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Titel1909

Ein verlorener Krieg  (Norman Paech)

Seit dem Luftangriff auf die beiden Tanklastwagen, die in der Furt des Kundus-Flusses stecken geblieben waren, ist bis in den letzten Winkel Deutschlands klar geworden, was Verteidigungsminister Jung bislang nicht zugeben wollte. »Die Bundeswehr befindet sich in Afghanistan in einem Krieg … Weiterhin von einem ›robusten Stabilisierungseinsatz‹ zu schwurbeln, verhöhnt Opfer und Soldaten«, erkannte die Badische Zeitung in Freiburg. Auch über die Summe dieses Krieges gibt es keine Illusionen mehr. »Nach acht Jahren Krieg ist die Bilanz vernichtend: Afghanistan ist ein Armenhaus, in dem jeder Zweite unter der Armutsgrenze lebt. Es ist ein Geisterhaus, in dem Korruption, Opiumhandel und Verrohung gedeihen. Und es ist ein Totenhaus, in dem nach UN-Angaben allein im ersten Halbjahr 2009 mehr als 1000 Unbeteiligte bei Anschlägen und Kämpfen ums Leben kamen. Afghanistan ist ein gescheiterter Staat«, faßte die Ostsee-Zeitung in Rostock zusammen. Und das kann man mit den Zahlen der Weltgesundheitsorganisation präzisieren: 54 Prozent der Familien haben weniger als 100 Dollar pro Monat, nur 37 Prozent können sich Lebensmittel leisten, 25 Prozent haben Zugang zu sauberem Trinkwasser, und 54 Prozent der Kinder sind unterernährt. Nur 31 Prozent der Familien können sich Heizöl leisten, weswegen in den langen und harten Wintern viele Menschen erfrieren.

In diesem Krieg haben die US-Verbündeten bereits viele Niederlagen erlitten. Die jeweils gemeldete Anzahl der getöteten Taliban ließ die Niederlagen als kleine Erfolge erscheinen und täuschte über die hohe Anzahl der getöteten Zivilisten hinweg. Über sie gab es immer Streit und Unklarheit. Sicher ist nur, daß ihre Gesamtzahl die der Toten von ISAF und OEF um ein Vielfaches übertrifft.

Das Massaker von Kundus liegt in der Konsequenz der furchtbaren Logik dieses Krieges. Es bezeichnet keinen Wendepunkt im Krieg, denn vergleichbare Massaker sind schon mehrmals im Osten, Süden und Westen des Landes geschehen; nun ist der Norden hinzugekommen. Aber die Wahrnehmung an der deutschen »Heimatfront« hat sich dadurch zutiefst verändert. Die unglaubwürdigen Rechtfertigungsversuche des Verteidigungsministers haben dazu ihren Teil beigetragen.

Von den beiden im Fluß stecken gebliebenen Tankwagen, die weg von Kundus und dem deutschen Camp nach Chardarah entführt werden sollten, ging offenbar keine akute Gefahr für deutsche Soldaten oder Aufbauhelfer aus. Ob es nun 69 Taliban und 30 Zivilisten waren, die nach Angaben der afghanischen Untersuchungskommission den Tod fanden, oder ob die Angaben örtlicher Stellen in Kundus über 125 Tote, vor allem Zivilisten, der Wahrheit näher kommen, ändert nichts an der Wirkung. Für die NATO ist dieser Bombenabwurf eine Katastrophe. Die jetzt im Bündnis aufgebrochenen Widersprüche dokumentieren auch den Zerfall des Konsenses über eine militärische Mission, für die einst das inzwischen verschwundene messianische Trio Bush, Cheeney und Rumsfeld die Massen begeisterte.

Die zweite große Niederlage ist die Wahl, die eigentlich den Erfolgsnachweis für den Einsatz der NATO liefern sollte. Daß sie überhaupt stattgefunden hat, wird schon als Erfolg verbucht. Die Tatsache schwerer, systematischer Fälschungen im ganzen Land scheint – anders als neulich im Iran – die Paten dieses Wahlgangs am Erfolg, den sie brauchen, nicht zweifeln zu lassen. Karsai ist eben nicht Ahmadinedshad. Wer erinnert sich noch daran, daß den 28 Millionen Menschen in Afghanistan 17 Millionen Wahlscheine ausgegeben wurden, obwohl 60 Prozent der Bevölkerung unter 18 Jahre alt und deswegen noch nicht stimmberechtigt sind? Und wer merkt sich die Zeitungsnotiz, daß in der Provinz Nuristan an den Südhängen des Hindukusch, in der rund 130.000 Menschen leben, 443.000 Wahlscheine verteilt wurden? Als sich nach der Wahl abzeichnete, daß die Wahlbeteiligung die magische Grenze von 30 Prozent nicht erreicht hatte, reduzierte die Wahlkommission die Zahl der Stimmberechtigten auf 15 Millionen. Wie sie das bewerkstelligte, ist nicht klar. Ganz klar ist dagegen, zu wessen Gunsten diese und zahlreiche weitere Wahlfälschungen vorgenommen wurden. Von den 2.300 Wahlanfechtungen sollen über 700 so schwer wiegen, daß sie den Wahlausgang beeinflussen könnten. Die Beschwerdekommission wird aber wohl nur einige kosmetische Korrekturen vornehmen, also Karzai den Wahlsieg nicht mehr nehmen. Und auch wenn die NATO auf Karzais Gegenkandidaten gesetzt hatte, wird sie sich nicht auch noch den Makel »Garant gefälschter Wahlen« anheften lassen wollen.

Wahlen haben in den westlichen parlamentarischen Demokratien eine über Jahrhunderte gewachsene konstitutive Funktion. Werden sie allerdings Staaten auferlegt, die trotz jahrzehntelanger kolonialer Herrschaft und neuer Besatzung immer noch eine ganz andere politische Kultur und entsprechende gesellschaftliche Institutionen haben, pervertieren sie oft zu postkolonialen Herrschaftsinstrumenten. Die Wahl im Januar 2006 in Palästina beispielsweise war zwar frei und fair, doch die Besatzungsmacht und die Staaten der NATO annullierten sie faktisch, da ihnen das Ergebnis nicht paßte. Die siegreiche Hamas wurde boykottiert, der demokratische Prozeß gestoppt und zwei Jahre später in einem furchtbaren Krieg begraben.

Auch die afghanische Wahl wird das Niveau der Demokratie in diesem Land nicht heben. Das liegt nicht nur an dem kriminellen Personal, das die Listen beherrscht, sondern vor allem an dem eskalierenden Krieg im Lande, den die Bevölkerung immer mehr als Besatzung und Belagerungszustand empfindet.

In der US-Administration hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Demokratisierung Afghanistans das falsche Ziel des Unternehmens sei. Obama hat sich öffentlich davon verabschiedet. Ebenso sind die Menschenrechte in den Hintergrund der Propaganda getreten. Auch in Washington hat man erkannt, daß acht Jahre Krieg der Entwicklung und Festigung der Menschenrechte nicht gutgetan haben. Im Gegenteil, ein Gefängnis wie das auf dem US-Stützpunkt Bagram, in dem über 650 des Terrors Verdächtige ohne juristischen Schutz den schon von Guantánamo und Abu Ghraib bekannten Verhörpraktiken ausgesetzt sind, spricht jedem Plädoyer für Menschenrechte Hohn.

Allmählich dringt auch die Einsicht durch, daß die viel beklagte Korruption, die offensichtlich alle drei mühsam installierten Gewalten im afghanischen Staat – Regierung, Parlament und Justiz – durchzieht, kein genetischer Defekt der Afghanen ist, sondern eine der Strukturbedingungen dieses neuen Protektorats. 20 bis 30 Prozent einer jeden von den Interventionsmächten finanzierten Investition gehen an die Taliban beziehungsweise an die »Insurgenten«, wie das deutsche Militär den Widerstand jetzt treffender nennt. Weitere 20 Prozent gehen an den Gouverneur oder Warlord, die oft ein und dieselbe Person sind. Das Ziel dieser Kontributionen ist die Sicherheit vor Angriffen und Zerstörung, da die afghanische Polizei und Armee selbst nicht in der Lage sind, Schutz zu gewähren. Und dieses System hat alle von außen aufgebauten und geförderten Institutionen ergriffen.
So bleibt als letzte der »Heimatfront« vermittelbare Legitimation der Kampf gegen den Terrorismus, der in Afghanistan offensichtlich einen seiner Schlupfwinkel gefunden hatte. Bin Laden und Al Qaida sind jedoch nach Aussagen des US-General Petraeus nicht mehr das Problem, da sie sich aus dem Land zurückgezogen haben. Heute geht es um eine neue Form des Widerstandes, der sich nicht nur über die Reihen der Taliban in andere Gruppierungen des Aufstandes gegen die ausländische Militärpräsenz ausgedehnt, sondern schon lange auch die Grenze von Afghanistan nach Pakistan überschritten hat. Dort hat er Rekrutierungs- und Rückzugsbasen für den afghanischen Aufstand gefunden und bedroht nun zugleich eine weitere Vasallenregierung der USA, die pakistanische. Eine desaströse Bilanz des Krieges. Und es gibt kein Anzeichen dafür, daß mit kriegerischen Mitteln der Terror zu überwinden und das Land zu stabilisieren wäre.

So fragt sich, warum die Strategie Obamas in der Entsendung weiterer Truppen besteht, die auch weitere Anforderungen an die Bündnispartner nach sich ziehen wird. Der beharrlich aus der öffentlichen Diskussion ausgeblendete Grund ist einfach: Die USA werden die Truppen erst dann abziehen – und die Deutschen ihnen folgen –, wenn sie das Land, wie den Irak, fest als Protektorat in das strategische Projekt »Greater Middle East« integriert haben. Was sie wollen, ist die Neuvermessung der alten kolonialen Landkarte im Nahen und Mittleren Osten. Zbigniew Brzezinski hat sie bereits 1997 in seinem Buch »Die einzige Weltmacht« und jüngst in dem Buch »The Second Chance« von neuem skizziert. Politisches Kernanliegen des Projektes ist die Sicherung der US-amerikanischen Vormachtstellung auf dem Eurasischen Kontinent von Lissabon bis Wladiwostok. Eingeschlossen sind die zentralasiatischen Republiken um das Kaspische Meer und die Golfstaaten, die Region mit den weitaus größten Ressourcen an Erdöl und Erdgas auf der Welt. Kasachstan und Aserbeidschan allein verfügen derzeit über etwa sieben Prozent der weltweiten Vorräte (zehn Milliarden Tonnen Erdöl, acht Billionen Kubikmeter Erdgas). Vor dem 11.9.2001 wollte Cheeneys Firma Unocal ursprünglich mit den Taliban eine Erdölleitung vom Kaspischen Meer zum Indischen Ozean durch Afghanistan bauen. Das Projekt zerschlug sich. Die strategische Lage Afghanistans im Zentrum der großen Konkurrenten um die Rohstoffe, China, Indien und Iran, ist jedoch nach wie vor Grund genug, das Land fest in das eurasische Vasallenkonzept einzugliedern und zu einem weiteren Stützpunkt im Umkreis des Iran auszubauen.

Brzezinskis Weltmachtprojektion hat auch nach zwölf Jahren noch Geltung und Einfluß auf die Politik Washingtons, zumal er jetzt Präsident Obama außenpolitisch berät. Er schreibt (»The Second Chance«, Seite 41):
»…der Geltungsbereich der heutigen Weltmacht Amerika (ist) einzigartig. Nicht nur beherrschen die Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, die Küsten mit Amphibienfahrzeugen unter Kontrolle zu halten, mit denen sie bis ins Innere eines Landes vorstoßen und ihrer Macht Geltung verschaffen können. Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf … der gesamte Kontinent (ist) von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären.«

Doch der gegenwärtige Krieg um Afghanistan steht unter einem noch ungünstigeren Stern für die USA und ihre Verbündeten als der gegen Irak. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Karsai eine weitere Variante in der Reihe der Zauberlehrlinge bildet – von Diem über Noriega bis Saddam Hussein –, die den USA aus dem Ruder laufen. Denn er scheint nicht abgeneigt, seine Stellung durch ein Bündnis mit Exponenten der alten Mujaheddin und der Taliban zu sichern. Selbst die FAZ, imperialen Perspektiven immer geneigt, sieht zunehmend Parallelen zum Verlauf des Vietnamkrieges und warnt vor der Wiederholung der alten Fehler. Aber auch ihr Autor Lothar Rühl hat nicht aus den damaligen Fehlern gelernt, denn er plädiert für eine massive Verstärkung des Militärs. Er kennt offenbar nicht das Buch des ehemaligen US-Verteidigungsministers Robert McNamara, in dem dieser 1995 unter dem Titel »In retrospect. The tragedy and lessons of Vietnam« Gründe für das Desaster der US-Intervention in Vietnam genannt hat.

»Wir haben«, so bekennt McNamara unter anderem, »die politischen Kräfte dieses Landes ganz und gar falsch eingeschätzt… Unsere Fehleinschätzung von Freund und Feind hat unsere vollkommene Unkenntnis von Geschichte, Kultur und Politik der Völker Indochinas sowie Persönlichkeit und Haltung der führenden Politiker dieser Länder bewiesen … Zudem haben wir nicht erkannt – und das gilt bis heute –, daß den modernen, hochtechnologisch ausgerüsteten Streitkräften und den für sie entwickelten Strategien Grenzen gesetzt sind, wenn es zur Konfrontation mit einem unkonventionell kämpfenden und hochmotivierten Volk kommt. Auch ist es uns nicht gelungen, unsere militärische Taktik so auszurichten, dass wir die Herzen und den Verstand der Menschen eines vollkommen andersgearteten Kulturkreises hätten gewinnen können… Wir haben keinerlei von Gott verliehenes Recht, jede beliebige Nation nach unseren Vorstellungen zu formen.«

McNamara schließt mit dem Bekenntnis, daß man sich schon 1953/54 aus Vietnam hätte zurückziehen müssen und daß das ohne Gesichtsverlust möglich gewesen wäre. Ersetzen wir »Vietnam« durch »Afghanistan«, so könnte man das aktuelle Desaster kaum treffender begründen.

Damit ist allerdings nicht gesagt, daß die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan ebenso scheitern wie seinerzeit in Vietnam. Näher liegt eine Protektoratslösung nach dem Vorbild Irak. Das Massaker bei Kundus scheint immerhin bewirkt zu haben, daß ein Abzug der Truppen jetzt endlich in die weiteren Kriegsplanungen mit einbezogen wird.

Eine weitere alte Erkenntnis könnte die Abzugsüberlegungen beschleunigen: »Die wunderlichste Idee, die im Kopf eines Politikers entstehen kann, ist die, zu glauben, es genüge, daß ein Volk mit Waffengewalt ins Territorium eines anderen Volkes einbreche, um dieses zur Übernahme der eigenen Gesetze und der eigenen Verfassung zu zwingen. Niemand liebt die bewaffneten Missionare; der erste Rat, den Natur und Vorsicht geben, ist der, sie als Feinde zurückzuschlagen.« Der Satz stammt von Maximilien Robespierre aus dem Jahr 1793.