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Titel1920

Sisyphus in China  (Georges Hallermayer)

Wie verliefen all die Skandale, wer erinnert sich noch an die Affären um Steuergelder oder veruntreute Wahlgelder, in die hochrangige Politiker oder Funktionäre verstrickt waren? Selbst ein aktueller Cum-Ex- oder Wirecard-Skandal kann nichts daran ändern: Sie bleiben unberührbar, oder mächtige Schutzengel lassen sie weichgepolstert landen. Es bedürfte eines Sisyphus in der bürgerlichen Justiz, um hier etwas zu ändern. Sisyphus – in der griechischen Mythologie verurteilt, immer wieder unermüdlich einen schweren Felsen bergwärts zu schleppen.

 

In China ist Sisyphus am Werk, in einem gewählten Kollektiv. Dort heißt Sisyphus Central Commission for Discipline Inspection, CCDI; die Behörde zur Bekämpfung der Korruption wird unterstützt durch Whistleblower, die durch ein Whistleblower-Gesetz aus dem Jahre 2015 ermutigt werden, auch in Partei- und Gewerkschaftsgruppen von Unternehmen.

 

»Die Tiger einsperren, die Fliegen verscheuchen«, dieses Motto gab der chinesische Präsident Xi Jinping 2012 zur Eröffnung der Kampagne gegen Korruption aus – eine Entsprechung des deutschen Sprichworts: »Der Fisch stinkt vom Kopf her.« Daher galt es, in der führenden Partei aufzuräumen: Die Kampagne war begleitet durch eine Änderung des Parteistatuts, das persönliche Verhalten betreffend: Acht Punkte wurden aufgenommen, um »Bürokratie, Verschwendung und Extravaganz auszurotten«. In der Folge sanken die öffentlichen Ausgaben der Zentralregierung um 35 Prozent. Dienstwagen und Auslandsreisen wurden auf das absolut Notwendige beschränkt, Luxusgeschenke von Vuitton, Chanel, Gucci und anderen gestrichen – 2014 brach der Umsatz von Hermes in China deutlich ein, ebenso der von Luxusrestaurants. Die Änderung des Parteistatuts beinhaltete auch strengere Aufnahmebedingungen. Bis 2017 stagnierte die Zahl der Parteimitglieder; erst 2017, nach der erfolgreichen Bilanz der Antikorruptions-Kampagne wurden zwei Millionen neue Mitglieder aufgenommen, über 80 Prozent unter 35 Jahren, 50 Prozent in der Produktion tätig. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) zählte damit 89,5 Millionen Mitglieder in 4,57 Millionen Basisgruppen.

 

2017 machte Sisyphus eine kurze Verschnaufpause mit einer Zwischenbilanz: Von den Parteigenossen wurden seit 2012 über eineinhalb Millionen, in offiziellen Funktionen beschäftigt, bestraft, darunter 440 Top-Manager und 43 Mitglieder des Zentralkomitees. Allein im Jahr 2016 haben sich 57.000 KPCh-Mitglieder selbst angezeigt, um eine niedrigere Strafe zu bekommen.

 

Folgten 2013 auf 52,2 Prozent der Ermittlungen auch Bestrafungen, ging diese Quote 2017 auf 3,77 Prozent der Fälle zurück, ein Beweis für die Effizienz der Untersuchungen, aber auch für die Dringlichkeit und die Notwendigkeit permanenter Wachsamkeit. Schließlich werden damit die Auswüchse bourgeoisen Verhaltens verfolgt, und die systemischen Folgen der kapitalistischen Öffnung, der Herausbildung einer bourgeoisen, nach Profit strebenden Klasse werden der politischen Führung der KPCh unterworfen.

 

Bis Juni 2020 wurden 7831 Flüchtige (darunter 2075 Parteigenossen und Regierungsmitarbeiter) aus mehr als 90 Ländern ausgeliefert, darunter 348 von Interpol gesuchte Wirtschaftsverbrecher. Etwa 2,8 Milliarden US-Dollar konnten an veruntreutem Vermögen zurückgeführt werden, berichtete das chinesische Wirtschaftsmagazin Caixin Global am 11. August.

 

Dass Sisyphus nicht bereit ist nachzulassen, zeigt auch die Offenheit, in der über Verfehlungen und Verurteilungen in den chinesischen Medien berichtet wird. Seit Sommer 2019 befinden sich in meinem persönlichen Archiv über 100 Artikel. Herausragend der Bankensektor in Shanghai, der durch einen Bestechungsskandal erschüttert wird. Allein in der vergangenen Woche waren mehrere Inhaftierungen in den Schlagzeilen: Caixin Global meldete am 15. September, der größte Fisch sei mit Zhou Wenjie ins Netz gegangen, er ist Vize-Chef von der Shanghaier Zweigstelle der Banken- und Versicherungs-Aufsichtsbehörde CBIRC. Mindestens fünf weitere Top-Bankmanager sind in die Affäre verwickelt, aufgedeckt im Zusammenhang mit der Verhaftung des früheren Chefs der nationalen Börsen-Aufsicht (CSRC), Liu Shiyu, vor einem Jahr. Der hatte geständig eine minderschwere Strafe bekommen, er hatte Verwandten bei illegalen Geschäften geholfen und dazu Geschenke angenommen.

 

 

Georges Hallermayer, Jahrgang 1946, pendelt seit 30 Jahren zwischen Frankreich und Deutschland. Historiker, Dozent und stellvertretender Centrumsleiter bei den Carl-Duisberg-Centren. Viele Jahre Betriebsrat und Mitglied im GEW-Landesvorstand Saar.