichwohl engagiert sich der Sohn fürs Jiddische, hält um 1912 herum mehrere Reden, psychologisch so gelungen wie die Zuhörerschar auf hohem Niveau erheiternd. Kafka Senior, gleich ihm viele Bürger Prags nannten diese Artikulationsweise verächtlich »Jargon«, man hätte sich geschämt, sie zu benutzen. Verteidiger gibt es durchaus – der Schriftsteller Manès Sperber nutzte den beschimpften Jargon bis ins Erwachsenenalter, dann lernte er Deutsch, später Französisch vom Feinsten, kein Mirakel, wenn man sich in Paris ansiedelt.

 

Genannt werden im Buch drei Klassiker jiddischer Literatur: Scholem Alejchem, Mendele Moícher Sfórim, Jizchok Leib Perez. Einer breiteren Öffentlichkeit wird wohl der zuerst erwähnte Scholem Alejchem bekannt sein, auf dessen Roman beruht das international erfolgreiche Stück über Tewje, den Milchmann. Von den drei genannten Klassikern teilt Hessing viel Ernsthaftes und Ergötzliches mit, alles zusammen bietet einen Fundus, aus dem von Krimi, Komödie, Katastrophenszenario bis zum Kasperletheater sich Bühnen und Film bedienen könnten. Allein die so wahnwitzigen wie makabren Ehegeschichten bilden einen unerschöpflichen Vorrat.

 

Ein Kapitel für sich sind in der Realität und hier im Buch die Sammlungen jüdischer – nicht jiddischer – Witze von Salcia Landmann. Hessing lobt sehr nobel deren Sprachkenntnisse sowie ihren Fleiß, Landmann-Bücher verkauften sich wie geschnitten Brot, ein Wiedergutmachungsreflex bei uns Deutschen für all die Verbrechen, denen die Juden im »Dritten Reich« ausgeliefert waren? Da wäre ein besseres Gewissen jedoch zu billig erkauft.

 

Nun hatten Gerhard Zwerenz und ich lange Jahre hindurch einen bewährten jüdischen Freund, der konnte beim Lesen der Landmann-Bestseller eine gewisse Übelkeit nur mühsam unterdrücken. Aus dem unübertrefflichen »Vielleicht das Heitere. Tagebuch aus einem anderen Jahr« von Robert Neumann (Verlag Kurt Desch, München 1968) erlaube ich mir ein paar Zeilen zu zitieren. Mir scheint, Hessing ist großzügig genug, das nicht als Affront gegen sein großartiges Werk aufzufassen. Neumann: »Vater, wozu braucht ein Goy ein Kopf? Denken tut er nicht – Tefillim legt er nicht – also nur zum Grüßen? (Der Witz zeigt, über den defensiven Antigojismus hinaus, den Hochmut, den unsereiner braucht, um zu überleben. Alternative: Die Verzweiflung.« – Impulse, die Hessing vielleicht nicht ganz fremd sein mögen.

 

Ingrid Zwerenz

 

Jakob Hessing: »Der jiddische Witz. Eine vergnügliche Geschichte«, C.H.Beck, 172 Seiten, 12,95 €

 

 

 

Industriegeschichte

Manchmal ist es wohltuend, einen Roman zu lesen, der ganz nach »alter Art und Weise« geschrieben ist. Wer Bernd Sikoras »Siebenhöfen« zur Hand nimmt, wird sich erinnert fühlen an umfängliche Romane, welche die Entwicklung und Bildung eines Menschen vorführen. Das ist hier die fiktive Gestalt Carl Steiner, Steinmetzlehrling. Es ist reizvoll, diese erfundene Figur mit Menschen konfrontiert zu sehen, die es wirklich gegeben hat. Steiner wird hineingestellt in den Beginn des Industriezeitalters im Erzgebirge, im Jahre 1813, erlebt den Bau eines palastartig en Spinnereibetriebes in Siebenhöfen, errichtet von Baumeister Lohse für den aus England stammenden Maschinenbauer Evan Evans. Der künstlerisch begabte Carl Steiner verlässt das ihm eng werdende Erzgebirge, geht nach Leipzig an die Kunstakademie, gerät später in die Kunstszene in Rom. Der Autor weitet so die Geschichte seines Helden und der Anfänge des Industriezeitalters zum Panorama von Kunst und Politik jener Jahre. Das ist gewiss faszinierend, markiert aber auch eine Schwäche des Romans. Denn die fesselnde und ungemein viel Neues bietende Erzählung von der Industrialisierung Sachsens verliert sich im zweiten Teil in Schilderungen, wie man sie bereits zu kennen meint, bis hin zur Räuberpistole. Da wird mitunter überzogen, der spannende Ansatz »Siebenhöfen« gerät etwas aus dem Blick.

 

Es ist zu bewundern, wie viel historischen Hintergrund der Autor aufzubieten vermag. Auch Wissen über Architektur, Malerei, Musik und Regionalgeschichte. Zuweilen jedoch hätte etwas mehr Mut zur Kürze dem Roman gutgetan, manche Schilderungen ufern aus, die Darstellungen sexueller Erfahrungen des Protagonisten wirken mitunter wenig souverän, beim Gebrauch und bei der Schreibung von Anredepronomina geht es drunter und drüber.

 

Leseempfehlung? Ja, unbedingt für den, der wissen will, wie Anfang des 19. Jahrhunderts die Industriewelt entstand, in der wir heute leben. Und leider verschwinden deren Anfangszeugnisse immer mehr, weil der mit ihr in die Welt gekommene Gedanke ausschließlicher Nützlichkeit deren Erhaltung verhindert. Ein Schreibanlass für Sikora war der Abriss des letzten im Erzgebirge komplett erhaltenen Fabrikgebäudes, das einst in »Palastarchitektur« gebaut worden war. So wird wenigstens mit Worten etwas erhalten, das aus unseren Augen verschwindet.                      

 

Albrecht Franke

 

Bernd Sikora: »Siebenhöfen«, Mitteldeutscher Verlag, 303 Seiten, 20 €

 

 

 

Zuschriften an die Lokalpresse

Es bleibt dabei: Man freut sich schon diebisch, wenn sich zwischen die Nachrichten zum ständigen Corona-Auf und -Ab mal eine Meldung einschleicht, die darauf aufmerksam macht, dass auch noch andere gesundheitliche Gefährdungen existieren. Das ist besonders brisant, wenn es sich bei den Betroffenen um Promis handelt. So warnten HNO-Spezialisten am 11. September im Berliner Kurier vor dem Nasenpopeln und den möglicherweise daraus resultierenden Folgen und verwenden zur Verdeutlichung ein halbseitiges Konterfei von Jogi Löw. Der Bundestrainer sucht mit angestrengt-verkniffenem Antlitz offenbar etwas in seinem rechten Nasenloch. Da man davon ausgehen kann, dass es sich dabei kaum um einen Ball handeln wird, zitieren wir aus der beigefügten Warnung der Experten, derzufolge »der Knorpel in der Nasenscheidewand ... durch intensives und lang anhaltendes Bohren ... ausgedünnt werden kann«. Bleibt zu hoffen, dass sich Löw trotz der Kompliziertheit der Situation an den Mund- und Nasenschutz hält und seine Hände bald wieder für die Umarmung von Nationalspielern nach Torerfolgen einsetzen kann. – Konstantin-Renè Gräber (32), Fußball-Fan, 54573 Nasingen

 

*

 

Das Aussterben von Tierarten setzt sich nicht nur in Afrika, sondern auch in unseren Breitengraden fort und ruft bei den Fachleuten große Besorgnis hervor. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Seit Jahren heulen erneut Wölfe, ab und zu hinterlässt ein Bär seine tapsigen Spuren in der Landschaft, und neuerdings planschen Alligatoren sogar in der Unstrut. Laut Berliner Zeitung vom 31. August suchen Polizei und Feuerwehr »die Panzerechse per Boot und Hubschrauber«, und das wird wohl nicht das letzte Ungeheuer sein, das die friedliche Weingegend verunsichert und den Müller-Thurgau in der ausgepichelten Kehle gerinnen lässt. Es gibt eben doch noch Dinge zwischen Himmel und Corona, die auch der Mundschutz nicht verhindern kann. Ich schlage deshalb vor, auch die Abstandsregelungen unter diesen Gesichtspunkten regional zu konkretisieren und parteipolitisch nochmals zu überdenken. – Heribert Nachschläger (68), Pensionär, 56244 Vielbach                     

 

Wolfgang Helfritsch