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Karawanen-SPD  (Arnold Schölzel)

Der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück wurde im Deutschlandfunk zum Verhalten des Nokia-Konzerns befragt: Ob er glaube, daß sich das Unternehmen noch von seinen Beschlüssen abbringen lasse. Die Antwort bestand aus zwei Teilen: »Ich glaube, man sollte da keine falschen Hoffnungen wecken und entstehen lassen.« Und: »Aber ich kann die Empörung verstehen. Das ist ein Ausdruck eines Karawanen-Kapitalismus, von dem viele wissen müssen, daß er die Zustimmung zu unserem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell systematisch unterminiert. Die Menschen verlieren Vertrauen und das ist eminent gefährlich und von politischer Bedeutung.« Die Teilantworten zusammen illustrieren das, was die heutige SPD vertritt. Erstens: Unternehmensentscheidungen gehen uns nichts an. Anders gesagt: »Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt.« Dieser Satz des einstigen Wirtschaftsministers Günter Rexrodt (FDP) ist auch Credo jener kleinen »Clique an der Spitze« der SPD, die nach Meinung des Sozialexperten Ottmar Schreiner »die reformistische Tradition der SPD als linker Volkspartei« entsorgen will. Der liberale Glaubenssatz wird zwar bei jeder mittleren Krise einer privaten oder halbstaatlichen Bank außer Kraft gesetzt, erst recht aber bei der ständigen Subventionierung der kapitalkräftigsten Konzerne durch Steuervergünstigungen und Milliardenzuschüsse, zum Beispiel für Industrieansiedlungen. Die sogenannte Deregulierung hat vor allem mit Regulierung von Profitstabilität zu tun. Bei Nokia in Bochum war es u. a. der damalige Minister und Ministerpräsident Steinbrück, der dem Konzern Subventionsmillionen hinterherwarf, was die Bochumer Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Linkspartei) zu dem Satz veranlaßte: Steinbrück sei »das größte Kamel« im Karawanen-Kapitalismus. Der erste Teil der Antwort Steinbrücks ist jedenfalls ziemlich hoch entwickelte Demagogie. Mit der hat die SPD Erfahrung. Deswegen folgt noch der zweite Teil, auf den ein FDP-Minister nicht kommen würde: Man ist empört. Die orientalisch-rückschrittlich anmutende Vokabel »Karawane« konnte Steinbrück noch vor seinem Interview im Leitartikel des Handelsblatts vom selben Tag lesen. Dessen Chefredakteur erklärte Aufregung über Nokia für überflüssig, denn: »In der Textilindustrie zieht die Karawane seit 20 Jahren im Zwei- bis Dreijahrestakt weiter: heute China, morgen Bangladesh und übermorgen vielleicht Laos.« Die Politiker aber glaubten immer noch, »sie könnten sichere Arbeitsplätze mit Subventionen kaufen.«

Ob Steinbrück das gelesen hatte oder nicht – die Wahrscheinlichkeit, daß er einen professionellen Pressereferenten hat und es zur Kenntnis nahm, ist hoch –, der »Karawanen-Kapitalismus« war nach Franz Münteferings »Heuschrecken« aus dem Frühjahr 2005 fällig. Müntefering ist weg, die Vokabel verbraucht.

Steinbrücks Verhalten zu Nokia – gekrönt durch seinen Auftritt auf der Großkundgebung gegen die Werksschließung am 22. Januar – steht modellhaft für Selbstverständnis und Funktion der SPD insgesamt: Vorreiter bei der Senkung der Spitzensteuersätze, der Unternehmenssteuern und des Werts der Ware Arbeitskraft durch Etablierung eines legalen Billiglohnsektors, durch Einführung des Arbeitslosengeldes II mit Elementen von Zwangsdiensten sowie durch Reduzierung staatlicher Leistungen über die Verelendungsgrenze hinaus. Der Erfolg kann sich sehen lassen: 2007 feierte sich die Bundesrepublik zum fünften Mal in Folge als Exportweltmeister.

Die sich anbahnende Weltwirtschaftskrise stört. Bricht der Export weg, soll der Konsum die Konjunktur retten. Der aber wurde durch systematische Senkung der Massenkaufkraft als Konjunkturmotor faktisch ausgeschaltet.

Da kann einem schon einfallen, daß das »Gesellschaftsmodell« an Zugkraft verliert. Gemeint ist: Kann die SPD noch ihre Funktion erfüllen? Nämlich: Den Karawanen-Kapitalismus fördern, also Arbeitslosigkeit und Armut verordnen, ohne daß die Wählerbasis bröckelt?

Als Ottmar Schreiner im August 2007 den zitierten Artikel in der FAZ veröffentlichte, wurde ihm nicht nahegelegt, aus der SPD auszutreten. Im Gegenteil. Die politischen Auguren konstatierten einen »Linksruck« im Land und bei der SPD. Mit viel Tam-tam wurde die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld so verlängert, daß niemand davon einen Nutzen hat. Honoriert wurde das offenbar nicht, jedenfalls meint Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen in der Februarausgabe der Zeitschrift Cicero: »Die Wähler nehmen dies nicht so wahr, sie können bei der SPD mehrheitlich keinen Linksruck erkennen.« Offenbar sind sie es gewohnt, daß die Partei mal dorthin, mal hierher zieht, karawanenmäßig und immer dasselbe anbietend: »Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem«.

Nachtrag. Ein Leitsatz des Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski (1904–1997) lautete sinngemäß: Im Kapitalismus ist jede Regulierung in Wirklichkeit Irregulierung. Jede »Regulierung« verschärfe auf kurze oder lange Sicht genau das Problem, das sie beherrschbar machen sollte.



Noch mehr Arbeiterführer

Ein Handy-Hersteller, alles andere als defizitär wirtschaftend, will sein Werk in Deutschland dicht machen und in Rumänien produzieren lassen – und die hiesigen Politiker konkurrieren untereinander um das Höchstmaß an öffentlicher Empörung. Als Arbeiterführer tritt nicht nur der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers auf, in kämpferischer Pose; Bundesfinanzminister Peer Steinbrück wettert gegen »Karawanen-Kapitalisten«, und sein Kabinettskollege Horst Seehofer, für Landwirtschaft zuständig, spricht von »säuischem« Unternehmertum. Selbstverständlich ahnten sie und all ihre Parteifreunde in CDU und SPD, als sie diesem (und so manchem anderen) Konzern die Subventionen zuschoben, nichts davon, daß Kapital stets daran interessiert ist, die Rendite zu erhöhen, auch nicht, daß es sich zu diesem Zwecke aller Standort-Sentimentalität enthält. Löhne sind, unternehmerisch gesehen, Kosten. Und so kann es sein, daß Nokia mit seiner Produktion irgendwann einmal nach Deutschland zurückkehrt – wenn es den Arbeiterführern hierzulande gelungen ist, das Lohnniveau so weit zu senken, daß Bochumer Malocher billiger sind als die im rumänischen Cluj. So vertrackt geht es zu in der Marktwirtschaft, die unsere Arbeiterführer nicht missen möchten.
Marja Winken