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Titel1920

Mangelnde Konsequenz  (Jürgen Pelzer)

Unvergessen bleibt mir die Diskussion, die ich vor einigen Jahren an einer kalifornischen Universität zum Thema »Deutsche und Juden« organisiert hatte. Es ging um das Thema: Deutsche und Juden in Literatur und Kultur. Mehrere jüdische Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die ich als Gäste eingeladen hatte, äußerten sich höchst anerkennend über die Vielzahl von Museen und anderen Gedenkstätten, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern, und kontrastierten das mit der notorischen Geschichtsvergessenheit in den USA. Als die Rede auf das Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins kam, kommentierte eine junge deutsche Gaststudentin, unbeeindruckt vom Tenor der Diskussion: »Das ist doch alles nur für die Touristen.« Der positiven Einstellung der anderen Teilnehmer tat das zwar keinen Abbruch, doch was hatte der Einwurf, der keineswegs provokativ oder beleidigend gemeint war, zu bedeuten? Mir scheint, dass damit vor allem ein generelles Unbehagen am Opportunismus der Politik zum Ausdruck kam. Wie repräsentativ eine solche Einstellung möglicherweise ist, wäre zu untersuchen.

 

Susan Neiman ist dagegen erstaunlich optimistisch: In ihrem neuen Buch »Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können« geht sie von der zentralen These aus, dass in Deutschland eine Vergangenheitsaufarbeitung geradezu modellhaft gelungen sei. In den USA sei das nicht der Fall, vielmehr werde das Erbe des Rassismus von offizieller Seite weiterhin verdrängt. Als Beweis gilt hier nicht nur das Holocaust-Mahnmal in Berlin, sondern auch die Weigerung vieler (offensichtlich liberaler) Deutscher, die rassistische Vergangenheit in den USA und die antisemitische Vergangenheit des deutschen Faschismus zu vergleichen. Ein solcher Vergleich ist in der Tat nicht sehr produktiv, zumal es sich nicht nur um Manifestationen des Rassismus, sondern um gänzlich verschiedene politische und gesellschaftliche Kontexte handelt. Auch der Bezug auf das »Böse« hilft nicht weiter. Gemeint ist damit wohl die Bereitschaft, im Namen irgendwelcher rassistischer oder religiöser Vorurteile zu rauben, zu morden und geradezu unvorstellbare Gräueltaten zu begehen. Dieser metaphysische Bezug erinnert an erste »geistesgeschichtliche« Interpretationen des Faschismus nach 1945, den man gern als das »Satanische« oder das Irrationale schlechthin darstellte, dessen Verführungskraft die Deutschen unbegreiflicherweise anheimgefallen seien. Im Westen war und blieb das lange Zeit mit einer Opfereinstellung verbunden: Sei man früher auf Hitler hereingefallen, so sei man nun der Siegerjustiz ausgeliefert, die für manche geradezu terroristische Züge annahm. Dankbar nutzte man die Gelegenheit, im Zuge des Kalten Krieges in eine antikommunistische Front einzutreten, um so nicht nur die eigene Demokratietauglichkeit unter Beweis zu stellen, sondern auch die Kontinuität der eigenen Eliten in fast allen gesellschaftlichen Bereichen zu überspielen. Auch der bornierte Nationalismus konnte so überleben, wenngleich auch das im »Namen Europas« eher im Verborgenen stattfand und sich als Stolz auf die eigene Wirtschaft dokumentierte. Wie sollte unter diesen Umständen eine Vergangenheitsaufarbeitung (Neiman vermeidet den üblichen Begriff der Vergangenheitsbewältigung) stattfinden? Die Autorin gelangt hier über eine kursorische Übersicht nicht hinaus, belässt es statt dessen beim Hinweis auf jene ominöse Opfermythologie, der zufolge eine Bereitschaft zur Reue, zur Einsicht oder gar Umkehr im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit angeblich nicht gegeben war. Als Gewährsmann gilt hier etwa der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers. Gleichzeitig stellt die Autorin – verdienstvollerweise – dar, wie ein solch klarer Schlussstrich im Osten, also der SBZ beziehungsweise der DDR durchaus möglich war. Die Legende vom angeblich verordneten Antifaschismus widerlegt sie, in dem sie eine Reihe von DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürgern dazu ausdrücklich befragt. Neiman stellt auch heraus, wie fatal sich die antikommunistische Linie in der Folge von 1989/90 ausgewirkt hat. Jede halbwegs liberale Regierung hätte diese Chance zu einem großen Verfassungs- und Versöhnungsdialog genutzt, was auch die Anerkennung der konsequent antifaschistischen Ausrichtung der DDR eingeschlossen hätte. Stattdessen wollte man jedes mögliche Erbe des Kommunismus dadurch beseitigen, dass man ihn mit dem deutschen Faschismus gleichsetzte. Für die Leichenberge der Nazis mussten nun die »Aktenberge der Stasi« herhalten, um Heiner Müller zu zitieren. Interessanterweise setzen nach 1990 verstärkte Versuche zu einer Gedenkkultur ein – man denke an die Gedenkstätten in Lagern wie Buchenwald, die jetzt weitergeführt und finanziert werden mussten. Das 1995 eröffnete Holocaust-Denkmal wurde dabei von offizieller Seite bewusst als Gegenentwurf zum Antifaschismus der DDR unterstützt, für den »Politikberater« Herfried Münkler war die Unterstützung des damaligen Kanzlers eine »mythenpolitische Entscheidung« von enormer Dimension.

 

Kann man also von einer Aufarbeitung der Vergangenheit sprechen? Sicherlich war dies in der DDR der Fall, wo der Antifaschismus die Struktur der Gesellschaft prägte. Im Westen finden erste Ansätze einer solchen Aufarbeitung mit einer gut zwanzigjährigen Verspätung statt, nach vielen Jahren der Verweigerung und Verdrängung. Sie bleibt auf die Aktionen einzelner Gruppierungen (wie der APO, der Studentenbewegung oder der VVN-BdA) beschränkt, die (bis heute) deswegen angefeindet werden. Hinzu kommt der Druck aus dem Ausland, dem die alte wie die neue BRD insofern entgegenkommen möchte, als dies dem eigenen Image einer weltoffenen Gesellschaft mit europäischen Wertvorstellungen entspricht. So kann man sich in die Reihe der Sieger einordnen, ohne sich der Verantwortung für die Vergangenheit wirklich stellen zu müssen. Diese politische Dimension übersieht Neiman, obwohl sie auch die Reparationsfrage in den Blick nimmt und in den zahlreichen – übrigens höchst informativen – Interviews immer wieder darauf hingewiesen wird, dass die Vergangenheitsaufarbeitung keineswegs eine Erfolgsgeschichte darstellt, sondern allenfalls ein mühsames, hindernisreiches work in progress, das nicht erst seit dem Aufstieg des Neofaschismus angefeindet wird. Doch obwohl sie gelegentlich Skepsis beschleicht, bleibt die Autorin bei ihrer Hauptthese, dass man von »den« Deutschen lernen könne. Und sie geht dabei so weit, etwa dem derzeitigen Bundespräsidenten zu bescheinigen, er habe am 9. November 2018 eine bedeutsame Rede gehalten, wenn er vom »gebrochenen Verhältnis« zur deutschen Geschichte spricht. Dabei ist sein Appell an einen »aufgeklärten Patriotismus« nichts anderes als die Aufforderung zu einem Patriotismus, der sich von den Verbrechen der faschistischen Vergangenheit nicht lähmen lassen möchte, zumal diese ja unbegriffen im Dunkeln der Geschichte verbleiben. Vielleicht wäre die Skepsis der Autorin noch gewachsen, hätte sie im Januar 2020 gelesen, wie der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sich wegen Auschwitz nicht von einer Militarisierung der EU abhalten lassen möchte. Oder wie derselbe Politiker bei einer Gedächtnisfeier für Auschwitz einleitend davon spricht, dass »wir Menschen verführbar« sind, womit ungerührt die Universalität von Schuld und Opfer für die Täter in Anspruch genommen wird, um sie so zu entlasten. Oder, wie der von ihr so gelobte Frank-Walter Steinmeier am 8. Mai – trotz oder wegen der Corona-Pandemie – zu einem inszenierten Festival allseitiger Erinnerung mit unseren Freunden aufruft und aus der antimilitaristischen, antifaschistischen Formel »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!« ein »Nie wieder allein!« macht. Nein, von diesen Deutschen lässt sich bestimmt nicht lernen, wie man mit dem »Bösen« in unserer Gesellschaft umgeht. Ohne ein kritisches, selbstkritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte geht das nicht.

 

 

Susan Neiman: »Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können«, ins Deutsche übersetzt von Christiana Goldmann, Hanser Berlin, 576 Seiten, 28 €. Das Original erschien unter dem Titel: »Learning from the Germans. Confronting Race and the Memory of Evil«, New York, 2019.