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Titel192013

Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat?  (Martin Lemke)

Nach dem 8. Mai 1945 waren die alliierten Siegermächte entschlossen, in Deutschland zügig demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse einzuführen, auch in der Justiz. Das war allerdings ein schwieriges Unterfangen, denn die deutsche Justiz – richtiger gesagt: der bestehende Justizapparat der NS-Diktatur – hatte den 8. Mai als Debakel erlebt. Aus dem erhofften Endsieg mit dem »Führer«, auf den man einen Eid geschworen hatte, war eine bedingungslose Kapitulation geworden. Statt tausendjährigem Reich nun Demokratie und Rechtsstaat.

In den westlichen Besatzungszonen, auf die sich meine Darstellung beschränkt, saßen die bisherigen NS-Juristen zunächst alle noch auf ihren Posten und hatten in der übergroßen Mehrzahl nicht die Spur von Scham, Skrupeln oder schlechtem Gewissen wegen ihrer Tätigkeit zwischen 1933 und 1945.

Im Ausnahmezustand, so der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, der ihnen den Rücken stärkte, tritt das Recht zurück, aber die Ordnung bleibt erhalten. Mit dieser Definition der Justizpraxis im NS-Staat als Entschuldigung wollten es viele Richter und Staatsanwälte, die bis dahin Karriere gemacht hatten, nach dem 8. Mai 1945 noch einmal versuchen. Um sich im Amt zu halten, wiesen sie alle Schuld von sich: Die Täter, das waren die anderen, jedenfalls nicht sie, die Juristen.

Personelle Alternativen standen den alliierten Mächten nur in geringem Maße zur Verfügung, schlichte Auswechslung des Personals war also nicht möglich. Die Alliierten wußten das, und die NS-Juristen wußten es auch. Die wenigen sozialdemokratischen und jüdischen Richter und Justizmitarbeiter waren seit langem aus dem Dienst entfernt und zu einem großen Teil entweder umgebracht oder in die Emigration getrieben worden. Ebenso war es den sozialdemokratischen, kommunistischen und jüdischen Anwälten ergangen. Die wenigen Rückkehrer aus dem Exil wurden nach 1945 gemieden oder, soweit sie Richter waren, gleich als Vaterlandsverräter behandelt. Der Roman »Landgericht« von Ursula Krechel, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2012, behandelt dieses Thema (s. a. Ossietzky 22/12).

Eben wegen des Fehlens personeller Alternativen bemühten sich die Alliierten zunächst auf formalem Weg, rechtsstaatliche Verhältnisse in den bestehenden deutschen Justizapparat einzuführen. Kurz: Als der Rechtsstaat kam, war die Justiz schon da.

Der strukturelle Bruch mit der NS-Herrschaft wurde geschaffen durch die Erklärung der Alliierten vom 6. Juni 1945. Damit übernahmen sie die oberste staatliche Gewalt auch auf judikativem Gebiet. Durch die Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats der alliierten Mächte vom 30. Oktober 1945 wurden Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege erlassen. Darin hieß es unter anderem: »Mit der Ausschaltung der Gewaltherrschaft Hitlers durch die alliierten Mächte ist das terroristische System der Nazigerichte abgeschafft worden. An seine Stelle muß eine Rechtspflege treten, die sich auf die Errungenschaften der Demokratie, der Zivilisation und der Gerechtigkeit gründet.« Weiter hieß es: »Das deutsche Gerichtswesen muß auf der Grundlage des demokratischen Prinzips, der Gesetzmäßigkeit und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied von Rasse, Staatsangehörigkeit oder Religion umgestellt werden.«

Damit waren rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien aufgestellt, für die einige Monate zuvor noch die Mitglieder des Kreisauer Kreises und andere NS-Gegner verurteilt und hingerichtet worden waren – verurteilt durch Richter, die nun das neue Recht sprechen sollten. Was diesen Richtern bis dahin als Hochverrat gegolten hatte, sollte jetzt eine demokratische Rechtspflege begründen. Viele hatten sich ohne Bedenken dem NS-Staat dienstbar gemacht und im Reichsgericht, im Volksgerichtshof, in den Sondergerichten oder als Wehrmachtsjuristen Zehntausende Angeklagte zum Tode verurteilt und umbringen lassen. Und sie hatten gewußt, was sie taten. Der Berliner Generalstaatsanwalt Jung zum Beispiel hatte 1935 klargemacht: »Die Staatsanwaltschaft ist zu einem Werkzeug in der Hand des Führers geworden, das ihm (...) in treuem und unbeugsamem Gehorsam zur Verfügung steht.«

Eine rechtsstaatliche Umgestaltung der Justiz konnte diesen Juristen nicht passen, denn sie entsprach nicht ihrer Ideologie und ihren rechtspolitischen Vorstellungen, und sie konnte ihnen nicht passen, weil sie, die ehemaligen NS-Juristen, Strafverfolgung für ihr eigenes Tun und Handeln fürchten mußten.

Im Jahre 1948 schien einmal die Möglichkeit auf, daß sie für ihr Tun verantwortlich gemacht werden könnten, denn der Oberste Gerichtshof in der Britischen Besatzungszone entschied, daß der NS-Staat schweres Unrecht begangen habe, dessen Bestrafung rechtsstaatliche Pflicht gewesen wäre: »Die nachträgliche Heilung solcher Pflichtversäumnisse entspricht der Gerechtigkeit. Das bedeutet auch keine Verletzung der Rechtssicherheit, sondern die Wiederherstellung ihrer Grundlagen.«

Wer als Richter im NS-Staat sein Pensum an Todesurteilen erfüllt hatte, konnte nach solchen Sätzen des Obersten Gerichtes schon unruhig werden. Tatsächlich galten schon seit 1945 verschiedene Direktiven der alliierten Mächte, daß alle ehemaligen Mitglieder der Nazipartei und alle Personen, die an den Strafmethoden des Hitler-Regimes beteiligt gewesen waren, ihrer Ämter als Richter oder Staatsanwalt enthoben seien. Sie dürften nicht zu solchen Ämtern zugelassen werden. Aufgrund dieser Bestimmungen verloren alle Richter und Staatsanwälte des Volksgerichtshofes, alle Vorsitzenden und ständigen Richter und Staatsanwälte der Sondergerichte, der Präsident des Reichsgerichtes, die Präsidenten und Vizepräsidenten sowie Generalstaatsanwälte der Oberlandesgerichte, alle Präsidenten der Landgerichte und die Oberstaatsanwälte ihre Funktionen. Das war immerhin ein Anfang und wirkte zunächst als personeller Bruch.

Wolfgang Abendroth schrieb in seinem Buch »Demokratie und Rechtspflege« schon 1946: »Im Dritten Reich wurde der Richter gehorsamer Diener der nationalsozialistischen Rechtlosigkeit. Die werdende neue Demokratie findet diese Juristen schlicht vor. In ihrer Hand wäre die richterliche Unabhängigkeit eine Waffe gegen die Demokratie und ihre Träger. Deshalb darf diese Schicht nicht die Richter des neuen Staates stellen. Das Volk darf kein Vertrauen in einen Richter setzen, der Mitglied der NSDAP war, der in politischen Prozessen des Dritten Reiches tätig war. Mit den Schlüsselstellungen in der Justiz müssen Juristen betraut werden, deren positiv demokratische Haltung durch ihre frühere politische Tätigkeit bewiesen ist, nicht aber ›unpolitische Fachleute‹, die ihre alten Vorurteile durch formale Bedenken verdecken.« Ein britischer Besatzungsoffizier, dessen Name nicht überliefert ist, brachte es damals auf den Punkt: Die beste Lösung sei die Schließung der deutschen Gerichte auf zehn Jahre und die zwischenzeitliche Erziehung einer neuen Richtergeneration.

Doch die notwendige Zäsur unterblieb, stattdessen machte sich Kontinuität breit.

Der Jurist und Politologe Joachim Perels berichtet in seinem Aufsatz »Die Ausschaltung des Justizapparates der NS-Diktatur – Voraussetzung des demokratischen Neubeginns: Der Bruch mit dem nationalsozialistischen Justizsystem wurde während der Besatzungsherrschaft, ungeachtet der eindeutigen Kontrollratsgesetzgebung, keineswegs aufrechterhalten. So änderten die Westalliierten ihre Position von 1945/1946 zum Ende der vierziger Jahre im Zuge der Ost-West-Konfrontation.« Artikel 131 des Grundgesetzes trat in Kraft mit der Möglichkeit, alle jene Richter und Staatsanwälte der alten NS-Justizelite wieder auf ihre Posten zu bringen, von welchen sie wenige Jahre zuvor entfernt worden waren. Die Rekonstruktion des NS-Beamtenapparates konnte ihren Lauf nehmen, und diese ging einher mit einer Neulegitimation des NS-Rechtes. Die Regel des Kontrollrats der Alliierten, daß frühere NSDAP-Mitglieder vom Justizdienst auszuschließen sind, galt nur bis 1946 in ganz Deutschland. Die Briten lösten in ihrer Zone diesen Grundsatz als erste auf. Dort wurde das sogenannte Huckepackverfahren eingeführt: Für einen Unbelasteten konnte ein Belasteter in den Justizdienst zurückkehren. Für einen Demokraten gab es immer einen Nazi-Juristen dazu. Bereits 1948 waren die leitenden Posten in der Justiz der westlichen Besatzungszonen wieder zu 30 Prozent mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt. Bei den Landgerichtsräten und -direktoren lag der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder zwischen 80 und 90 Prozent.

Auf dem 20. Strafverteidigertag 1996 in Essen schilderte ein Landgerichtspräsident, wenn ich mich richtig erinnere, in bewegenden Worten, wie er als junger Referendar Anfang der fünfziger Jahre eine Besprechung des größtenteils aus alten NSDAP-Mitgliedern bestehenden Landgerichtspräsidiums miterlebt hatte: Der Präsident erklärte in knappem militärischem Ton wie wohl einst beim Bekanntgeben von Führerbefehlen: »So, meine Herren, jetzt machen wir Demokratie!« Der Präsident habe dabei einmal in die Hände geklatscht, und damit war der Systemwechsel vollzogen. Alle amüsierten sich. Jeder ging wieder an seine Arbeit wie zuvor. Diese Episode läßt mich bis heute schaudern.

Den wiederbeschäftigten ehemaligen NS-Juristen fehlten aber noch zwei Absicherungen für ihre Arbeit und ihre Dienststellung: erstens ein ideologischer Überbau, der sie von moralischer Schuld für ihre früheren Tätigkeiten freisprechen sollte, und zweitens die Gewißheit, für eben diese Tätigkeiten juristisch nicht mehr belangt zu werden. Letzteres sollte sich als relativ einfach herausstellen, waren die verantwortlichen Strafverfolger ab 1949 doch alte NS-Kameraden und Parteigenossen, Fleisch vom eigenen Fleische. Mit der Freisprechung von moralischer Schuld schien es nicht ganz so einfach, nachdem mehr und mehr bekannt geworden war, daß die jetzt wieder amtierenden Richter und Staatsanwälte Zehntausende Menschen hatten umbringen lassen. Doch ein Trick genügte: Man mußte nur die Justiz vom NS-Staat trennen, die Justiz vom Unrecht. Thomas Dehler (FDP), Justizminister unter Konrad Adenauer, sagte es so: »Der deutsche Richter hat sich im Nationalsozialismus heroisch im Rahmen des Möglichen für das ewige Recht eingesetzt. Es ist fragwürdig, wenn man der Justiz aus der Vergangenheit mit Mißtrauen gegenübertritt.« Das war Regierungsmeinung, und schnell war nicht die Wiederbeschäftigung der NS-Juristen fragwürdig, sondern die Kritik daran.

Ende 1948 gab es noch einen letzten Versuch, die NS-Richter und -Beamten aus dem Justizapparat der zukünftigen Bundesrepublik Deutschland rauszuhalten: Der Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates schlug im Dezember 1948 maßgeblich auf Initiative der SPD vor, in das Grundgesetz eine Bestimmung aufzunehmen, die einen Wiedereinstellungsanspruch zumindest der von den Alliierten entlassenen Beamten, zu denen auch die höheren Richter und Staatsanwälte des NS-Staates gehörten, definitiv ausschloß. Sie hätte 53.000 Beamte getroffen und eine andere Entwicklung des bundesdeutschen Rechtssystems bewirken können. Die Ausschlußbestimmung wurde jedoch auf Intervention Adenauers, des damaligen Vorsitzenden des Parlamentarischen Rates, und nach Interventionen der Beamtenverbände und der NS-Juristen selbst nicht in das Grundgesetz aufgenommen. Der damalige Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Artur Sträter (CDU), stellte die These auf, es habe eine grundlegende Differenz zwischen der Justiz und der NS-Führung gegeben. Er formulierte das so: »Der deutsche Richter im Dritten Reich ist intakt geblieben und hat nicht vor Hitler kapituliert.« Das stimmte zwar auch nicht, aber den belasteten Richtern half es sehr. Tatsächlich wurde dann im Grundgesetz nicht der Ausschluß der NS-Beamten, sondern ihr Einschluß bestimmt. Am Ende dieses Konfliktes zwischen Rechtsstaat und Justiz stand der schon erwähnte Artikel 131 GG: die Übernahme des Beamtenapparates des Hitler-Regimes in den neuen Staats- und Justizapparat. Mit dieser Bestimmung gelang es, drei Viertel des Personals aus der NS-Diktatur im bundesdeutschen Justizdienst zu beschäftigen. 40 Prozent der Richter des Volksgerichtshofes sprachen wieder Recht. Die wenigen NS-Juristen, die nicht wieder eingestellt wurden, waren inzwischen entweder gestorben oder pensioniert oder Anwälte geworden. So hatten der Rechtsstaat und seine Unterstützer die erste und für viele Jahre entscheidende Schlacht gegen die Justiz verloren.

Die Serie »Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat?«, die auf Martin Lemkes Vortrag auf dem diesjährigen Strafverteidigertag in Freiburg zurückgeht, wird fortgesetzt. Lemke, Fachanwalt für Strafrecht in Hamburg, ist Vorsitzender der Holtfort-Stiftung.