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Titel1920

Seien wir undankbar – nie wieder Bürger 2. Klasse  (Stefan Bollinger)

In der Berliner Zeitung kommen seit einigen Wochen die Protagonisten der Noch-DDR zu Wort, die die östliche Unterschrift unter den »Einigungsvertrag« zu verantworten hatten. Die Abgeordneten der Parteien der Allianz für Deutschland, der Liberalen und der SPD stimmten mit großer Mehrheit in der Volkskammer für den Vertrag – gegen die meisten Stimmen von PDS und Bündnis 90/Die Grünen. Dieser »Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands« wurde im Kronprinzenpalais Unter den Linden von den Verhandlungsführern, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und dem Parlamentarischen Staatssekretär beim DDR-Ministerpräsidenten Günther Krause, unterzeichnet. Kanzler Kohl verzichtete auf den Triumph, er wollte, wie Krause andeutet, nicht durch seine Körperfülle den wahren Charakter des Vertrages als Überwältigung der ostdeutschen Landsleute sichtbar machen. Soviel Taktgefühl spielte sonst keine Rolle.

 

 

Totengräber

Im Westen haben damalige Akteure und ihre Nachfolger kein Problem, die Einheit als Erfolgsgeschichte, eventuell mit kleinen Macken, zu feiern. Auch die DDR-Politiker der letzten Stunden lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sie richtig entschieden. Sie hätten das herausgeholt, was von Bonn zu holen war. Der letzte DDR-Ministerpräsident, der mit seiner bedächtigen und abwägenden Art das Vertrauen vieler seiner Staatsbürger hatte, bleibt seiner Maxime treu, die er in der ersten Sitzung seinem frisch gewählten Kabinetts verkündete: »Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe ist, uns abzuschaffen.« Dem Einwurf seiner Interviewer, dass »das ein bisschen so [ist], als würde man seine eigene Beerdigung vorbereiten«, kann er nur zustimmen: »Ja, wenn Sie so wollen.« (Berliner Zeitung, 29./30.8.2020)

 

Formal und bei gut 900 Seiten Vertragstext kann den Beteiligten bescheinigt werden, dass sie versucht haben, alle Fragen der deutschen Einheit zu bedenken. Sie fanden für die Strukturen der DDR Lösungen, die sie mit dem bundesdeutschen Rechtsverständnis und geltendem Westrecht in Einklang brachten.

 

Deutsche Gründlichkeit zahlte sich wie immer in der Geschichte aus – aber mit den fatalen Folgen grundlegender Konstruktionsmängel.

 

Maßstab der deutschen Einheit war nicht der revolutionäre Aufbruch der Mehrheit der DDR-Bürger, angeführt von den neuen Bürgerbewegungen und Parteien, geduldet und unterstützt von SED-Reformern, für eine Erneuerung einer souveränen, demokratisch-sozialistischen DDR im letzten Jahr der DDR, das ein Jahr der Anarchie und der Utopien war. Bundesdeutsche Eliten, Regierung und Wirtschaft, Parteien und Medien hatten sich früh auf einen einzigen Weg festgelegt: den Beitritt, besser: den Anschluss der DDR. Weder von der alten DDR noch der sich erneuernden DDR von 1989/90 sollte etwas bleiben. Nebenher könnte mit einer wider bessres Wissen für marode erklärten Ostwirtschaft, mit Grund und Boden, qualifizierten, auch wanderbereiten Arbeitskräften guter Reibach gemacht werden. Die Einheit war vier Jahrzehnte lang nur Gegenstand westdeutscher Sonn- und Feiertagsreden, nun konnte sie dank der Schwäche der realsozialistischen Führungen in Moskau und Ost-Berlin Wirklichkeit werden – zu Nutzen und Frommen des Kapitals.

 

Maßstab war die BRD, der Westen mit einer vermeintlich funktionierenden Gesellschaft und Wirtschaft, die doch einer Reform bedurfte. (Nur die kritischsten Köpfe – auch der regierenden CDU – hatten es bemerkt und Anfang 1989 erfolglos versucht, Kohl zu stürzen.) Die Besonderheiten der DDR mit ihren sozialistischen, sozialen Grundregeln hatten in den Westüberlegungen keinen Platz, alles Sozialistische, Volkseigene sollte ausgemerzt werden zugunsten des bewährten Kapitalismus.

 

Die Formel »Rückgabe vor Entschädigung« steht für das auf die Eigentumswerte einer kapitalistischen Sozialordnung fixierte Herangehen, das im Einklang mit der Treuhand dafür sorgte, dass das einstige Staats- und letztlich doch irgendwie »Volks«eigentum der DDR-Bürger sich in Nichts auflöste oder schlimmstenfalls in Schulden, zum Beispiel bei Wohnungsbauunternehmen verwandelte. Das »Nichts« fiel zu 90 Prozent in die Hand westdeutscher »Investoren«. Gleichzeitig griff man in das Leben Hunderttausender ein, die auf der falschen Scholle lebten, die ihre Einfamilienhäuser oder Datschen auf »fremdem« Eigentum errichtet hatten.

 

Neben den minimalen Zugeständnissen – oft nur für einen kurzen Übergang gesichert, spektakulär der § 218 und die Frage nach der von den Frauen selbstbestimmten Schwangerschaft – stellte der Vertrag die Weichen für die Zerschlagung der ostdeutschen Wirtschaft und das Kaltstellen der einstigen Eliten, die keineswegs so elitär waren, sondern die große Dienstklasse der DDR – die Lehrer, Soldaten, Polizisten und Akademiker. Politische Überprüfungen und Säuberungen von tatsächlich und oft nur vermeintlich Belasteten, die Zerschlagung der Strukturen sorgten für jenen Zustand, der auch noch 30 Jahre danach ostdeutsche Führungspersönlichkeiten an Universitäten, in vielen Verwaltungen, in Bundeswehr oder Diplomatie vermissen lässt. Für jeden von ihnen fanden sich mehr oder minder gute Westexperten. Tatsächliche ostdeutsche Stimmen sollten und sollen keine Rolle spielen.

 

 

Alternativen? Geschichte ist kein Wunschkonzert

Es gab andere Optionen 1990, die mehr Mut, Kreativität und realistische Zielsetzungen verlangt hätten: vom Westen, von den DDR-Bürgern. Die Modrow-Regierung und der Zentrale Runde Tisch hatten Wirtschaftsreformen anvisiert, die die DDR auf einen langen, keineswegs leichten Weg der Reformierung hin zu einer sozial und ökologisch definierten Marktwirtschaft hätten führen können. Selbst die nach der sich als unabwendbar erweisenden Einheitsoption eingeleitete Verteidigung sozialer Standards und Strukturen durch die Noch-Modrow-Regierung und den Runden Tisch in Gestalt der Sozialcharta, des Gewerkschaftsgesetzes und vor allem des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches vom April 1990 hätten als Verhandlungsmasse und reale Angebote einen anderen Weg in die Einheit eröffnen und das vereinte Deutschland in Ost wie West verändern können.

 

Das war in Bonn nicht gewollt, das wurde durch die zielgerichtete Torpedierung der Reformansätze und das Schlechtreden der DDR-Wirtschaft im Winter/Frühjahr 1990 verhindert. Bonn gab die klare Devise aus: Einheit jetzt! Die Gunst der Stunde sollte genutzt werden, dazu musste und durfte den DDR-Bürgern kein reiner Wein eingeschenkt werden, Versprechungen von »blühenden Landschaften« sollten ausreichen. Die erfolgreichen neu-alten Parteien der Allianz für Deutschland, der Liberalen und der Sozialdemokratie waren die Verstärker der westdeutschen Verheißungen, massiv befördert durch Westberater in Ministerrat, Volkskammer und Parteizentralen.

 

Die verunsicherten DDR-Bürger waren mehrheitlich nur zu leicht bereit, den Versprechen zu folgen und bei den Wahlen zu Volkskammer, Kommunalparlamenten, Landtagen und dann bei der Bundestagswahl diesem Glauben mit ihrer Stimme das Plazet zu geben. Die Rechnung wurde ihnen schneller als erahnt präsentiert. Sie hatten wirtschaftliche Verwerfungen erwartet, waren sicher, dass viele ihrer Betriebe und Produkte nicht wettbewerbsfähig sein würden, ahnten, dass ihr Arbeitsplatz nicht sicher war. Dass es aber so schlimm kommen würde, das überraschte sie dann doch. Zu spät und mit wenig politischer Konsequenz sahen sie, dass die Warner der PDS und der Bürgerbewegungen wohl recht hatten.

 

 

Westler wissen es besser

Die übergestülpten westlichen Regelungen, dass sprichwörtliche »Nun regieren wir«, wie das NRW-Kürzel des Partnerbundeslandes Nordrhein-Westfalen in Brandenburg aufgelöst wurde, als dessen Gesetzes- und Verordnungstexte einschließlich der Tippfehler eins zu eins abgekupfert wurden und Verwaltungsspezialisten mit dem rheinischen Akzent Potsdamer Amtsstuben besiedelten, verhinderten das, was notwendig gewesen wäre: die Anstrengung der Ostdeutschen, selbst zu lernen, wie auch unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen eine Gesellschaft und Wirtschaft zu organisieren wäre. Dabei hätten sie auch die eine oder andere Erfahrung aus 40 + 1 Jahr DDR + Wende bewahrt. Osteuropa, wo in der Regel keine die gleiche Sprache sprechenden Brüder und Schwestern bereitstanden, hat das in bestimmtem Sinne vorgemacht. Ganz zu schweigen von China, das seinen eigenen Reformweg einschlug.

 

Heute wird massiv getrommelt, dass das letzte Jahr der DDR keine Zeit unerfüllter Utopien und demokratischer, auch wirtschaftsdemokratischer Experimente gewesen sei – sondern nur die Zeit der ergriffenen Chance, sich unter die Obhut der bewährten Weststrukturen zu begeben.

 

Auch darum gibt es dreißig Jahre danach immer noch zwei Gesellschaften in Deutschland, gibt es eine getrennte Erinnerung und Geschichte, eine Benachteiligung bei der Besetzung der Eliten, sind Löhne ungleich, die Verteilung des Eigentums in Deutschland doppelt ungerecht, weil die einen zu viel besitzen und dann noch einen westdeutschen Hintergrund haben.

 

 

Wer Macht und Geld hat

Es hilft wenig, über die subjektiven Eigenschaften der Beteiligten, erst recht der Noch-DDR-Emissäre zu rechten. Sie haben das getan, was von ihnen erwartet wurde – von DDR-Bürgern wie von ihren bundesdeutschen Partnern. Sie handelten im Sinne einer Politik, die in Bonn über ihre ausgeschwärmten Westberater, ihre Parteiverbindungen und Medien kolportiert wurde: Die DDR muss so schnell wie möglich weg. Mit der überstürzten Einführung der DM gab die DDR bereits ein Großteil ihrer Souveränität preis, vor allem aber zeichnete sich ab, dass der Osten nun erst recht nicht mehr wirtschaftlich überlebensfähig ist.

 

So stolz die Mitglieder der damaligen DDR-Regierung de Maizière auch heute noch sind, der Vertrag wurde von westdeutschen Ministerialbürokraten und Juristen verfasst. Die DDR-Partner gaben die Staffage. Der Ministerpräsident freut sich heute noch, dass er emotional wichtige Punkte einzubringen suchte: von einer neuen Nationalhymne bis zur Hauptstadtfrage. Letztlich waren die durchgesetzten Änderungen doch nur marginal. Die vielgerühmte demokratische Entscheidung für die Einheit, auch für den Einigungsertrag, blieb Fiktion. Niemand legte der DDR-Bevölkerung noch einmal die Entscheidung vor, niemand – außer die Opposition – erklärte die Risiken im Gedruckten und Kleingedruckten, nicht einmal die Volkskammerabgeordneten mussten sich der Mühe unterziehen, den Vertrag komplett zu lesen, geschweige denn zu verstehen. Keine Zeit, keine Zeit.

 

Umso makabrer ist es, wenn Pfarrer Eppelmann, Dissident, früher Bürgerrechtler und CIA-Kontakt, Abrüstungsminister und einlullender Abwickler der NVA, Richter über die DDR-Geschichte und ihre Aufarbeitung, sich heute nicht entblödet, den verbreiteten Eindruck der Ostdeutschen von ihrer Benachteiligung heilig zu sprechen. Unter Anspielung auf schlechte Erfahrungen von DDR-Touristen in den östlichen Bruderländern, die oft genug vor ihren West-Landsleuten dank deren harter DM hintanstanden, folgert er. »Also wer sich heute noch zweiter Klasse in der DDR fühlt, sollte sich bitte daran erinnern, dass er vorher dritte oder vierte Klasse war. Sicher, wenn Leute beklagen, dass sie ihren Kindern weniger vererben können als vergleichbare Westdeutsche, dann muss man bedenken: Die konnten 40 Jahre länger wirtschaften und Erfolg haben als wir ... Menschen zweiter Klasse – woran misst man das? An den Superreichen in dieser Welt?« (Berliner Zeitung, 19./20.9.2020)

 

Ja, wozu soll die Einheit der Deutschen gut sein, wozu soll eine neue Gesellschaft nützen – doch nur zur Schaffung einer gerechten Gesellschaft, in der nicht die einen etwas mehr besitzen als die anderen und über die Minderbemittelten entscheiden dürfen. Sehr christlich ist der Herr Pfarrer nicht, auch wenn er irgendwie recht hat. Sozialistische Gesellschaftsansprüche sollten nicht zu den Akten gelegt werden.

 

Fazit: Die DDR-Bürger konnten Bundesbürger werden, die Einheit konnte kommen. Aber: Das Westmodell gewann, was bei einem Anschluss nicht verwundert.

 

 

Unser Autor hat jüngst zum Thema publiziert: Stefan Bollinger/Reiner Zilkenat (Hg.): »Zweimal Deutschland. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten – Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege«, edition bodoni, 521 Seiten, 22 €