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Titel1917

Monatsrückblick: Fortschritt vermisst  (Jane Zahn)

Ich vermisse den Fortschritt. Stillstand allenthalben, ja sogar Rückwärtswenden. Der Wähler hat es so gewollt! Das sagen sie jetzt wieder, die Politiker. Was für ein Quatsch! »Den« Wähler gibt es gar nicht. Das konnte man gut im Wahllokal Bansendorf im Kreis Rheinsberg erleben. Dort wählten nämlich genau drei Wähler (die meisten Einwohner hatten Briefwahl gemacht). Das Wahlergebnis dieser drei Wähler war: 33,3 Prozent AfD, 33,3 Prozent Die Linke und 33,3 Prozent NPD. Welchen der drei kann man jetzt verantwortlich machen für das Wahlergebnis?

 

Oder vielleicht sogar die, die gar nicht gewählt haben? Vor vier Jahren waren das 17,6 Millionen Wahlberechtigte, mehr als Wähler der CDU, die damals 15 Millionen wählten. (Das amtliche Wahlergebnis der diesjährigen Wahl mit den absoluten Zahlen liegt leider noch nicht vor, und Prozentzahlen sind trügerisch, denn sie beziehen sich nur auf die Gesamtzahlt der Wähler, nicht die der Wahlberechtigten.) Zweitstärkste Partei sind die Nichtwähler auf jeden Fall, denn 23,8 Prozent haben diesmal nicht gewählt, mehr als die SPD an Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen hat. Die SPD sorgte ja für Überraschung, weil sie einen Moment nach Schließung der Wahllokale ihren Übertritt zur Opposition bekannt gab. Vielleicht wäre es hilfreich gewesen, das vorher zu tun? Spekulation! Immerhin hat sie gemerkt, dass sie das Vertrauen der Wähler in sie als Regierungspartei verloren hat. Ob sie dieses Vertrauen aber als Opposition wiedergewinnen kann? Glaubt ihr in vier Jahren auf einmal jemand, dass sie als Regierungspartei nicht wieder ihre Wähler verrät?

 

Frau Merkel muss ihre Blazer in Zukunft also dreifarbig gestalten: Jamaika ist angesagt. Sie muss nur noch die CSU dahin trimmen. Herrn Schäuble hat sie schon als Finanzminister und hartnäckigsten Ausgabengegner entsorgt, indem sie ihn zum Bundestagspräsidenten vorschlug. Allen anderen leuchtet es schon aus den Augen: Jamaika! Das könnte so paradiesisch sein: Immer scheint die Sonne, Bündnis 90/Die Grünen sorgen für saubere Umwelt, die FDP erhält den Rechtsstaat, und Mutti sorgt dafür, dass alle gut und gern in Deutschland leben. Aber ich glaube eher, es wird die Hölle: Ein Hurrikan jagt den nächsten, die Grünen marschieren vorneweg in jede humanitäre Mission, die die NATO zu bieten hat, die FDP privatisiert auch noch den Rest der Autobahn und die Bildung dazu, und die CDU schafft neben dem Asylrecht auch noch den Rest des Grundgesetzes ab – und das alles, während ganz Deutschland unter einer süßlich-duftenden Haschisch-Wolke dahinkifft. Jamaika!

 

Die Insel gehört zu den Ärmsten der Armen, die nun die Ergebnisse der Erderwärmung ausbaden müssen. Ein Hurrikan jagt den nächsten – aber Mr. Trumps Wuschelfrisur bleibt unangetastet. Im Gegenteil: Trump selbst verursacht wieder Stürme politischer Art. Seine Brandrede vor der UNO-Vollversammlung geht wohl in die Geschichte als die schlimmste Attacke am Rednerpult ein, seit Chruschtschow mit dem Schuh auf das Pult schlug. Sollten die USA gezwungen werden, sich oder ihre Verbündeten zu verteidigen, hätten sie keine andere Wahl, als Nordkorea vollständig zu zerstören, hat er angedroht. Dass Nordkorea keine andere Wahl hat, als sich mit atomarer Bewaffnung vor den Angriffen der USA zu schützen, ist die perverse Logik, die sich seit den Überfällen auf den Irak und auf Libyen wie von selbst ergibt. Sooo wahnsinnig ist der »Raketenmann« gar nicht, wie Trump Kim Jong Un bezeichnet. Der wiederum gab laut der nordkoreanischen Agentur KCNA zurück: »Ich werde den geisteskranken, dementen US-Greis gewiss und auf jeden Fall mit Feuer bändigen.«

 

Aber zurück vom Kindergarten zu ernsthafter Politik. In Aachen werden seit dem 1. September vorsorglich Jodtabletten verteilt, die bei einem Unfall im AKW Tihange geschluckt werden können, um die Aufnahme von radioaktivem Jod durch die Schilddrüse zu minimieren. Andere möglicherweise austretende radioaktive Substanzen sind nicht betroffen, aber mindestens genauso gefährlich, sie betreffen nur andere Körperteile. Einerseits fordert die Bundesumweltministerin die Abschaltung des maroden Kernkraftwerks, andererseits liefern deutsche Firmen die Brennelemente für den Weiterbetrieb. Die Jodtabletten finden übrigens reißenden Absatz.

 

Klar, die Menschen sind verunsichert und greifen nach jedem Strohhalm, ob Jodtablette oder AfD. Und es gibt ja noch mehr verstörende Nachrichten: Die NPD will die arabischen Ziffern abschaffen. Als auf einer von der Saarbrücker Zeitung und dem SR veranstalteten Diskussion zur Oberbürgermeisterwahl in Völklingen der Kandidat der PARTEI auf den Skandal hinwies, dass in Völklingen Hausnummern mit arabischen Ziffern vergeben würden, rief der Kandidat der NPD: »Da warten Sie ab, Herr Faust, bis ich Oberbürgermeister bin. Da werde ich das ändern, da werden noch mal normale Zahlen drankommen!« (zitiert nach jW vom 4.9.17) Vielleicht ist es ja das, was die AfD in Deutschland verändern will? Wenn sie »unser Land zurückhaben« will, möchte sie vielleicht auch zu römischen Ziffern zurückkehren? Quatsch, die sind ja auch eingewandert.

 

Richtig freuen können sich jetzt die Frauen in Saudi-Arabien: Sie dürfen nun am Steuer eines Autos sitzen und selbständig fahren! Ohne männlichen Schutz! Es gibt ihn also doch noch: den Fortschritt.