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Titel1911

Kleine und große Kriminelle  (Christian Bunke)

Nach den August-Unruhen in Großbritannien schlägt der Staat mit aller Härte um sich. Vor allem konservative Politiker wittern die Chance, es der »kriminellen Unterschicht« mal so richtig zu zeigen. Alle anderen bürgerlichen Parteien, auch Labour, machen begeistert mit. Die Gesetze, die es heute ermöglichen, Jugendliche wegen kleiner Delikte für Jahre hinter Gitter zu sperren, wurden unter den sozialdemokratischen Premierministern Blair und Brown beschlossen.

David Camerons Schulminister Michael Gove will demnächst ein neues Gesetz einbringen, das Lehrern erlaubt, »körperliche Gewalt« gegen unruhige Schüler anzuwenden. Was darunter genau zu verstehen ist, war bislang nicht zu hören. In Manchester will man ehemalige Soldaten für den Unterricht rekrutieren. Die Jugendkampagne »Youth Fight for Jobs« kündigte bereits Schülerstreiks für den Fall an, daß Lehrkräfte gegen Schüler gewalttätig werden sollten.

Die Regierung will die Riots für ein konservatives Rollback nutzen, wie es in Deutschland Thilo Sarrazin fordert. Schon jetzt sind Familien mit Sippenhaft bedroht. Einzelne Stadtverwaltungen wollen ganze Familien aus den Sozialwohnungen werfen, wenn ein Familienmitglied etwa beim Klauen erwischt wurde. Auch die Sozialhilfe soll ihnen gestrichen werden.

Für dumme Sprüche auf Facebook und Twitter gibt es vier Jahre Knast. So erging es zwei Halbstarken, die in Chester auf Facebook zu einem Riot aufriefen, der niemals stattfand. Deutsche Behörden, die das Verbot von Facebook-Partys fordern, werden dies mit Interesse verfolgen.

Die ganze Härte des Gesetzes traf auch eine Jugendliche aus London, die für den Diebstahl einer Wasserflasche für sechs Monate hinter Gitter muß. Die britischen Gefängnisse sind seit den Riots an ihre Belastungsgrenze gestoßen. Nie waren sie so voll wie jetzt.

Doch kein Staatsanwalt, kein Richter geht bisher gegen die eigentlichen Kriminellen der britischen Gesellschaft vor. Regierungschef Cameron nutzte die Unruhen, um von seiner eigenen Verwicklung in den Murdoch-Skandal abzulenken, der zuvor das Land in Atem gehalten hatte.

Cameron präsentiert sich als der Chirurg, der die »kranke Gesellschaft« mit der Axt operieren will. Rücksicht auf die Menschenrechte würde bei dieser Politik nur stören. Teilnehmende an den Unruhen sollen keine zweite Chance bekommen. Die »kriminelle Klasse«, so die Argumentation, lernt, wenn überhaupt, dann nur durch Prügel.

Cameron deckt selber Kriminelle, die für den Verleger Rupert Murdoch in Zusammenarbeit mit Scotland Yard Tausende Telefone von Gewerkschaftern, Bürgerrechtlern, Gewalt- und Mordopfern anzapften. Der Premierminister ist mit dem ehemaligen News of the World-Chefredakteur Andy Coulson und der ehemaligen Murdoch-Chefin Rebekah Brooks eng befreundet. Coulson wurde wegen des Abhörskandals verurteilt, trotzdem stellte Cameron ihn als Pressesprecher ein. Er habe eine zweite Chance verdient, so Cameron.

Der Murdoch-Skandal ist noch lange nicht vorüber. Bald wird James Murdoch wieder vor einen parlamentarischen Ausschuß geladen werden. Es ist erst die Spitze des Eisberges sichtbar. Und es gibt noch andere Eisberge.
Einer davon ist der Skandal um den Mißbrauch parlamentarischer Spesengelder durch Abgeordnete des Unterhauses. Er wurde in den letzten Monaten der Labour-Regierung aufgedeckt. Mit dabei war die Labour-Abgeordnete Hazel Blears, die sich das erste Mal seit Monaten in ihrem Wahlkreis blicken ließ, um die ausgebrannte Ruine eines Lidl-Supermarktes nach den Unruhen zu begutachten. Blears forderte dabei hohe Haftstrafen gegen Plünderer. 2009 hatte sie parlamentarische Spesengelder unter anderem dazu verwandt, Zweitwohnungen zu kaufen oder renovieren zu lassen. Das war eine Plünderung von Steuergeldern, für die sie bis heute nicht belangt wurde.

David Cameron und sein Parteifreund, der Londoner Bürgermeister Boris Johnson, gehörten in ihrer Studienzeit dem Bullingdon Club an. Zur Mitgliedschaft gehörten regelmäßige Ausschreitungen in Nobelrestaurants. Schäden wurden mit der elterlichen Kreditkarte beglichen. Zu erwähnen sind auch die 30 Milliarden Pfund Steuern, die von den Reichen Großbritanniens jedes Jahr hinterzogen werden. Pikanterweise kürzte die Regierung gerade auch bei jenen Behörden, deren Aufgabe es ist, Steuerhinterziehung zu verfolgen.

Wie drückte es die Gewerkschaft für Staatsangestellte (PCS) nach den Riots so schön aus, als sie sich gegen die Dämonisierung von Jugendlichen aussprach: »Das kriminelle Verhalten der Eliten aus Finanz und Politik ist das weitaus größere Problem.«