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Titel1915

Ein Nachruf auf die DDR  (Friedrich Wolff)

Um den 3. Oktober herum werden die Medien wohl voll des Jubels sein, weil die DDR vor 25 Jahren der BRD beigetreten ist. Erwartet uns ein ähnliches Spektakel wie am 9. November vorigen Jahres, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls? Ich gehöre nicht zu all den Glücklichen. Ihr Jubel erinnert mich an Bilder vom Aufmarsch zum Ersten Weltkrieg, an die millionenfache Begeisterung über Hitlers zeitweilige Eroberungen.


Auch die Vorsitzenden der Partei Die Linke, Katja Kipping und Bernd Riexinger, und der Fraktionsvorsitzende, Gregor Gysi, haben einen Nachruf auf die DDR verfasst. Zwar heißt es im Programm ihrer Partei: »Wir gehen aus von den Traditionen der Demokratie und des Sozialismus … Wir wollen alle gesellschaftlichen Verhältnisse überwinden, in denen Menschen ausgebeutet, entrechtet und entmündigt« und »ihre sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen zerstört werden.« Aber von dieser Zielsetzung war in ihrer Erklärung »Brücken bauen – Zeit für eine neue Erinnerungspolitik« nicht die Rede. Offenbar gehört die DDR für sie nicht zu den Traditionen des Sozialismus. In ihrem Nachruf heißt es: »Der real existierende Sozialismus scheiterte nicht zuerst an äußeren Umständen, sondern an seinen eigenen inneren Widersprüchen, an seinen Fehlern und Verbrechen, an Unfreiheit und ideologischem Dogmatismus, an seiner wirtschaftlichen Ineffizienz.« Das wird nicht näher erläutert – warum auch? Fast alle Medien verbreiten es, also ist es wahr.


Welche inneren Widersprüche sollen das gewesen sein? Waren sie größer als der zwischen Kapital und Arbeit?


Und was war mit den Fehlern der DDR? Deren gab es viele, aber waren sie die Ursache für den Untergang des Sozialismus in Deutschland? Jetzt erleben Ost- wie Westdeutsche milliardenschwere Fehlplanungen – ich erwähne als Beispiel nur den Flughafen BER –, an denen gewiss nicht der Sozialismus schuld ist.


Welche äußeren Umstände, an denen die DDR »nicht zuerst« scheiterte, können gemeint sein? Gysi, Kipping, Riexinger nennen sie nicht. Kein Wort über den Kalten Krieg, über die Blockade der DDR, über das unterschiedliche wirtschaftliche Gewicht der DDR und der BRD, der UdSSR und der USA. Und die CIA, die anderen Geheimdienste in der Hauptstadt – haben ihre Aktivitäten etwa nichts bewirkt?


Klar, die Verbrechen der DDR müssen schuld sein. Aber von welchen Verbrechen reden die drei Vorsitzenden? Keine Antwort. Es gibt jedoch andere, amtliche Quellen. Zum Beispiel Generalstaatsanwalt a. D. Christoph Schaefgen, den ehemaligen Leiter der Abteilung Regierungskriminalität in Berlin. In einem Artikel »Zehn Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts in der DDR« (Neue Justiz 2000, S. 1 ff) schrieb er, bis Anfang 1999 seien »etwa 62.000 Ermittlungsverfahren bundesweit gegen ungefähr 100.000 Beschuldigte eingeleitet worden«, von denen bisher »nur etwa 300 Personen rechtskräftig verurteilt« worden seien. Noch genauer bezifferten die Professoren der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin (s. Ossietzky 17/14) die Verurteilungen wegen »Regierungskriminalität«: 289. Sind 289 Verurteilungen in 40 Jahren Beweis für einen »Unrechtsstaat«? 288 von den 289 Taten waren Vergehen, eine einzige war ein Verbrechen. Schaefgen sagte übrigens in einem Interview des Tagesspiegel am 8. September 1999: »Wenn man die DDR an der geringen Zahl der Verurteilten und an den eingeschränkten Verfolgungsmöglichkeiten misst, dann reicht das nicht, um zu sagen, die DDR war ein Unrechtsstaat.« Aber das interessiert unsere Politiker nicht, sie reden weiter von »Unrechtsstaat« und von den Verbrechen der DDR. »Sozialisten« tun es ihnen gleich.


Klaus Marxen und Gerhard Werle benennen in ihrem Buch »Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz« die einzelnen Straftaten. Sie stellen fest: Es gibt keinen Fall von Folterung, keinen Fall von Zwangsadoption. Niemand wurde aus politischen Gründen in die Psychiatrie eingewiesen. Es gibt keinen Fall Gustl Mollath, auch keinen Stasi-Mord oder -Totschlag, auch keinen im Gefängnisgewahrsam. Was für ein Verbrechen hat also die DDR begangen?


Tonangebende Politiker und Publizisten lassen kein gutes Haar an der DDR, denken immer an die (nach und nach gelockerten) Reisebeschränkungen, die Grenzsperren, lügen schwere Verbrechen einfach herbei. Die Leistungen und Errungenschaften des ostdeutschen Staates sind tabu. Zum Beispiel:
- Zu DDR-Zeiten gab es keine Arbeitslosigkeit. Heute wird es als Errungenschaft gepriesen, wenn die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen in der BRD unter drei Millionen sinkt.
- In der DDR gab es keine Obdachlosen. Heute weiß man nicht einmal, wie viele es sind. Anspruch auf Wohnung und Arbeit hatte in der DDR auch der entlassene Strafgefangene.
- Kriminalität war in der DDR viel geringer als in der damaligen BRD und im heutigen Deutschland.
- Anwälte brauchte der Bürger selten, zum Beispiel nicht für eine Ehescheidung.
- Vollbeschäftigte Frauen bekamen einen Haushaltstag.
- Medizinische Behandlung war kostenfrei, einschließlich Pille und Unterbrechung einer Schwangerschaft.
- Kindergärten waren zahlreicher, billiger und qualifizierter.
- Bücher, Theater und Kultur aller Art waren für niemanden zu teuer.
- Schulen, Universitäten und andere Bildungsstätten standen kostenfrei allen offen, die entsprechende Zeugnisse hatten, zum Beispiel die Pfarrerstochter Angela Merkel, die auch promovieren konnte. (Die Zahl der kostenfrei Studierenden war begrenzt wie in der BRD.)
- Öffentliche Verkehrsmittel fuhren häufiger, zuverlässiger und billiger.
- Lebensmittel waren billiger, »Tafeln« gab es nicht, auch keine Entwürdigung nach Hartz IV.
- Kein DDR-Bürger war an militärischem Mord wie dem an Kindern im afghanischen Kundus beteiligt.

Sicher hatte die DDR noch andere Vorzüge. Alle sollen vergessen sein. Ob das auf Dauer gelingt?


Gysi, Kipping und Riexinger haben noch ein bisschen Zeit, vor dem 25. Jahrestag ihren Nachruf zu korrigieren. Sie werden mich jedenfalls – trotz allem – weiterhin als Mitglied der Partei Die Linke dulden müssen.

Friedrich Wolff hat in DDR-Zeiten und später als Rechtsanwalt in Berlin gearbeitet. Er berichtet darüber in seinem Buch »Verlorene Prozesse«.