erstellt mit easyCMS
Titel1920

Bemerkungen

Dumm wie Stulle?

Die morgendliche Zeitungslektüre weitet stets meinen Horizont. Sie macht mich klüger, als ich vordem war. Und sei es nur dadurch, dass bislang gesichert geglaubtes oder gewähntes Wissen infrage gestellt oder durch neue Erkenntnis ersetzt wird. Besonders viel erfahre ich aus einer schon immer im Westteil Berlins erscheinenden Tageszeitung, die sich ihren einstigen Fronstadtcharakter durch alle Fährnisse hindurch wacker bewahrt hat. Nach der Einheit gab es mal eine kleine linksliberale Delle, was vermutlich mit dem Wunsch zusammenhing, damit Leser im Ostteil zu gewinnen. Offenkundig erfüllte sich die Strategie nicht, weshalb man sich wieder in die Schützengräben des Kalten Krieges und in die Westberliner Kieze zurückzog.

 

Um nun nicht ganz so piefig zu erscheinen, gibt es in der bis zu 48 Seiten aufgeblähten Tagesausgabe auch eine Seite, auf der man Beiträge über das Land Brandenburg lesen kann. Und so konnte ich denn an einem Samstagmorgen beim Kauen meiner mäßig genießbaren Körner-Schrippe in eben jener Postille einen Vierspalter studieren, der mit der heimeligen Überschrift betitelt war: »Brote von glücklichen Bäckern«. Diese Art Glück, wir erinnern uns, wurde früher Kühen und deren Milch zugeschrieben. In dem Text ging es um einen vermeintlichen Boom der Bio-Bäckerei in Brandenburg. Im hinteren Teil las ich allerdings auch vom Schwinden dieser Zunft. In Berlin, so hieß es, habe es vor dem Krieg 3994 selbständige Bäckereien gegeben, heute seien es vielleicht noch 120. »Ähnlich sieht es in Brandenburg aus.«

 

Nun gut, das war keine sensationell neue Beobachtung.

 

Die Autorin – vermutlich jung mit großen, staunenden Augen – berichtete auch über eine 59-jährige Bio-Bäckerin in Cottbus, die in zweiter Generation den seit 1962 bestehenden Familienbetrieb führt. »Zu DDR-Zeiten war an Bio noch nicht zu denken«, erklärt uns aufklärerisch die Schreiberin.

 

Nee, das war es wirklich nicht – weil in der DDR vermutlich alles Backwerk Bio war, die Chemiker tobten sich vorzugsweise auf anderen Feldern aus. Erst nach dem Beitritt ergossen sich nämlich die Backmischungen mit ihren Emulgatoren und Enzymen, Farbstoffen, Geschmacksverstärkern und Quellmehlen, Ascorbin- und Aminosäuren et cetera in die ostdeutschen Backstuben. Wie viele Zusatzstoffe tatsächlich darin enthalten waren und sind – keiner weiß es. Nicht einmal die Industrie, die diese Backmischungen zusammenrührt. Sie hat zwar die Ansage in den Medien, es gebe »über 300 Zusatzstoffe im Brot«, als falsch und »schlecht recherchiert« zurückgewiesen, aber bleibt in ihren eigenen Selbstdarstellungen eine »gut recherchierte« Auskunft schuldig. Niemand wisse, wie viele der mehr als elftausend Bäckereien in Deutschland »traditionell« backen und »welche darüber hinaus weitere Zutaten« einsetzen, erklärte die Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Weinheim an der Bergstraße.

 

Egal, unsereiner konnte schon immer die zu Windbeuteln aufgeblasenen Westschrippen so wenig genießen wie das Brot, das bereits nach drei Tagen entweder steinhart ist oder Schimmel ansetzt. Die Alternative heißt nun Bio. Und Bio-Brot boomt also.

 

»Zu DDR-Zeiten war an Bio noch nicht zu denken.« Auch diese Freiheit fehlte uns und den DDR-Bäckern, die konnten nur mit Mehl, Wasser, Hefe, Salz und Sauerteig backen. Sie hatten ja sonst nichts. Nur Schlangen von Leuten vorm Laden, die am Morgen nach kleinen Brötchen für fünf Pfennig das Stück anstanden.                       

 

Frank Schumann

 

 

 

Vernachlässigte Literatur

»Vernachlässigt« ist ein zu schwacher Ausdruck für den Vorgang, den die tonangebenden Medien bedienen: die Nichtbeachtung der Literatur der DDR, vor allem der Werke, die DDR-Autoren nach der Wende geschrieben haben. Rüdiger Bernhardt ist der Anwalt dieser Schriftsteller und ihrer Literatur. Vor allem in der Wochenzeitung Unsere Zeit nahm er sich in Würdigungen und Kritiken ihrer an und schuf ein Kompendium, das professionell Auskunft über meist verschwiegene Leistungen gibt. Günter Görlich, Helmut Sakowski, Benito Wogatzki, Hermann Kant, Christoph Hein, Volker Braun, Erik Neutsch, Armin Stolper, Rudi Strahl und viele andere – sie alle haben nach 1989 weitergeschrieben, manchmal in kleineren Verlagen, aber sie haben sich nicht unterkriegen lassen und »ihrs« gesagt.

 

Wie Rüdiger Bernhardt, der direkt und ohne Kompromisse an den Zeitgeist Leistungen nennt und ein breites Literaturkonzept mit großem humanistischem Anliegen verteidigt. Das gilt auch für die Bewegung des »Bitterfelder Weges«, die keinesfalls nur verordnet und schnell erledigt existierte. Bernhardt beschreibt die Arbeit und Leistungen der Zirkel »schreibender Arbeiter« und würdigt Bücher und Schriftsteller, die »Bitterfeld« verpflichtet sind. Das alles mit großer Kenntnis und Faktenreichtum. Da kann es nicht verwundern, wenn er sich einige Versuche jüngster literaturhistorischer Deutung »zur Brust« nimmt und ihnen Einseitigkeit oder mangelnde Kenntnis nachweist. Der Literaturprofessor, der gerade achtzig geworden ist, ist in seinen Texten jung, kühn und trotzig.               

 

Christel Berger

 

Rüdiger Bernhardt: »Essay & Kritik. Literatur im Osten Deutschlands nach 2000«, Edition Freiberg, 430 Seiten, 19,50 €

 

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

Die Antworten der Gysi-Geschwister Gabriele und Gregor auf Fragen zu ihrem Vater lassen das Bild einer eng verbundenen Familie erkennen, in der sich die Geschwister geborgen wussten, abgeschirmt gegen die Widrigkeiten des Alltags und zugleich frei und ungebunden. Beide äußern sich liebevoll über ihren Vater, Klaus Gysi. Sie erinnern sich bildhaft an ihn, und das oftmals mit Humor, zuweilen aber auch sanft-kritisch. Der Vater war kein Mustervater, war viel unterwegs und selten greifbar. Doch wenn er sich Zeit für sie nahm, dann mit Verve, er ging auf ihre Eigenwilligkeiten ein und ließ konträre Ansichten an sich heran. Er hörte zu, wägte ab, und nicht selten reagierte er auf ihre Fragen mit einer Gegenfrage. Sohn und Tochter, erkannten sehr wohl, was für ein Filou er sein konnte, ein Schlaukopf, ein Schelm. Dabei erfüllten sie seine Leistungen mit Stolz, die würden sie von niemanden schmälern lassen: Sie wussten, prägende Erfahrungen hatten den Vater zum Kommunisten gemacht – als Junge musste er erleben, wie ein demonstrierender Arbeiter von einem Polizisten angeschossen wurde und leblos auf dem Pflaster liegen blieb –, und sie begriffen, warum er die Ideale seiner Jugend hochgehalten und seinen Überzeugungen stets treu geblieben war, als Illegaler in Nazideutschland, im Widerstand seinen Mann stehend, und später als Kulturminister und Botschafter der DDR und auf manch anderen Posten noch. Funktionär und Feingeist, Genosse und Genießer, so hatten ihn viele gesehen, und so sahen ihn Gabriele und Gregor Gysi auch. Und das, just das, macht das Interview mit den Geschwistern so lesenswert. Und betont sei letztlich, wie luzid Gregor Gysi sich gegen die Frage verwehrte, ob sein Vater der Funktionär eines Unrechtsstaats gewesen wäre. Das sei keine Frage, sondern eine Unterstellung, entgegnete Gysi dem Fragesteller scharf. Sei es denn denkbar, dass einer der gegen den Unrechtsstaat der Nazis gekämpft hatte, nach dem Sieg am Aufbau eines gleichgearteten Staates teilhaben würde?                                  

 

W. K.

 

Gabriele und Gregor Gysi: »Unser Vater«, ein Gespräch herausgegeben von H. D. Schütt, Aufbau Verlag, 152 Seiten, 16 €

 

 

 

Sprache und Literatur verbinden

Er war ein Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, für Humanismus: der kasachische Dichter Abai Qunanbajuly (1845–1904). In einem Land mit damals noch vielen Analphabeten erreichte er seine Landsleute vor allem mit Gedichten, die mündlich verbreitet wurden. Anlässlich seines 175. Geburtstages zeichnete der Botschafter Kasachstans in Berlin, Dauren Karipov, im Auftrag des Staatspräsidenten Kasachstans Mitte September den deutschen Übersetzer, Publizisten und Literaturkritiker Leonhard Kossuth mit dem Dostyk-Orden (»Freundschaft«) 2. Grades aus.

 

Der Botschafter dankte während der feierlichen Verleihung der Auszeichnung Leonhard Kossuth für seinen herausragenden Beitrag zur Stärkung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland und zur Popularisierung kasachischer Literatur, vor allem des Erbes von Abai, unter den deutschsprachigen Lesern.

 

Leonhard Kossuth wurde am 25. Juli 1923 in Kiew geboren. Schon als Student verfasste er erste Nachdichtungen und Übersetzungen (Lermontow, Puschkin, Nekrassow, Tschechow). Seine ganze berufliche Laufbahn und sein darüber hinaus bis heute reichendes Engagement ist mit der Übersetzung und Verbreitung von Werken der klassischen russischen und sowjetischen Literatur des 20. Jahrhunderts verbunden.

 

Im Rahmen des Projektes der Botschaft der Republik Kasachstan in Deutschland »Kasachische Bibliothek« gab Herold Belger 2007 das Buch »Abai. Zwanzig Gedichte« heraus. Die Nachdichtung besorgte Leonhard Kossuth (siehe Ossietzky 5/2008). 2019 erschien in der Nora Verlagsgemeinschaft eine von Kossuth überarbeitete Fassung der Gedichtsammlung. Darüber hinaus übersetzte er Werke von Olshas Suleimenow in die deutsche Sprache (»Im Azimut der Nomaden«, Volk und Welt 1981). Kossuths deutsche Nachdichtungen gründen sich auf Jahrzehnte voller Begegnungen mit Kasachstan, kasachischer Literatur und kasachischen Schriftstellern.

 

Der in zwei Klassen vergebene Dostyk-Orden ist die höchste staatliche Auszeichnung der Republik Kasachstan, die an ausländische Bürger für ihren Beitrag zur Stärkung von Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den Völkern verliehen wird. Das entsprechende Dekret über die Verleihung des Ordens an Leonhard Kossuth wurde vom Präsidenten der Republik Kasachstan am 4. August unterzeichnet.

 

Glückwunsch an den Ossietzky-Autor Leonhard Kossuth!              

 

Katrin Kusche

 

 

 

Auf der Flucht

Als der Verleger Stefan Weidle vor zwei Jahren 65 wurde, gratulierte ihm sein Verleger-Freund Thedel von Wallmoden vom Wallstein Verlag in Göttingen mit den Worten, Weidle habe »maßgeblich an dem Projekt mitgeschrieben, verfolgte und vertriebene Autoren und Bücher wieder zu den deutschen Lesern zu bringen«. Aber auch »Entdeckerfreude in anderen Literaturen« treibe »diesen Kulturverleger« um (Online-Magazin BuchMarkt, 16. Februar 2018).

 

Ich habe schon einige der Buch-Entdeckungen aus dem Weidle Verlag, Bonn, in Ossietzky vorgestellt, heute kommen zwei weitere hinzu, die beispielhaft für die beiden Kategorien stehen.

 

Da ist zum einen »Die Frau ohne Reue«, der letzte von fünf Romanen des Arztes und Schriftstellers Max Mohr, zuerst 1933 im S. Fischer Verlag erschienen. Geschildert wird der Ausbruch einer Frau aus ihrem großbürgerlichen Leben als Ehefrau und Mutter, von einem Augenblick auf den anderen, und die gemeinsame Flucht mit ihrem spontan gefundenen Geliebten in die Ostalpen, auf einen Bauernhof.

 

Zitat aus dem Klappentext von 1933: »Mohrs Menschen … folgen auf ihren Wegen einem Drang aus dem Unbewußten. Es ist die Angst, das Gefühl des Abgeschnittenseins, das aus der Ebbe, dem Leersein der Welt kommt, was sie auf rastlose Wanderungen treibt.«

 

Hat sich in all den Jahren viel geändert?

 

Max Mohr, 1891 in Würzburg geboren, wanderte 1934 nach Shanghai aus. Als Jude hatte er in seinem Geburtsland keine Lebensgrundlage mehr, weder als Schriftsteller noch als Arzt. Tagsüber arbeitete er in seiner Praxis, nachts schrieb er, »zwischen Cholera und Lepra« (Brief an Thomas Mann, zitiert aus der »Biographischen Skizze« von Roland Flade, die zusammen mit dem Nachwort von Stefan Weidle das Buch beschließt). Mohr starb 1937 an einem Herzinfarkt.

 

Wie so mancher Schriftsteller aus jener unwirtlichen Zeit blieb auch Max Mohr in Deutschland lange Zeit vergessen, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Erst zu seinem 100. Geburtstag erinnerte sich seine Geburtsstadt an ihn. Im Frühjahr 2020 wollte die Arbeitsgemeinschaft »Würzburg liest ein Buch« den Autor und sein Werk wieder ins Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger der Stadt am Main und der Region bringen, unter der Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Christian Schuchardt und Josef Schuster, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Würzburg und Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Doch dann kam Corona. Lockdown. Jetzt soll das Vorhaben vom 22. April bis 2. Mai 2021 nachgeholt werden. Aber auch davor und danach finden Veranstaltungen zu Max Mohr und der Aktualität seines Romans über eine Frau »auf der Suche nach Liebe, Freiheit und Selbstständigkeit« statt. Näheres unter wuerzburg-liest.de.

 

Und noch einmal Corona. Pressemitteilung: »Der für 2020 geplante physische Ehrengastauftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse (14.–18. Oktober) wird auf 2021 verschoben.« Und noch einmal betroffen: der Weidle Verlag. Dieser hatte den Roman »Nächtliche Erzählungen« des 1975 in Lomé, Togo, geborenen und in Kanada in der Nähe von Ottawa lebenden Schriftstellers Edem Awumey als seinen Beitrag zum Gastlandauftritt Kanadas konzipiert. Doch der Antrag des Verlags auf Übersetzungsförderung des PEN-America-Mitglieds wurde vom Canada Council for the Arts abgelehnt, der Autor nicht nach Frankfurt eingeladen und wird es auch nächstes Jahr nicht, wie der Verleger schreibt: »Die Gründe kennen wir nicht, vermutlich sind sie politischer Natur.«

 

Der vierte Roman des Schriftstellers und der erste in deutscher Übersetzung, die Stefan Weidle persönlich aus dem Französischen besorgte, beschreibt, was im afrikanischen Heimatland der Hauptfigur geschehen ist, wo ein Diktator Angst hat, zuerst vor Studenten, die Flugblätter mit Zitaten Samuel Becketts verteilen, dann vor den Alten, denen er Zauberkräfte unterstellt. Im Straflager liest der junge Student dem alten blinden Mitgefangenen im Schein einer gestohlenen Petroleumlampe nachts aus Werken der Weltliteratur vor, und so »finden sie gemeinsam in eine Zone, in der ihnen niemand etwas anhaben kann«. Nach dem Zusammenbruch des ungenannten Staates kommt der Student frei und erhält ein Arbeitsstipendium in Kanada, wo er bleibt. Wie der Autor.             

 

Klaus Nilius

 

Max Mohr: »Frau ohne Reue«, 221 Seiten, 14 €; Edem Awumey: »Nächtliche Erklärungen«, 208 Seiten, 22 €, beide Weidle Verlag

 

 

 

Krieg im Museum

Seit Jahren lautet der Leitspruch des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien »Kriege gehören ins Museum«. Dazu bekennt sich mit seiner neuen Ausstellung auch das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden. Die Ausstellung zum 150. Jahrestag des Deutsch-Französischen Krieges zeigt den kriegerischen Weg, der zur Gründung des Deutschen Kaiserreiches unter der Führung Preußens führte. Mit einbezogen in die kriegerische Geschichtsaufarbeitung sind die Kriege Preußens und Österreichs gegen Dänemark 1864, zwei Jahre später der Krieg Preußen gegen Österreich, in der Schlacht bei Königgrätz siegt Preußen, Schleswig-Holstein wird eine preußische Provinz.

 

Die Ausstellung zeigt den kriegerischen Weg Deutschlands zur Reichsgründung am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses Versailles, hier wurde der preußische König Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser proklamiert. Im Ausstellungskatalog heißt es: »Im Juli vor 150 Jahren begann der Deutsch-Französische Krieg. 2021 kehrt zum 150. Mal der Jahrestag der Kaiserproklamation wieder. Zuvor reihten sich, wenn auch kaum überregional wahrgenommen, 2014 Gedenktermine des zweiten Deutsch-Dänischen Krieges und 2016 des Deutschen Krieges aneinander. Zeugen dieser Epoche sind in vielen Deutschen präsent, doch bleiben sie für die meisten von uns stumm. Das mag selbst für die Berliner Siegessäule oder das gewaltige Hamburger Bismarckdenkmal gelten.« Weiter heißt es: »Zahllose Plätze und Straßen wurden ab 1871 nach Persönlichkeiten wie Kaiser Wilhelm I., Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke oder Reichskanzler Otto von Bismarck benannt, nach Siegen wie Metz oder Sedan« und heißen noch immer so. Auch gibt es inzwischen große Bedenken gegen Bismarck. War er es doch, der die Kongokonferenz über Afrika vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 nach Berlin einberufen hatte, bei der der Kontinent für den Kolonialismus europäischer Staaten aufgeteilt wurde.

 

Es geht auch um das Preußenbild, das heute von Alexander v. Humboldt, Karl Friedrich Schinkel und Theodor Fontane geprägt wird. Als Schriftsteller wollte Theodor Fontane über den Deutsch-Französischen Krieg für die Vossische Zeitung berichten. Fasziniert von Jeanne d’Arc besuchte er ihren Geburtsort in Domrémy-la-Pucelle und wurde am 5. Oktober 1870 dort als preußischer Spion verhaftet und auf der Insel Ile d’Oléron am Atlantik inhaftiert.

 

Die Ausstellung beschränkt sich darauf, die politischen Folgen des Krieges anzudeuten, der am 19. Juli 1870 mit der Kriegserklärung des französischen Kaiserreichs an Preußen begann. Aus dieser kriegerischen Auseinandersetzung gingen Frankreich und Preußen verwandelt hervor – Frankreich wurde Republik, Preußen Führungsmacht in dem neu gegründeten Kaiserreich.

 

Knapp wird berichtet über die sozialistische Pariser Kommune, die vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 existierte, dann aber blutig nicht nur von Frankreich, sondern auch mit Hilfe von Preußen niedergeschlagen wurde. Am 16. Mai 1871 gab der Befehlshaber der französischen Regierungstruppen, Marschall Mac-Mahon, einen Tagesbefehl: »Soldaten, soeben ist die Säule auf der Place Vendôme gefallen. Die Ausländer haben sie respektiert. Die Pariser Kommune hat sie gestürzt. Männer, die sich Franzosen nennen, haben es gewagt, unter den Augen der Deutschen dieses Zeugnis des Sieges der Siege Eurer Väter über die europäischen Koalitionsheere zu zerstören.«

 

Ausgeführt hat den Abriss der Vendôme-Säule im Auftrag der Pariser Kommune der Maler Gustave Courbet. 147 Kommunarden wurden an der »Mur des Fédérés« – der Mauer der Föderierten – am 28. Mai 1871 erschossen.

 

Ich frage mich nur warum diese Ausstellung in einem militärgeschichtlichen Museum der Bundeswehr stattfindet.

 

Karl-H. Walloch

 

»KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand«, bis zum 31. Januar 2021 im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. Der reich illustrierte Katalog der Ausstellung umfasst 432 Seiten (48 €).

 

 

 

Doppelt verdeckt

Warum und wie wird aus einem jungen Schriftsteller und geschätzten Hochschullehrer ein Doppelagent? Das beschreibt der kubanische Autor Raúl Antonio Capote in einem Buch über seine eigenen Erlebnisse. Es handelt sich dabei um teilweise sehr genaue Schilderungen der ersten Kontakte des jungen Kubaners mit US-Diplomaten in Havanna, die schrittweise Annäherung. Weitere Kapitel betreffen den Einstieg in die CIA, die damit verbundenen Treffen und zahlreichen klandestinen Aktivitäten, die Weiterleitung unzähliger Informationen an den »Feind«. In Form von Dialogen und Rückblenden sowie historischen Kontexten erläutert Capote eindrucksvoll, mit welch krimineller Energie und scheinheilig-überheblicher Haltung seine »Partner« aus den USA agierten. Im Zuge der 34 kurzen Kapitel werden maßgebliche diplomatische und geheimdienstliche Persönlichkeiten beschrieben – und mit ihren Aktivitäten der »psychologische Krieg der USA gegen Kuba«. Bemerkenswert ist, wie eng persönliche und familiäre Kontakte sich dabei entwickelten, wie abhängig die Beziehungen von den jeweiligen Charaktereigenschaften der Individuen waren.

 

Im Prolog heißt es: »Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist wahr, und sie ist Teil eines Epos des kubanischen Volkes, des Kampfes eines kleinen Landes gegen ein großes, das immer die Absicht hatte, es zu dominieren und zu besitzen. Es handelt sich um ein Scharmützel im Kampf von David gegen Goliath, erzählt von einer Hauptfigur.« (S. 18) Es wird deutlich, mit welch immensem Aufwand und welchen Mühen Capote sein Doppelleben führte, und welch emotionale Krisen gegenüber Familie und Freunden durchzustehen waren, da er sich als Gegner Kubas gerieren musste.

 

Am Ende des Buches zitiert der Autor ein Lied der Musikgruppe Buena Fe: »Was Du Gutes tust, verbergen sie, was Du richtig machst, verdrehen sie, was Du falsch machst, bauschen sie auf.« (S. 298) Diese Einschätzung der Medienmanipulation der USA trifft aber auch auf die deutschen Massenmedien und ihre Darstellungen über Kuba zu, die US-Kampagnen zeigen Wirkungen – noch. Capote ist heute als Journalist tätig und fällt durch analytisch hervorragende Artikel in kubanischen Medien auf, wie Granma und Cubadebate.

 

Die Übersetzung erfolgte auf Basis der italienischen Ausgabe, was wohl die etwas holprigen und teilweise falschen Formulierungen, Begriffe und Flüchtigkeitsfehler mit verursacht hat. Dennoch: Das Buch bietet spannende Einblicke in die Subversion, der Kuba permanent ausgesetzt ist.                                 

 

Edgar Göll

 

 

Raúl Antonio Capote: »Der andere Mann in Havanna. Abenteuer eines kubanischen Undercover-Agenten in der CIA«, ins Deutsche übersetzt von Anton Stengl; Zambon Verlag, 303 Seiten, 15 €. Edgar Göll ist Soziologe, als Zukunftsforscher tätig und engagiert sich seit 1993 für Kuba.

 

 

 

Aufarbeitung der Franco-Diktatur

Endlich! Die spanische Partido Socialista Obrero Español (PSOE) hat die Weichen zur Aufarbeitung der Franco-Diktatur gestellt. Nach dem ersten Schritt, der Umbettung von Francos Leichnam im Oktober 2019, billigte nun die Koalitionsregierung von PSOE und Unidas Podemos Mitte September den Entwurf eines »Gesetzes der demokratischen Erinnerung«, das deutlich weiter geht als das der PSOE-Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero aus dem Jahr 2007.

 

Es ist das erste Mal, dass die Regierung auch die Menschenrechtsverbrechen der Jahre des Bürgerkriegs und des Franco-Faschismus juristisch aufarbeiten lassen will. Das war bisher wegen des Amnestiegesetzes aus dem Jahr 1977 nicht möglich.

 

Mit dem neuen Gesetz soll in Spanien die »Verherrlichung der Franco-Diktatur« unter Strafe gestellt werden, es drohen Geldstrafen bis zu 150.000 Euro. Auch sollen Organisationen, die sich dem ehrenden Andenken an Franco widmen, verboten werden. Der Vorsitzende der »Nationalen Francisco-Franco-Stiftung«, Juan Chicharro Ortega, bezeichnet das geplante Gesetz als »totalitär«; es »verzerre« die Geschichte, notfalls werde die Gesellschaft ins Ausland verlegt.

 

Entgegen dem Gesetz von 2007 wird nun der spanische Staat die Exhumierung und Bestattung der Opfer des Bürgerkriegs und des Franco-Regimes übernehmen. Bis heute liegen – so Schätzungen – noch bis zu 200.000 Personen in anonymen Massengräbern. Aus dem »Valle de los Caídos« soll ein ziviler Friedhof mit einem »Nationalen Gedächtnis- und Dokumentationszentrum zur Franco-Diktatur« werden. Damit kommt auch das Ende des Benediktiner-Klosters, das bisher die einstige Franco-Grabstätte betreute. Die Verabschiedung des Gesetzes wird für 2021 erwartet, baskische, katalanische und kleinere Parteien haben bereits ihre Zustimmung verkündet.    

 

 khw

 

 

Zuschriften an die Lokalpresse

Wenn man die Presse oder die Fernsehinformationen dieser trüben Herbsttage verfolgt, kann man eine fettgedruckte Titelfeststellung des Berliner Kurier vom 22. September leider nur abnicken: »Corona macht Berlin aggro.« Politiker erhalten Todesdrohungen, Kinder werden missbraucht, vor »Spätis« wird geprügelt, Fahrzeuge werden abgefackelt, Autorennen in Geschäftszentren ausgetragen, Busfahrer bespuckt, Frauen nachts von der Straße weggefangen und in Autos vergewaltigt und Rummelplatzbetreibern die Zähne ausgeschlagen (siehe unter anderem neues deutschland, Berliner Kurier, Bild, Brandenburger Wochenblatt – Brawo). Ärger nicht nur in Berlin: Auch für Wahlhamburger und Ulknudel Otto Waalkes ist Schluss mit lustig, denn die Ehefrau seines langjährigen Managers Hans Otto Mertens hat Klage eingereicht. Es gehe um 176.000 Euro Provisionen, berichtet Focus online. Da kann man nur Tucholskys »Wir leben in einer merkwürdigen Zeitung« zitieren. Und man freut sich echt, dass manche Tageszeitung trotz aller Gräuelnachrichten noch den Mut aufbringt, andere aufrüttelnde Themen anzusprechen, zum Beispiel »Wie kann man in Waschanlagen Kratzer an Neuwagen vermeiden?« (Brawo, 20.9.) oder »Welche Kaffeemaschine passt am besten zu mir?« (Berliner Kurier, 21.9.) und »Wo erziele ich den höchsten Aufkaufpreis für Gold und Schmuck?« (Brawo, 20.9.). Ich finde, die Medien tun gut daran, gerade in schwierigen Coronazeiten auf die Vielfalt unseres Lebens zu setzen, und dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. – Corinna Schmidt (48), Angestellte in Kurzarbeit, 14480 Potsdam-Drewitz

 

*

 

Mir imponiert, wie sich die Brandenburger Landesregierung darum bemüht, in der märkischen Heide mit der Pandemie klarzukommen. So hat sich der Ministerpräsident in einen Krankentransporter probegelegt, und Frau Nonnemacher hielt ihren entblößten Gesundheitsministerinnen-Arm in die Kamera und ließ sich publikumswirksam impfen. Das schafft Vertrauen! Umso erstaunlicher, dass über andere Beispiele mit Zurückhaltung berichtet wird. So besuchte Herr Woidke im Rahmen einer Sommerreise die havelländische Region und führte mit Landrat Lewandowski in Ribbeck ein »Vier-Augen-Gespräch« (Brawo, 20.9.20). Liege ich mit meiner Vermutung richtig, dass es dabei um die diesjährige Birnenernte ging, als es in dem historischen Ort »mittags vom Turme scholl«? Da hätte man doch gut Fontanes Vorschläge für den Gesundheitsschutz und die Kinderbetreuung offen ins Spiel bringen können! – Manuela Brausewetter (37), Ernährungsberaterin, 57612 Birnbach         

 

Wolfgang Helfritsch