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Titel1912

Handwerkszeug für Sozialismus 3.0  (Manfred Sohn)

»Naß werden wir alle werden«, läßt die den Kapitalismus stets wacker verteidigende Wirtschaftswoche in ihrer Ausgabe am 18. Juli 2011 den Schweizer Felix W. Zulauf orakeln. Seine Prognose ist so düster wie die Stimmung seiner ganzen Klasse: »Eine vernünftige Anlagepolitik, wie sie vor 15, 20, 25 Jahren noch möglich war, funktioniert heute nicht mehr. Wir leben in einem Umfeld, das hat es so in den letzten 70 Jahren nicht mehr gegeben. Wir stehen am Anfang von gewaltigen Gewitterstürmen mit Blitzen, Überschwemmungen und Bergstürzen. … Da kommt keiner trocken durch.«

Seitdem ist ein Jahr vergangen, und die Gewitterwolken werden immer bedrohlicher, das Wasser in den Bergbächen schwillt an. In der Erwartung, daß vor uns eine historische Wegstrecke liegt, auf der massenhafte Verzweiflung und die wachsende Suche nach Auswegen aus scheinbar ausweglosen Lagen historische Ausmaße annehmen werden, sind sich gegenwärtig die klarsten Köpfe der Kapitalisten und die Sozialisten in diesem Lande einig.

Auf den ersten Blick umso verblüffender ist es, daß seitens der Sozialisten so wenig Bereitschaft zu verspüren ist, eine über den Kapitalismus hinausweisende Alternative zu diesem System überhaupt intensiv zu debattieren. Auf den zweiten Blick ist das zumindest in Deutschland schon wieder nicht so verblüffend: Den herrschenden Kreisen und ihren Medien ist es bis weit in die Reihen der Partei Die Linke gelungen, um den großen Versuch einer grundlegenden Alternative, den europäischen Sozialismus von 1917 bis 1989, eine Mauer des Schweigens, der Tabuisierung und Diffamierung zu errichten. Wo Mauern sind, hört bekanntlich das Denken auf. Aber es wird nichts nützen: Wenn die Gewitterwolken sich entladen, wenn die Bergstürze über uns hereinbrechen, stehen die antikapitalistischen Kräfte Deutschlands in der Pflicht, ihr »anti« positiv zu wenden, also die schlichte Frage einiger Millionen Menschen zu beantworten: Was schlagt Ihr denn als Alternative vor – nachdem das doch in der DDR so schiefgelaufen ist? Und in diesem Zusammenhang werden wir gemeinsam klare Antworten liefern müssen, was in der DDR schieflief und warum und welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen sind.

Diese Debatte wird sinnvoll künftig mit einer der effektivsten Publikationen beginnen, die in der letzten Zeit erschienen sind.

Auf nur 109 Seiten hat Harry Nick die »Ökonomiedebatten in der DDR« zusammengefaßt. Für jeden marxistisch einigermaßen gebildeten Menschen dürfte klar sein, daß der rasche Zusammenfall der sozialistischen Staaten zwischen Elbe und Beringstraße in den Jahren 1989 bis 1991 nicht zu erklären ist ohne den ökonomischen Rückstand dieser Staatengemeinschaft gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern, der sich in den 1980er Jahren nicht mehr verringert, sondern vergrößert hat. Wäre es anders gewesen, wäre die Geschichte anders verlaufen – hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen gekriegt.

Wer sich – spätestens beim Annähren an die Frage einer grundlegenden Alternative zum Kapitalismus – mit dem Aufbau einer funktionierenden Ökonomie ohne Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln befassen will, wird sich, wenn er (oder sie) nicht verantwortungslos handeln will, mit den Debatten um die ökonomischen Fragen des nach der Pariser Kommune zweiten sozialistischen Versuchs auf europäischem Boden gründlich befassen müssen. Diese Debatten klug, differenziert, nachdenklich und mutig gegenüber dem Bann der kapitalistischen Medien, diese Fragen überhaupt zu thematisieren, zu referieren ist das erste große Verdienst dieser 109 Seiten. Das zweite ist die Lieferung eines ganzen Schlüsselsatzes zum Öffnen der einzelnen Fächer dieser Erfahrungs-Schatztruhe DDR für die Generationen von Ökonomen, die nach Nick kommen werden und die Aufgabe haben, nicht von vorn anzufangen, nicht die Fehler von 1949 und der Folgejahre zu wiederholen, sondern die Alternative »Sozialismus 3.0« zu programmieren.

Das Büchlein liefert darüber hinaus einige praktische und einige theoretische Edelsteine. Praktisch belegt Nick vor allem die zentrale Rolle des Mangels nicht nur für die konsumierenden Menschen im Sozialismus, sondern auch für den ganzen ökonomischen Mechanismus des europäischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts. Das theoretisch Wichtigste in diesem Buch ist die Frage des Geldes im Sozialismus, die eng zusammenhängt mit der – vor allem im Zusammenhang mit den Arbeiten des verstorbenen Robert Kurz – erneut vielfach debattierten Frage nach der Dauer und der Eigenständigkeit des Sozialismus als Übergangsepoche (oder eben nur -etappe) zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

Schneller ist niemand in den »Ökonomiedebatten« drin, die wir für die Zukunft führen müssen als die- und derjenige, der sich Harry Nicks kleines Büchlein gönnt. Sinnvoll ist es, es schon jetzt zu lesen und nicht erst, wenn wir im Berg hängen. Kluge Menschen legen sich ihre Ausrüstung sorgfältig und rechzeitig und nicht erst während einer Bergtour zurecht.

Harry Nick: »Ökonomiedebatten in der DDR«, GNN Verlag, 109 Seiten, 9 €. Von unserem Autor Manfred Sohn ist jüngst das Buch »Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten« (PapyRossa Verlag) erschienen, das sich mit den Lehren aus der Pariser Kommune und dem europäischen Sozialismus 1917–1989 befaßt.