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Titel1911

Sozialabbau 2011, Folge 13  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

25. August: Das Bundessozialgericht in Kassel hat entschieden: Wer einen Meldetermin bei der Arbeitsagentur versehentlich um einen Tag verpaßt hat, bekommt eine Woche lang kein Arbeitslosengeld (ALG). Unachtsamkeit oder Vergeßlichkeit seien keine Gründe, die das Versäumnis rechtfertigen, heißt es in dem Urteil (AZ: B 11 AL 30/10 R). Die Klägerin, eine Arbeitslose aus Nordrhein-Westfalen, fand bei den Richtern kein Verständnis für ihre Entschuldigung, sie habe versehentlich ein falsches Datum notiert.

26. August: Die Behörden hingegen dürfen sich beim Bearbeiten von Anträgen Zeit lassen. Arbeitslosen bleibt nur das Warten oder ein Anruf bei einer Zeitung. So erging es laut Thüringer Allgemeine Monika M., einer 50-Jährigen, die schon seit vielen Jahren von Arbeitslosengeld II lebt, das ihr jetzt gekürzt werden müßte, weil ihr jüngerer Sohn noch bei ihr lebt. Der bekommt als ausgebildeter Kellner nach längerer Arbeitslosigkeit im März einen festen Job in einem Fast-Food-Restaurant. Sein Gehalt wird künftig auf den »Hartz IV«-Satz der Mutter angerechnet, da beide als »Bedarfsgemeinschaft« gelten. Mutter und Sohn reichten sofort alle Unterlagen beim zuständigen Jobcenter ein und baten um schnelle Bearbeitung. Doch laut Zeitung hat sich bisher nichts getan. Die Frau hat Angst, daß sie das, was sie zur Zeit dem Gesetz nach »zu viel« bekommt, später zurückzahlen muß. Das wäre schwer für sie, da sie schon in Privatinsolvenz steckt. Die Frau wandte sich an die Zeitung und diese wiederum an das Jobcenter. Dort hieß es, es fehlten noch Gehaltsunterlagen, deshalb sei die Berechnung noch gar nicht möglich. »Wir haben aber doch alle Gehaltszettel an das Jobcenter geschickt«, so die Arbeitslose. Inzwischen muß sie weiter warten, bis ihr »Hartz IV«-Satz gesetzesgerecht gekürzt wird und sie weiß, wie viel sie zurückzahlen muß.

– Das gesetzliche Rentenniveau wird mit der politischen Absicht gesenkt, die Menschen dazu zu bringen, privat für das Alter vorzusorgen. Allein die »Riester-Rente« hat den Finanzunternehmen seit 2002 bis Ende 2010 schon 36,7 Milliarden Euro in die Kassen gespült, schreibt die Leipziger Volkszeitung. Das Geld setze sich nach Zahlen der Bundesregierung aus Eigenbeiträgen der Versicherten und staatlichen Zulagen zusammen. 5,9 Milliarden davon blieben als Verwaltungskosten und Provisionen bei den Versicherungsunternehmen, für die es sich also gelohnt hat, die gesetzliche Rente kaputtzureden. Das tun sie weiterhin erfolgreich: Nach einer aktuellen Studie des bankennahen Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) schwindet das Vertrauen in die gesetzliche Rente vor allem bei den Jüngeren unter 45. Daß sie privat mehr bezahlen müssen als für höhere Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung, hat ihnen niemand vorgerechnet.

5. September: Die geltenden »Hartz IV«-Regelsätze sind grundgesetzwidrig, stellt ein Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung fest. Die neuen Regelungen widersprächen »in vielen wesentlichen Einzelpunkten« dem Grundgesetz, so der Gutachter Professor Johannes Münder von der Technischen Universität Berlin .

– Anke Bertram arbeitet als Hebamme auf Sylt, Dennis Ohm aus Bremerhaven ist Hafenarbeiter, und Andreas Lemcke gehört zum festen Ensemble des Staatstheaters Schwerin. Alle drei arbeiten Vollzeit in ihrem Beruf. Sie verbindet, daß keiner von ihnen genug verdient, um über die Runden zu kommen. Die Reportage »Wenn der Job nicht zum Leben reicht – Menschen am Limit« von radiobremen TV zeigt anhand dieser drei Schicksale, was in der Zwischenzeit hunderttausende Arbeitnehmer in Deutschland betrifft: Sie können von ihren 40-Stunden-Jobs nicht mehr leben. Sie müssen Zweitjobs annehmen, ihre Wochenarbeitszeit beträgt nicht selten 60 bis 70 Stunden. Daß die Menschen an ihrem psychischen und physischen Limit leben, zeigt der Film auf eindrückliche Weise.

8. September: Nebst Tafeln und Kleiderkammern gibt es auch Schulmaterialienkammern. Das Mindener Tageblatt schreibt, daß mit Beginn des neuen Schuljahres immer mehr Eltern die Schulmaterialien ihrer Sprößlinge nicht bezahlen können. In den Kreisen Paderborn und Höxter versorgen Schulmaterialienkammern der Diakonie an drei Standorten betroffene Familien seit sechs Jahren gegen eine kleine Spende mit kostenlosem Material. Allein am ersten Tag seien schon 280 Schüler ausgestattet worden, so die Zeitung. Auch Jennifer R. stand drei Stunden vor einer der Ausgabestellen, um für ihre 15jährige Tochter die benötigten Hefte, Stifte oder etwa Sportzeug zusammenzutragen. »Nur von ›Hartz IV‹ hätte ich all die Sachen niemals kaufen können«, sagt die 35-jährige Alleinerziehende.