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Titel1911

Eine Rede und die Sprache  (Ingrid Zwerenz)

Ringsum in der Welt erklärt nahezu jeder jedem den Krieg. Da hält David John Moore Cornwell in Weimar eine Rede, die sich als Liebeserklärung entpuppt, und sie gewinnt an Glanz, wenn man Mr. Cornwell als John le Carré identifiziert. Er rehabilitiert unsere durch wilhelminischen Untertanengeist und die Nazi-Propaganda verseuchte Sprache und betont, daß er dem guten Deutsch samt den Dichtern, die sich dessen bedienen, im hohen Maße zugeneigt ist. Das Lob hebt die Stimmung im Lande, zumindest bei denen, die noch lesefähig und lesewillig sind. Der berühmte englische Kriminalschriftsteller formuliert in seinem Dank für die Verleihung der Goethe-Medaille ermutigende Sätze voller Schönheit, scharfer politischer Kritik, sublimer Heiterkeit und vitalisierender Kraft. Ob die Überschrift in der FAZ vom 29.8.2011 auch von ihm stammt, ist nicht klar. Sie lautet: »Goethe ginge heute auf die Barrikaden«. Bei aller Wertschätzung unseres Klassikers, das bezweifle ich, wiegelte der Herr Geheimrat doch Umstürzlerisches gern ab und wollte sein Leben lang »… lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung zu ertragen«. Auf den Barrikaden könnte man sich eher noch Friedrich von Schiller vorstellen, doch auch ihn erschreckte das Ausmaß des Terrors im Verlauf der Französischen Revolution.

In Carrés Rede findet sich ein vortreffliches Tucholsky-Zitat. Den Justizkritiker, hervorragenden Stilisten und Polemiker trifft man sonst in der FAZ eher selten an, dort residieren fast in jeder Nummer entweder Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Ernst Jünger; am liebsten präsentiert das Blatt die Dreierbande gemeinsam. Der gewiefte Krimi-Autor schmuggelt die Tucho-Analyse sozusagen als Konterbande ein: »Der Zustand der gesamten menschlichen Moral läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen. We ought to. But we don’t.« Hier ist englisch ideal, knapper kann man die allgemeine Malaise nicht formulieren. Carré verweist dann nochmals auf den deutschen Satiriker: »… für meine Wut hatte ich Büchners ›Lenz‹. Und für meine dunkelsten Stunden: Kleist. Und, Gott sei Dank, bevor ich das Licht ausmachte: Tucholsky.«

Der fühlte sich in le Carrés Heimat nicht wohl. Deutlich wird das in einem sehr späten Tucho-Text mit der Überschrift: »Tagebuch einer Abneigung«, für die Weltbühne 1931 nach einer England-Reise verfaßt. Diese Reportage hat ihre besondere Geschichte, die in einem Roman von Gerhard Zwerenz nachzulesen ist: »Gute Witwen weinen nicht«, Kranichsteiner Literaturverlag 2000:
Im Jahr 1978 sucht Gerhard in Hindas Gertrude Meyer auf, Tucholskys schwedische Freundin. Die alte Dame reicht ihm vier getreulich über viele Jahrzehnte aufbewahrte lange Druckfahnen mit eigenhändigen Tucho-Korrekturen. »Die Bleistiftschrift ist sehr verblaßt … aber ich habe es herausbekommen,« sagt Gerhard während der Lektüre, »das Wort heißt ›weglassen‹ – danach steht eine schön geschwungene Klammer, sie umfaßt, Moment bitte, acht oder neun Zeilen.« Was Tucho getilgt sehen wollte, ist hier: »England ist, für einen Beobachter mit einem Bosheitssplitter im Auge, das Land der alten Weiber. Eine solche Fülle von alten Damen habe ich nirgends sonst gesehn. Sie strömen zuhauf: zu Kirchen-Kongressen, zu Versammlungen, zu Konzerten, ins Theater ... mit dieser verwitterten Haut, die wohl darauf zurückzuführen ist, daß der Teint der Engländerin sehr zart ist ... da leben sie dahin, und immer sehe ich hinter jeder den Mann, der für sie arbeitet, denn sie arbeiten nicht. Wer arbeitet hier –?«

Die »alten Weiber« empfand wohl selbst der bewährte Polemiker als intolerabel, der übrige Bericht bemüht sich um mehr Objektivität, scharfsichtig notiert der Reisende in London, was aktuell geblieben ist: »Das Land ist teuer … Unsinnig und ganz und gar undifferenziert sind die Mieten …«

Die nach dem Willen des Verfassers zu streichenden Sätze sind in seinem England-Reisebericht seit einigen Jahren per Internet abzurufen. Hat Tucholsky die von ihm korrigierten Fahnen von Schweden aus gar nicht mehr an die Weltbühne nach Berlin abgeschickt? Wird da ein Text nun online publiziert, der aus irgendeinem Archiv stammt, ohne nähere Prüfung?

Weil wir gerade bei den schrägen Fakten sind: Selbst ausgepichte Kenner verbreiten immer wieder die Mär von »Tucholskys Villa in Hindas«, doch ihm gehörte dort kein Haus, er wohnte zur Miete, und das gelang nur, weil Gertrude ohne sein Wissen finanziell nachhalf. Das ist seit langem im Roman von GZ bequem nachzulesen.

Dort erfährt man auch, daß Tucholskys Grabspruch nicht von ihm selbst, sondern von der schwedisch-jüdischen Gefährtin Gertrude Meyer nach seinem Tode ausgewählt wurde, das Goethe-Wort: »Alles Vergängliche Ist Nur Ein Gleichnis«. So sind wir zum Ende wieder bei unserem von John le Carré hochgeschätzten J. W. von Goethe angelangt.